Die FDP ohne Zielgruppe.

Um die Probleme der FDP verstehen zu können, muss man etwas tiefer in ihre Positionierung einsteigen. Und da beginnen schon die Schwierigkeiten.

Tempi passati. Es gab eine Zeit, da hatte die FDP mit Christian Lindner ein Potenzial von über 15%. Und tatsächlich notierte sie ja bei den Wahlen 2017 und 2021 jeweils zweistellig. Der triumphale Wiedereinzug in den Bundestag 2017 nach dem Scheitern an der 5%-Hürde bei der Wahl zuvor war der Frische des Vorsitzenden und auch einer herausragenden Kampagne geschuldet. Eine Regierungsbeteiligung schloss die FDP damals mit größtmöglicher Dramatik aus, weshalb in der Opposition nicht weiter auffiel, dass es mit der Frische der tatsächlichen Politik nicht weit her war.

Damals jedoch stand das Fenster weit offen, eine neue, moderne Wählerschaft dauerhaft zu binden. Die Grünen hatten noch keine neue Doppelspitze und kamen recht altbacken daher.

Aber trotz ihres frischen Images und herausragenden Marketings erfüllten weder die FDP als Partei noch die wichtigsten Akteure dieses moderne Versprechen. Im Gegenteil. Von wenigen lobenswerten gesellschaftlichen Symbolthemen abgesehen, versagte die FDP auf drei zentralen Feldern: der Wirtschafts-, Bildungs- und Umweltpolitik. Heute wirft sie im Todeskampf auch noch gesellschaftlich liberale Grundrechte über Bord, aber das ist auch schon egal.

Die FDP hatte die Chance, die wachsende und zukunftsträchtige Zielgruppe der modernen, urbanen, digitalen, aber auch international ausgerichteten, aufstiegsorientierten Bürger:innen zu erreichen. Diese sehen die Zukunft grundsätzlich eher als Chance denn als Bedrohung, wollen persönlich weiterkommen und vereinen liberale gesellschaftliche Grundüberzeugungen mit leistungsorientiertem Erfolgsstreben. Wir finden sie in allen möglichen Berufsfeldern: in international ausgerichteten Konzernen (auch Industriekonzernen), in Start-ups, in der digitalen Wirtschaft, Kommunikationsagenturen, bei Freelancern/Digitalnomaden, Selbständigen, in der Finanz- und Versicherungswirtschaft, in der Entertainment-, Event-, Hotellerie-, Medienbranche und so weiter und so fort. Sie wären die Lebensversicherung der FDP auf Jahrzehnte mit Potenzialen um die 20%. Allerdings gehört zum Lebensstil dieser Klientel auch ein Mindestmaß an Umweltbewusstsein, gesunder Ernährung, internationaler Zusammenarbeit, Gleichberechtigung, sozialem Frieden und europäischer Orientierung.

Aber außer ihrer Werbeagentur interessiert sich niemand in der FDP für sie. Die FDP hat sich immer weiter ideologisch verzwergt und hält sich heute nur noch mit einem überalterten, erzkonservativen und staats- und europaskeptischen Fundi-Flügel über 3% in den Umfragen.

Das FDP-geführte BMBF mit einer skandalbelasteten Ministerin ist ein Totalausfall. In der Wirtschaftspolitik steht die FDP angesichts massiver Probleme unserer Industrie weiter fest auf der Schuldenbremse und verstört damit auch die sehr große Klientel der dort arbeitenden modernen und aufstrebenden Potenziale. Und das entgegen aller guten Ratschläge führender und auch nicht führender Wirtschaftswissenschaftler. Also aller.

Umweltpolitisch positioniert sich die FDP als Bremsklotz, und ihre neue Migrationsrhetorik sucht noch ihren Platz zwischen Söder und Weidel. Das kann man alles machen. Aber diese Zielgruppe gibt es nicht. Vielleicht finden sich zehn Leute, die diesen kruden Politikmix in sich vereinen können. Aber es ist eine seltene Gabe.

Es gibt keine modernen, innovativen, liberalen, global- und erfolgsorientierten Menschen, die gleichzeitig die umweltfeindliche, europaskeptische, investitions- und zunehmend auch ausländerfeindliche Politik der gegenwärtigen FDP attraktiv fänden.

