Regierung ohne Auftrag – Wahl ohne Ambitionen

Das Volk ist beschäftigt (Arbeit, Beziehung, Kita, Chef, Wäsche, Kinder, Geld, Hund) und möchte in Ruhe gelassen werden. Das ist ebenso verständlich wie gesellschaftlich ambitionslos. Aber vielleicht liegt der Hauptgrund der Reformskepsis an gegenseitigen Fehlinterpretationen des Wahlergebnisses von 2021 und seiner Ursachen. 

Da ich aktuell an einem Buchbeitrag zur Bundestagswahl 2021 schreibe, durchlaufe ich den Irrsinn dieses Wahlkampfes und seines Endspurts aufs Neue. 

Mit dem Wissens von heute über die Schwierigkeiten der Ampelregierung zwei Jahre nach dem Urnengang, drängt sich neben den offensichtlichen Gründen – also dem Angriffskrieg Russlands, Inflation, Energiestress, disharmonierende oder gar konträre Parteiprogramme, (verschleppte) Transformationsprozesse etc. – ein zusätzlicher auf: 

Diese Regierung hat vom Volk keinen nennenswerten Veränderungsauftrag erhalten.

Der Verlauf des Wahlkampfes macht dies sehr deutlich. Und das Ergebnis auch. 

Die gescheiterten Wahlkämpfe von Union und Grünen lenkten den Fokus der Bundestagswahl noch stärker auf die zur Auswahl stehenden Führungspersönlichkeiten als dies sowieso schon der Fall gewesen wäre. Eine bedeutende thematische Auseinandersetzung über die Zukunft der Bundesrepublik nach Angela Merkel fand nicht statt. Armin Laschet war in Nordrhein-Westfahlen vor allem deshalb Ministerpräsident geworden, weil er gerade kein erzkonservativer Polarisierer, sondern ein eher integrierender und auch sozialpolitisch orientierter CDU-Kandidat war. 

Sowohl in Verteilungs- als auch Integrationsfragen stand Laschet eher in der Tradition Merkels. Olaf Scholz wiederum war über die letzten Jahre Vizekanzler unter Angela Merkel, die SPD hatte von den sechzehn Jahren ihrer Amtszeit zwölf mehr oder weniger freiwillig an deren Seite verbracht. Auch hier war ein harte Polarisierung kaum möglich beziehungsweise glaubwürdig. Annalena Baerbock gab ebenfalls nicht vor, eine politische Revolution anführen zu wollen. Als erste Kanzlerkandidatin ihrer Partei mit dem Ziel 30% musste sie wesentlich breitere Wählerschichten ansprechen als den harten Kern der Grünen Wählerschaft. Nach dem dann völlig missglückten Auftakt übte sich die Grünen-Kampagne noch weiter in Zurückhaltung und versuchte, möglichst ohne weitere Verunfallungen ins Ziel zu kommen. 

Entsprechend ambitionslos verliefen die inhaltlichen Zuspitzungen des Wahlkampfes. Keine der drei führenden Parteien hatte ein Interesse daran, durch zu ehrgeizige inhaltliche Forderungen zu irritieren. Die erstmals stattfinden TV-Trielle – immerhin drei an der Zahl – zeigten die Kanzlerkandidaten in relativer Harmonie und die wenigen konkreten Themen – etwa der Mindestlohn-Vorstoß der SPD – boten keinen Anlass zur Dramatisierung. Ein verzweifelter Versuch der Union und ihrer Helfer:innen, noch einen Hauch von Rot-Rot-Grün-Debatte zu entfachen, lief ins Leere.

Am Ende zählte der alte Spruch: Auf den Kanzler kommt es an.
Im ZDF Politbarometer vom 17.9.2021 sprachen Olaf Scholz 67 % der Befragten die Eignung zum Bundeskanzler zu (nicht geeignet: 28 %). Armin Laschet hingegen hielten 67 % für nicht geeignet (geeignet 29 %), Annalena Barbock sogar 69 % (geeignet 26 %).
Noch im Juni lagen Laschet (47 %) und Scholz (49 %) bei dieser Frage der Amtseignung nahezu gleichauf, ihre Parteien aber deutlich auseinander (CDU/CSU 29 %; SPD 14 %, Grüne 22 % – ZDF Politbarometer vom 25.6.2021)

Dieser fulminante persönliche Vorsprung des SPD Kanzlerkandidaten hatte im September dann entsprechende Auswirkungen auf die Sonntagsfrage (SPD 25 %, CDU/CSU 22 %, Grüne 16 %) – aber auch auf die Themen, die von den Befragten als die bedeutendsten genannt wurden. Hier nannten 53 % die soziale Gerechtigkeit, 43 % den Klimaschutz und 25 % das Thema Migration. Man kann in diesem Fall also davon ausgehen, dass Olaf Scholz nicht nur seine Partei sondern auch deren stärkstes Thema nach vorne zog. 

Realistisch betrachtet hatte die Bundestagswahl 2021 aber kein bedeutendes Thema. Selbst die schreckliche Flutkatastrophe vom Juli traf auf eine Bevölkerung, die zu 86 % sowieso schon den Klimawandel als ein großes Problem für Deutschland einordnete und zu 63 % diese konkrete Flutkatastrophe auch direkt dem Klimawandel und seinen Folgen zuordnete (ZDF Politbarometer vom 30.7.2021). Darüber bestand also breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens.

Die Bundestagswahl 2021 wurde eine Persönlichkeitswahl.
Sie war keine Richtungswahl. 

Das ist keine Kritik – sondern ein Fakt. Die Kandidaten Laschet und Baerbock hatten sich aus Sicht der Wählerinnen und Wähler im Verlauf des Wahlkampfes selbst disqualifiziert. Olaf Scholz wurde einmal mehr in seiner Karriere nicht geliebt, aber gewählt. Er hatte sich in einem turbulenten Wahlkampf als sichere und verlässliche Führungspersönlichkeit erwiesen. Seine thematisch weitgehend konfliktfreie Basispositionierung machten ihn und seine Partei für Wechselwähler anschlussfähig. 

Aus dem Ergebnis der Bundestagswahl 2021 formulierten die sich dann später zusammenfindenden Ampel-Parteien den Anspruch, eine Fortschritts-Koalition zu bilden. Der Verlauf des Wahlkampfes lässt daran zweifeln, dass dies ein Wählerwunsch war. Eher liegt die Vermutung nahe, dass viele Wähler:innen eigentlich ein „Weiter so“ wie mit Merkel wünschten – nur eben mit Olaf Scholz und der SPD diesmal auf Platz 1 und der Union auf Platz 2. 

In über 16 Jahren hatten die Deutschen gelernt, dass sie am besten damit fahren, wenn der Fortschritt eine Schnecke ist und die Politik nicht weiter stört.

Das verstärkt die Probleme der Ampel heute nur noch mehr – denn neben den programmatischen Unwuchten zwischen den Koalitionspartnern, müssen diese der Bevölkerung massive Transformationsprozesse zumuten – ohne dass die Bevölkerung im Wahlkampf darauf vorbereitet worden wäre oder gar ihr Votum damit verbunden hätte.

Das Volk ist beschäftigt (Arbeit, Beziehung, Kita, Chef, Wäsche, Kinder, Geld, Hund) und möchte in Ruhe gelassen werden. Das ist ebenso verständlich wie gesellschaftlich ambitionslos. Nun ist Ambitionslosigkeit per se ja nichts Schlechtes. Sie führt nur zu nichts und lädt befreundete wie nicht befreundete Nationen dazu ein, vorbeizuziehen.

Deutschland war und wurde durch nichts auf die bestehenden Schwierigkeiten und Dimensionen der Transformationsprozesse vorbereitet – von denen nur einige Folgen des Krieges sind. Das liegt natürlich auch daran, dass viele Menschen darauf nicht vorbereitet werden wollten. Aber das ist ein anderes Thema.

Die Folgen für die Politik sind aber entscheidend: 

Wer in diesem Umfeld führen will, muss sehr viel erklären, behutsam vorgehen und ständig motivieren.

Mit Überrumpelungstaktik kommt man da nicht weiter – und mit Kleinparteienstaaterei erst recht nicht. Besser ist es, man setzt erstmal nichts voraus und erklärt immer wieder von neuem, warum diese nächste Reform ganz konkreten Nutzen bringt. Enjoy!

Aus Fehlern gelernt.