Gleichzeitig gibt es keine erzkonservativen, neoliberalen Diesel- und Atomnostalgiker, die mit der Legalisierung von Dope, der Selbstbestimmung Transsexueller oder dem Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der Verbrechensbekämpfung etwas anfangen können.

Die FDP hat sich auf eine Zielgruppe verengt, DIE ES GAR NICHT GIBT. Falls ich das noch nicht erwähnte. Sie hat sich in eine Ecke manövriert, in der die CDU unter Merz ihr komplett das Wasser auf konservativer Seite abgräbt, und Robert Habeck sich gerade eine Partei bastelt, die exakt das brachliegende moderne Potenzial adressiert.

Der vermutlich anstehende Rechtsruck der FDP ist dann ihr endgültiges Todesurteil – denn dieser Markt ist besetzt, und die FDP hinkt angeschlagen einem Zug hinterher, der längst abgefahren ist – und das auch noch in die falsche Richtung.

Bevor die FDP jetzt Selbstmord aus Angst vor dem Tod begeht, sollte sie sich vielleicht noch einmal auf ihre eigentlichen Stärken besinnen … und auf all the things that could have been. Or maybe still can…

Habecks zweite erste Chance.

Die Bundestagswahl 2025 nähert sich und es werden nach Medienberichten auch bereits personelle Entscheidungen zur Vorbereitung der Habeck-Kampagne getroffen. Das ist doch ein schöner Anlass, um auf die strategischen Optionen für Robert Habeck und die Grünen zu blicken. Die anderen Parteien folgen dann in loser Reihenfolge. Die strategischen Gedanken bilden nicht in jedem Fall dieser Reihe persönliche Präferenzen ab, manchmal aber doch und manchmal auch das krasse Gegenteil. Enjoy.

Das strategische Ziel der Grünen ist so klar wie ein Ziel nur klar sein kann: Robert Habeck muss seine Partei so stark machen, dass auf Bundesebene keine Zweierkoalition ohne die Grünen möglich ist. Dreier-Konstellationen auf Bundesebene haben doch sehr an Charme verloren. Selbst wenn die FDP knapp wieder in den Bundestag käme – was unwahrscheinlich ist – will niemand ohne Not mit ihr arbeiten und ein BSW in einer Dreier-Konstellation kann man sich auch nicht wirklich vorstellen.

Gehen wir also davon aus, dass die FDP nicht mehr in der Regierung vertreten sein wird, weil sie entweder zu schwach ist oder zu verbrannt oder nicht mehr vorhanden oder alles zusammen. Aus aktueller Sicht gäbe es dann nur zwei Optionen für Zweier-Konstellationen und das sind Union/SPD oder Union/Grüne. Der Union und selbstredend auch der SPD wäre die erste Konstellation lieber.

Aber was man sich wünscht und was einem der Wähler am Ende kredenzt, ist manchmal recht verschieden. Zwischen den Wünschen und dem Ergebnis liegt dann eben ein Wahlkampf.

Das vordergründige Problem: Die Grünen sind so out-of-vogue wie schon lange nicht mehr. Augenrollen bei der puren Erwähnung der Partei begegnet einem häufiger und das ist noch eine der angenehmsten Reaktionen. In anderen Regionen der Republik wird man dafür mit Schmorgurken aus nicht biologischem Anbau beworfen.

Ein Blick auf die Umfragen, Themenlagen und Potentiale lässt auf dem Weg bis zur Bundestagswahl 2025 in einem Jahr jedoch auch klare Chancen erkennen. Und diese liegen nicht nur – aber auch – in der Schwäche der anderen. Sie liegen auch in der Stärke Robert Habecks.

Mit aktuell 11-13% in den nationalen Umfragen notieren die Grünen nur wenig unterhalb ihres Wahlergebnisses von 14,8% im Jahr 2021. Sie ist die robusteste der Ampelparteien. Die FDP kam vor drei Jahren noch auf 11,5% und steht heute bei immer noch erstaunlichen 3-5%. Die SPD errang 25,7% und steht bei 15%. Umfragengewinner sind die Union, die von 24,1% auf 31-33 % zulegt, AfD von 10,3% auf 17-18% und BSW auf 8% national.

Auch wenn Heizungstechnologien und Energiewende, Elektromobilität und Radwege zum lustigen Draufschlagen in bestimmten Kreisen einladen, ist eine andere Entwicklung beachtenswert: Die Themenbedeutung von Klima- und Umweltschutz notiert immer noch in fast allen Erhebungen auf Platz 2 oder 3 der Dringlichkeit. Robert Habeck hat sich wieder auf einen der mittleren Plätze in der Politikerbewertung hochgearbeitet und gesellschaftspolitische Themen werden bei einem Kandidaten Merz auf Unionsseite an Relevanz zunehmen. Auch die aktuellen Top-Themen wie Migration und Wirtschaft müssen nicht zwingend in einem Jahr noch die Debatten dominieren.

Hinzu kommt, dass nach dem beliebten Motto „Aktion-Reaktion“ auf den aktuellen Backlash auch eine Gegenbewegung folgen kann. Für mehr Umweltschutz, gegen einen Rechtsruck, der auch die Union unterwandert, für die Verteidigung gesellschaftlicher Errungenschaften wie Gleichberechtigung, Minderheitenschutz etc., für Fortschritt gegen Rückschritt oder Stillstand. Diese Bewegung braucht einen Anführer.

Merz ist wiederum in seinem Grünen-Bashing gefangen, das er einst losgetreten hat und nun nicht mehr los wird. Weil viele seiner Leute ihn ernst genommen haben und sich nicht mehr einfangen lassen. Von Markus Söder wurde Merz wiederum nie ernst genommen und er überfüllt dessen vermeintlichen Auftrag nur, weil er ihm damit am effektivsten schaden kann. Denn Merz verliert natürlich eine wichtige Option, die er aber am Ende doch noch brauchen wird – wenn die Grünen an der SPD vorbeiziehen. Was bleibt ihm sonst übrig?

Die Union ist also wieder dort, wo sie 2020/21 schon einmal war: So siegessicher und selbstberauscht, dass sie sich wieder lustige Ränkespiele bis in die Zielgerade meint leisten zu können. Das Kandidatenkarussel der Union ist wieder neu eröffnet, Brücken in alle Richtungen werden eingerissen – auch innerparteiliche.

Zurück zu den Grünen, denen alles hilft, was den anderen schadet aber denen auch das weitere Kandidatenumfeld in die Hände spielt: Habeck kann reden und Emotionen in Worte fassen und auslösen. Habeck kann im zunehmenden Kulturkampf der Republik das immer noch relevante progressive Lager hinter sich versammeln, motivieren, vielleicht sogar klimaneutral elektrisieren.

Und viele Merkel-Wähler:innen die 2021 von der Union zur SPD gewechselt waren, sind heute wieder heimatlos. Nicht nur, aber erst recht im Vergleich zu Merz und Scholz hat Habeck definitiv einen „Schlag bei den Frauen“ (sagt meine Mama). Vielleicht kann er sogar noch eine kleine Portion aus den Konkursmassen von FDP und Linken abgreifen.

Ein weiterer Vorteil: Die Grünen sind eine urbane und speckgürtelstarke Partei, weshalb aktuelle Wahlergebnisse der Ost-Wahlen in Bezug auf die BTW wenig Relevanz haben, da im Osten ja kaum jemand wohnt. Von etwa 83,5 Mio. Bundesbürgern leben noch 12,6 Mio. im Osten (ohne Berlin), so dass die deutlich dichter besiedelten Regionen im Westen plus Berlin und die wenigen Städte im Osten viel wichtiger sind. Das ist ein großer Vorteil für die Grünen, die sich im Mittel- und Personaleinsatz konzentrieren können.

Bei einer aus Sicht vieler progressiver Wähler:innen wenig attraktiven Wiederauflage der Großen Koalition – und dann noch unter Merz – können die Grünen und Habeck das von nicht wenigen erwünschte Korrektiv sein. Und das kann entscheidend sein, um am Ende als Nr. 2 durch die Zielgerade zu kommen. 46-48% der Wählerstimmen können für eine Zweier-Konstellation reichen – und es ist gut möglich, dass Union/SPD daran scheitern Union/Grüne aber nicht.