Warum die Wahlkampagnen von Union, SPD und Grünen 2021 so unterschiedlich verliefen. Eine Analyse aus Sicht der 2017 vom SPD Parteivorstand einberufenen Expertenkommission zur Aufarbeitung der Fehler in den Wahlkampagnen 2013/2017.

von Jana Faus, Horand Knaup, Michael Rüter, Yvonne Schroth, Frank Stauss

Die Bundestagswahl 2021 fand in einem Umfeld statt, das es so noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat: Es gab keine*n Amtsinhaber*in, an der*m sich die Menschen im positiven wie im negativen Sinne hätten abarbeiten können. Entsprechend gab es auch keine Daten darüber, wem die Menschen nun ihr Vertrauen schenken würden. Umso wichtiger war es daher, die drei Kandidat*innen selbst glaubwürdig, überzeugend, konzentriert und kompetent auftreten zu lassen. Dafür benötigen sie üblicherweise ein Kampagnenumfeld, in dem sie sich voll entfalten können – aber das ihnen zugleich auch Sicherheit bietet.

In den letzten Wochen vor der Wahl wurde auch den letzten Wähler*innen klar, dass sie sich neu orientieren mussten. Merkel würde gehen. Jemand Neues würde ins Kanzleramt ziehen. Baerbock, Scholz und Laschet wurden nun ganz genau beobachtet und getestet. Nur Scholz hat diesen Test bestanden und zog in der Endphase seine Partei mit nach oben. Am Ende fuhr die SPD, auch profitierend von den Fehlern der anderen, ein Ergebnis weit über den Erwartungen ein, CDU/CSU und Grüne blieben weit darunter.

In Folge der Bundestagswahl 2017 hatte der damalige SPD Parteivorsitzende Martin Schulz eine Studie in Auftrag gegeben, die Lehren aus den vergangenen Niederlagen der SPD ziehen und die Partei besser auf zukünftige Wahlkämpfe vorbereiten sollte. Die Expert*innen setzten sich aus den Bereichen Wahlforschung, Journalismus/Medien und Wahlkampfmanagement zusammen. Sie hatten freie Hand und der SPD Parteivorstand stellte die Analyse „Aus Fehlern lernen“ in einem außergewöhnlichen Schritt der breiten Öffentlichkeit als Download zur Verfügung.

Betrachtet man die Kernpunkte der Analyse, wird deutlich, weshalb die Wahlkämpfe der SPD, CDU/CSU und der Grünen über die entscheidenden Jahre 2020/2021 so unterschiedlich verliefen.

Als wichtigste Kriterien für die Niederlagen der SPD 2017 aber auch 2013 identifizierten die Autor*innen folgende Kriterien:

  1. Zeitlicher Vorlauf/Organisatorischer Aufbau

Kampagnen in der heutigen Medienwelt brauchen ein eingespieltes Team, das Zeit hat, sich aufeinander einzuspielen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und eine klare Strategie zu entwickeln. Hinzu kommen klare Verantwortlichkeiten, kurze Abstimmungsprozesse und verlässliche Strukturen für das Krisenmanagement (das in jeder Kampagne gebraucht wird).

  1. Policyentwicklung.

Eine Bundestagswahlkampagne braucht eine klare Fokussierung auf Inhalte. Sonst geht ihr mit Sicherheit auf der Strecke die Luft aus. Diese Inhalte und die dazugehörigen Botschaften müssen entwickelt, finanziell durchgerechnet und auf Plausibilität bezüglich der späteren Umsetzung geprüft werden. Auch das benötigt Zeit. Vor allem aber ist es wichtig, die unterschiedlichen Strömungen der Partei in den Policyprozess zu integrieren. In der heißen Phase des Wahlkampfes darf es nicht zu inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei kommen. Die Themen werden dann auch auf ihre Vermittelbarkeit geprüft und für unterschiedliche Kanäle (social Media, Print etc.) aufbereitet.

  1. Geschlossene Führung.

Wir leben in unruhigen, für viele stressintensiven Zeiten. In diesen Zeiten darf eine Partei nicht irritieren. Im Gegenteil, sie muss Leuchtturm sein, an dem die Menschen sich orientieren können. Konflikte zwischen den Spitzenpoliter*innen einer Partei verstören die Menschen.

  1. Kampagnenentwicklung und Sprache.

Eine erfolgreiche Kampagne basiert auf einer klaren Strategie, einer klaren Umsetzung und einer klaren Sprache. Für diese Kampagnenentwicklung braucht es Zeit. Partei, Programm und Person müssen eine Einheit bilden. Die Images der Person und der Kampagne müssen harmonieren, sonst erzeugt das wieder Irritationen. Hier hilft auch die strategische Wahlforschung – für die es wiederum Zeit braucht.