Als Warnung vor der GroKo kann sich Habeck einen aktuell wohl bekannten Schlachtruf ausleihen und mit eigenen Inhalten und Parolen füllen: We are not going back!

Das kann klappen.

Aus Fehlern gelernt.

Warum die Wahlkampagnen von Union, SPD und Grünen 2021 so unterschiedlich verliefen. Eine Analyse aus Sicht der 2017 vom SPD Parteivorstand einberufenen Expertenkommission zur Aufarbeitung der Fehler in den Wahlkampagnen 2013/2017.

von Jana Faus, Horand Knaup, Michael Rüter, Yvonne Schroth, Frank Stauss

Die Bundestagswahl 2021 fand in einem Umfeld statt, das es so noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat: Es gab keine*n Amtsinhaber*in, an der*m sich die Menschen im positiven wie im negativen Sinne hätten abarbeiten können. Entsprechend gab es auch keine Daten darüber, wem die Menschen nun ihr Vertrauen schenken würden. Umso wichtiger war es daher, die drei Kandidat*innen selbst glaubwürdig, überzeugend, konzentriert und kompetent auftreten zu lassen. Dafür benötigen sie üblicherweise ein Kampagnenumfeld, in dem sie sich voll entfalten können – aber das ihnen zugleich auch Sicherheit bietet.

In den letzten Wochen vor der Wahl wurde auch den letzten Wähler*innen klar, dass sie sich neu orientieren mussten. Merkel würde gehen. Jemand Neues würde ins Kanzleramt ziehen. Baerbock, Scholz und Laschet wurden nun ganz genau beobachtet und getestet. Nur Scholz hat diesen Test bestanden und zog in der Endphase seine Partei mit nach oben. Am Ende fuhr die SPD, auch profitierend von den Fehlern der anderen, ein Ergebnis weit über den Erwartungen ein, CDU/CSU und Grüne blieben weit darunter.

In Folge der Bundestagswahl 2017 hatte der damalige SPD Parteivorsitzende Martin Schulz eine Studie in Auftrag gegeben, die Lehren aus den vergangenen Niederlagen der SPD ziehen und die Partei besser auf zukünftige Wahlkämpfe vorbereiten sollte. Die Expert*innen setzten sich aus den Bereichen Wahlforschung, Journalismus/Medien und Wahlkampfmanagement zusammen. Sie hatten freie Hand und der SPD Parteivorstand stellte die Analyse „Aus Fehlern lernen“ in einem außergewöhnlichen Schritt der breiten Öffentlichkeit als Download zur Verfügung.

Betrachtet man die Kernpunkte der Analyse, wird deutlich, weshalb die Wahlkämpfe der SPD, CDU/CSU und der Grünen über die entscheidenden Jahre 2020/2021 so unterschiedlich verliefen.

Als wichtigste Kriterien für die Niederlagen der SPD 2017 aber auch 2013 identifizierten die Autor*innen folgende Kriterien:

  1. Zeitlicher Vorlauf/Organisatorischer Aufbau

Kampagnen in der heutigen Medienwelt brauchen ein eingespieltes Team, das Zeit hat, sich aufeinander einzuspielen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und eine klare Strategie zu entwickeln. Hinzu kommen klare Verantwortlichkeiten, kurze Abstimmungsprozesse und verlässliche Strukturen für das Krisenmanagement (das in jeder Kampagne gebraucht wird).

  1. Policyentwicklung.

Eine Bundestagswahlkampagne braucht eine klare Fokussierung auf Inhalte. Sonst geht ihr mit Sicherheit auf der Strecke die Luft aus. Diese Inhalte und die dazugehörigen Botschaften müssen entwickelt, finanziell durchgerechnet und auf Plausibilität bezüglich der späteren Umsetzung geprüft werden. Auch das benötigt Zeit. Vor allem aber ist es wichtig, die unterschiedlichen Strömungen der Partei in den Policyprozess zu integrieren. In der heißen Phase des Wahlkampfes darf es nicht zu inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei kommen. Die Themen werden dann auch auf ihre Vermittelbarkeit geprüft und für unterschiedliche Kanäle (social Media, Print etc.) aufbereitet.