  1. Spitzenkandidatur

Ein Spitzenkandidat mit guten bis sehr guten Werten in der persönlichen Beurteilung darf nicht abseits der Kampagne laufen. Kampagnen müssen zwingend mit dem*r Kandidat*in harmonieren und mit ihm*r gemeinsam entwickelt werden. Nur dann ist die Kampagne glaubwürdig. In Zeiten der medialen Überreizung werden Spitzenkandidat*innen noch wichtiger, als sie es ohnehin schon waren. Menschen orientieren sich an Menschen. Politker*innen sind Transmissionsriemen zwischen einer immer komplizierteren politischen Welt und den Wähler*innen, die gleichzeitig der Politik immer weniger Aufmerksamkeit schenken.

Betrachten wir nun der Verlauf der Kampagnen der Parteien, die in der Bundestagswahl 2021 einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin nominierten, so zeigt sich sehr deutlich, warum insbesondere die SPD eine erfolgreiche Kampagne bestritten hat.

SPD:

Nach der Niederlage des Teams Geywitz/Scholz gegen Esken/Walter-Borjans Ende November 2019 begann die Parteiführung zügig mit dem innerparteilichen „Heilungsprozess“. Angesichts der über ein Jahrzehnt anhaltenden und zum Teil existentiellen Krise der Bundespartei kamen offenbar alle Beteiligten zu der Einsicht, dass sie nur gemeinsam eine Chance hätten, die SPD zu retten. Bereits im Frühjahr 2020 verdichteten sich die Gerüchte, dass am Ende Olaf Scholz die Kandidatur übernehmen würde. Faktisch nominiert wurde er dann im August 2020 – mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl. Generalsekretär Lars Klingbeil (den keiner der Parteiflügel in seinem Amt in Frage stellte) konnte sowohl Teamaufstellung, Agenturauswahl, Kampagnenentwicklung als auch die Organisation der Policy-Entwicklung vorantreiben. Und er tat es auch. Im August 2020 wussten alle Beteiligten, dass sie – wenn überhaupt – nur dann eine Chance im September 2021 haben würden, wenn sie den handwerklichen Teil der Kampagne perfekt vorbereiteten. Und das taten sie.

Maßgebliche Elemente der in der Analyse aufgeführten und erfolgreich umgesetzten Empfehlungen waren:

— Die frühe Nominierung des Kandidaten. Er war weithin bekannt und medial quasi ausdefiniert, als die Konkurrenz ihre Kanzlerkandidat*innen benannten.

— Die ebenso ungewöhnliche wie anhaltende Geschlossenheit der Partei – trotz monatelang schlechter Umfragezahlen.

— Die Fokussierung auf wenige, aber zentrale Anliegen. Mit Mindestlohn, Bürgergeld und Wohnungsbau rückte Olaf Scholz sozialdemokratische Kernthemen in den Mittelpunkt seiner Kampagne.

— Erfolgreiches Regierungshandeln: Ob der Arbeitsminister, die Familien-, die Umweltministerin oder der Finanzminister selbst – sie lieferten ungleich bessere Arbeitsnachweise und konkret und im Alltag erfahrbare Verbesserungen ab als die Kolleg*innen von der CDU/CSU.

CDU/CSU:

Nach der Wahl in Hessen vom Oktober 2018, bei der die dortige CDU 11,3 Prozentpunkte im Vergleich zu 2013 verloren hatte, kam Angela Merkel den Angriffen aus den eigenen Reihen zuvor. Sie verkündete nur 24 Stunden später ihren Verzicht auf den Parteivorsitz und kündigte ihren Rückzug aus der Politik mit der Bundestagswahl 2021 an. Nun wurde auch sichtbar, dass die Kanzlerin die lange Zeit an der Parteispitze nicht genutzt hatte, geeignete Nachfolger*innen aufzubauen. Eine Führungsreserve für die Parteiführung war (und ist) nicht erkennbar.

Für den Parteivorsitz kandidierten Jens Spahn, Friedrich Merz und Annegret Kramp-Karrenbauer, die am 7. Dezember 2018 erst im zweiten Wahlgang gewählt wurde. Zermürbt von anhaltender innerparteilicher Kritik kündigte Kramp-Karrenbauer bereits am im Februar 2020 ihren Rücktritt an. Kurz darauf kam es zum coronabedingten Lockdown in Deutschland und die Parteivorsitzende musste fast ein weiteres Jahr als machtlose Übergangsverwalterin im Amt ausharren. Erst am 16. Januar 2021 wurde Armin Laschet – wieder im zweiten Wahlgang – zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. Angetreten waren neben ihm Norbert Röttgen und natürlich, wie immer, Friedrich Merz. Die CDU hatte die Menschen über zwei Jahre lang mit Kampfabstimmungen irritiert – die natürlich auch innerparteilich Spuren hinterlassen hatten.

Nun zögerte Laschet aber, gleich auch nach der Kanzlerkandidatur zu greifen, um nicht mit den drohenden Niederlagen der CDU im März 2021 in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg identifiziert zu werden. Dieses erneute Machtvakuum nutzte Markus Söder, um seinen Hut in den Ring zu werfen. Nach erneuten harten Auseinandersetzungen hatte die Union erst am 20. April 2021 auch einen Kanzlerkandidaten – und der war beschädigt.

Dies hatte natürlich Auswirkungen auf die technische Führung des Wahlkampfes. Generalsekretär Paul Ziemiak – der mit Kramp-Karrenbauer im Dezember 2018 sein Amt angetreten hatte – musste sich im Januar 2021 zunächst mit einem neuen Parteivorsitzenden arrangieren und hatte erst vier Monate später einen Kanzlerkandidaten. Das ist sehr spät – eigentlich zu spät. Zu diesem Zeitpunkt warten die Kandidatinnen und Kandidaten vor Ort schon seit Wochen auf überzeugende Argumente und ihre Werbemittel. Die Kampagne musste jetzt in Windeseile aus dem Boden gestampft werden, beziehungsweise – und das ist der wahrscheinlichere Fall – die Kampagne war schon vorbereitet und musste nun auf Armin Laschet zugeschnitten werden.

Wichtiger aber ist: In dieser kurzen Zeit baut man kein Team auf, das sich blind vertraut. Für die Außenkommunikation wurde die ehemalige BILD- Chefredakteurin Tanit Koch engagiert – es fehlte aber die Zeit, sie auch zu integrieren. Viele Beobachter*innen nahmen wahr, dass in der Kampagne Verantwortlichkeiten nicht klar zugeordnet waren, der Kandidat häufig schlecht oder gar nicht vorbereitet zu Terminen erschien. Die handwerklichen Fehler häuften sich. So entstand kein Vertrauen in den Kandidaten und die Kampagne. Im Konrad-Adenauer-Haus fand über die letzten Jahre zudem ein Generationswechsel statt, sodass im Haus selbst keine Erfahrung mehr vorhanden ist. Für Policyentwicklung blieb ebenfalls keine Zeit. Alle Pannen aufzuzählen würde hier den Raum sprengen – aber die verunglückten Bilder des Kandidaten setzten sich in den Köpfen fest.

Die Grünen

Die Grünen nutzten zwar den relativ langen Zeitraum vor der Verkündung der Spitzenkandidatin, um sich organisatorisch und auch inhaltlich solide aufzustellen. Das neue Führungsteam Annalena Baerbock und Robert Habeck hatte die Vorlaufzeit in der Parteiführung gut genutzt, um mit einigen grünen Widersprüchlichkeiten aufzuräumen. Sie beendeten die Jahrzehnte dauernde Lähmung durch Strömungsauseinandersetzungen zwischen Fundis und Realos. Die Bundesgeschäftsstelle wurde professionalisiert, Strömungsscharmützel rückten in den Hintergrund. Das neue Duo konzentrierte sich auf die Policyentwicklung. Sie  erweiterten ihr Portfolio in der Sozialpolitik und besonders der Co-Vorsitzende Habeck beackerte zunehmend auch die Felder Finanz- und Wirtschaftspolitik.

Umso erstaunlicher ist es daher, dass die einsame Entscheidung um die Kanzler*innenkandidatur die scheinbar professionelle Maschinerie aus dem Takt brachte.  Baerbock und Habeck hatten intern offenbar zu wenig über die eigentliche Entscheidung kommuniziert und diese tatsächlich erst unmittelbar vor der Verkündung von Baerbock gefällt. Unabhängig davon hatte es die Kampagnenleitung zudem verpasst, beide Kandidierenden über diesen langen Zeitraum hinweg auf Herz und Nieren zu prüfen. In den notwendigen Prozess auch der innerparteilichen Heilung (viele Anhänger*innen hätten lieber Habeck gesehen) platzten dann die bekannten Vorwürfe gegen die Spitzenkandidatin und beschädigten sie nachhaltig. Selbst die Flutwelle – die eigentlich einen Boom für die Grünen hätte auslösen müssen – brachte keine Wende in der Kampagne. Etwa ab Juli spielte die Partei nur noch auf Platz.

Wahlkampf ist ein Handwerk. Eine perfekte Kampagne führt nicht automatisch zum Sieg – dafür gibt es zu viele äußere Umstände, die auf das Ergebnis Einfluss nehmen. Aber eine handwerklich schlechte Kampagne kann den sicher geglaubten Erfolg kosten.

Die SPD – die gesamte SPD – hat aus ihren Fehlern gelernt. Das kann man am Ende dieses Wahljahres definitiv sagen. Allen anderen empfehlen wir: „Aus Fehlern lernen“.

 

 

 

 

„Die größte Sorge der Menschen ist eine Regierungsbeteiligung von Armin Laschet“ Der „UNTER 3“ Podcast

Mit Frank Stauss von @richelstauss empfangen FU-Politikprofessor Thorsten Faas aka @wahlforschung und phoenix-Korrespondent @ErhardScherfer den wohl profiliertesten und erfahrensten Wahlkämpfer Deutschlands. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem – vier Wochen vor der Bundestagswahl – einiges in Bewegung geraten ist. Planung und Umsetzung von Kampagnen, die Rolle der Kandidat:innen sowie Begleitumstände und Unwägbarkeiten stehen deshalb im Mittelpunkt der ersten „unter 3“-Folge nach der Sommerpause. Und eine Prognose zum Wahlausgang wollen wir auch. Schließlich hat Stauss den jetzigen Stand der Dinge schon im vergangenen November vorhergesagt …

Zum Podcast geht es hier:

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Wird 2021 zum größten Wahldesaster in der Geschichte der Union?

Bundestag, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern: Der 26. September kann für die SPD zum Superwahltag werden. Und für die Union zum Desaster. Die jüngsten Zahlen: Manuela Schwesig und die SPD in Mecklenburg-Vorpommern: +9. Franziska Giffey und die SPD Berlin: +6. Und Scholz ist in allen Umfragen in der Direktwahl jetzt stärker als Laschet und Baerbock zusammen. Vor allem aber stimmt diesmal eines: DIE MACHTOPTION.

Am 11. November 2020 wagten wir in unserem Blogbeitrag „Das Mega-Giga-Supersexy-Superwahljahr“ folgenden Ausblick:

Stand heute ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Menschen im Herbst 2021, wenn sie die Wahl zwischen Friedrich Merz oder Armin Laschet und Robert Habeck haben, Olaf Scholz wählen.“

„Da die SPD zwar heute keine besonderen Umfragewerte verzeichnet, müsste der OH-MEIN-GOTT-ICH-KANN-DIE-MERKEL-JA-GAR-NICHT-MEHR-WÄHLEN-Effekt mit gut 6 bis 7 Prozentpunkten auf Scholz und die SPD einzahlen, um bei 23 bis 24 % zu landen. Das wären mehr als Schulz 2017, aber auch weniger als Steinbrück 2013 und erscheint damit machbar.“

Zu Union und Grünen: „Bei der CDU gibt es bis Januar und danach nur Unruhe, Unsicherheit und möglicherweise auch noch weitere Verwerfungen, die bereits Merkel in den Verzicht und Kramp-Karrenbauer ins Aus getrieben haben. … Ohne Merkel und den falschen Kandidaten muss da bei 27 % nach unten noch nicht die Grenze liegen…

„Die Grünen werden den Stresstest bestehen müssen, den sie noch nie bestanden haben …“

Soweit der Ausblick vom Dezember 2020. Bei den Grünen ist jetzt Frau Baerbock angetreten, was die Sache für die Partei allerdings nicht besser macht. Aber natürlich stehen sie nach wie vor im Vergleich zu 2017 hervorragend da.

Die Machtoption:

Machtoptionen sind wichtig. Die fehlenden Machtoptionen haben die SPD seit 2009 jedesmal die Mobilisierung gekostet.

Nicht allen wird jede Konstellation gefallen, aber wichtig ist zunächst einmal: Bleibt die SPD weiter in Schlagweite zur Union auf Bundesebene – oder überholt sie sogar – kann Scholz in vielen Varianten Bundeskanzler werden. Natürlich mit der Ampel (SPD, Grüne, FDP), aber wenn die SPD auf 1 landet auch in folgenden Varianten: SPD, Union, Grüne. Oder SPD, Union, FDP oder – sollte es reichen –  SPD/Union und eventuell auch noch SPD, Grüne, Linke. Um eine Mehrheit für Rot/Grün zu sehen (FGW: 42%), muss man schon sehr optimistisch sein. Dafür müsste die Linke rausfallen (möglich) und noch gut 5% bei R/G einzahlen (schwierig). Völlig raus ist allerdings Schwarz/Gelb (FGW: 32%).

Machtoptionen sind auch entscheidend für viele unentschlossene Wählerinnen und Wähler. Denn die SPD kann jetzt noch mehr mit ihrem Kanzlerkandidaten wuchern. Und klar signalisieren: Alle, die Laschet nicht wollen, müssen jetzt Scholz wählen.

Die Entwicklung in den Ländern:

Ein Blick auf die aktuellen Umfragen zu den zeitgleich stattfindenen Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern (MV) und Berlin (ist kurz genug) verdeutlicht die Stressposition der Union:

Zu MV: Am 26.8.2021 zeigt Infratest-Dimap für den NDR folgende Entwicklung (im Vergleich zum Vormonat):

SPD:    36%     +9
CDU:    15%     -8
Grüne: 6%       -1
Manuela Schwesig liegt bei der Direktwahl bei 65%.

Und diese Erhebung enthält auch noch einen Hinweis zur Bundestagswahl:
Für die Bundestagswahl liegt Olaf Scholz bei der Direktwahl in MV bei 49%, Armin Laschet kommt auf 12%. Wichtig für die SPD: Olaf Scholz kann offenbar im Osten punkten.

Zu Berlin. In Berlin veröffentlichte Infratest-Dimap am 25.8. folgende Zahlen (im Vergleich zu Mitte Juni):

SPD: 23%        + 6
CDU: 19%        – 3
Grüne: 17%      – 5

Franziska Giffeys Strategie, die Wählerinnen und Wähler darüber entscheiden zu lassen, ob die Plagiatsvorwürfe für diese relevant sind, geht auf. Sie ist als Bundesministerin zurückgetreten und stellt sich nun für die Position der Regierenden Bürgermeisterin neu zur Wahl. Und die Wählerinnen und Wähler sagen: Ist uns wurscht, wir wollen Dich.

Der 26. September 2021 könnte also so ausgehen:

Bundeskanzler: Olaf Scholz, SPD
MP MV : Manuela Schwesig mit einem Spitzenwert, SPD
Regierende Bürgermeisterin Berlin: Franziska Giffey, SPD

Nebeneffekt: Mit Manuela Schwesig, Franziska Giffey und Malu Dreyer hätte die SPD drei starke Länderchefinnen. Auch das ist ein starkes Signal. Die Union hat keine.

Ist das alles möglich. Ja.

Denn die SPD hat Momentum im Bund, in den Ländern und auch bei den Direktwahlwerten ihrer Kandidatinnen.

Die permanente Krisensituation (Corona, Flut, Afghanistan) macht die Kanzlerfrage für die Wählerinnen und Wähler noch bedeutender. Wer kann Krise? Es wird deutlich: Laschet und Baerbock können es aus Sicht der WählerInnen nicht.

Und schließlich: RRG taugt als Schreckensmodell nicht mehr, denn die SPD hat plötzlich bis zu 5 – in Worten FÜNF Machtoptionen.

Sollte es so kommen, wird die Union sich zwischen Oktober 2021 und dem Frühjahr 2022 erneut eine innerparteiliche Schlammschlacht liefern – und dann lauern da schon die Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und NRW.

Das also ist die Ausgangslage für die Trielle.

Scholz hat jetzt schon mehr erreicht als die meisten erwarteten.
Laschet kämpft gegen den Vergleich zu Söder, Merkel, Merz und – ach ja – Scholz. Baerbock muss konsolidieren.

Dabei ist nicht zu unterschätzen: Das Superwahljahr 2021 begann für die CDU mit den jeweils historisch schlechtesten Wahlergebnissen in ihren einstigen Stammländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.

Wohl bekomms!