  1. Geschlossene Führung.

Wir leben in unruhigen, für viele stressintensiven Zeiten. In diesen Zeiten darf eine Partei nicht irritieren. Im Gegenteil, sie muss Leuchtturm sein, an dem die Menschen sich orientieren können. Konflikte zwischen den Spitzenpoliter*innen einer Partei verstören die Menschen.

  1. Kampagnenentwicklung und Sprache.

Eine erfolgreiche Kampagne basiert auf einer klaren Strategie, einer klaren Umsetzung und einer klaren Sprache. Für diese Kampagnenentwicklung braucht es Zeit. Partei, Programm und Person müssen eine Einheit bilden. Die Images der Person und der Kampagne müssen harmonieren, sonst erzeugt das wieder Irritationen. Hier hilft auch die strategische Wahlforschung – für die es wiederum Zeit braucht.

  1. Spitzenkandidatur

Ein Spitzenkandidat mit guten bis sehr guten Werten in der persönlichen Beurteilung darf nicht abseits der Kampagne laufen. Kampagnen müssen zwingend mit dem*r Kandidat*in harmonieren und mit ihm*r gemeinsam entwickelt werden. Nur dann ist die Kampagne glaubwürdig. In Zeiten der medialen Überreizung werden Spitzenkandidat*innen noch wichtiger, als sie es ohnehin schon waren. Menschen orientieren sich an Menschen. Politker*innen sind Transmissionsriemen zwischen einer immer komplizierteren politischen Welt und den Wähler*innen, die gleichzeitig der Politik immer weniger Aufmerksamkeit schenken.

Betrachten wir nun der Verlauf der Kampagnen der Parteien, die in der Bundestagswahl 2021 einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin nominierten, so zeigt sich sehr deutlich, warum insbesondere die SPD eine erfolgreiche Kampagne bestritten hat.

SPD:

Nach der Niederlage des Teams Geywitz/Scholz gegen Esken/Walter-Borjans Ende November 2019 begann die Parteiführung zügig mit dem innerparteilichen „Heilungsprozess“. Angesichts der über ein Jahrzehnt anhaltenden und zum Teil existentiellen Krise der Bundespartei kamen offenbar alle Beteiligten zu der Einsicht, dass sie nur gemeinsam eine Chance hätten, die SPD zu retten. Bereits im Frühjahr 2020 verdichteten sich die Gerüchte, dass am Ende Olaf Scholz die Kandidatur übernehmen würde. Faktisch nominiert wurde er dann im August 2020 – mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl. Generalsekretär Lars Klingbeil (den keiner der Parteiflügel in seinem Amt in Frage stellte) konnte sowohl Teamaufstellung, Agenturauswahl, Kampagnenentwicklung als auch die Organisation der Policy-Entwicklung vorantreiben. Und er tat es auch. Im August 2020 wussten alle Beteiligten, dass sie – wenn überhaupt – nur dann eine Chance im September 2021 haben würden, wenn sie den handwerklichen Teil der Kampagne perfekt vorbereiteten. Und das taten sie.

Maßgebliche Elemente der in der Analyse aufgeführten und erfolgreich umgesetzten Empfehlungen waren:

— Die frühe Nominierung des Kandidaten. Er war weithin bekannt und medial quasi ausdefiniert, als die Konkurrenz ihre Kanzlerkandidat*innen benannten.

— Die ebenso ungewöhnliche wie anhaltende Geschlossenheit der Partei – trotz monatelang schlechter Umfragezahlen.

— Die Fokussierung auf wenige, aber zentrale Anliegen. Mit Mindestlohn, Bürgergeld und Wohnungsbau rückte Olaf Scholz sozialdemokratische Kernthemen in den Mittelpunkt seiner Kampagne.

— Erfolgreiches Regierungshandeln: Ob der Arbeitsminister, die Familien-, die Umweltministerin oder der Finanzminister selbst – sie lieferten ungleich bessere Arbeitsnachweise und konkret und im Alltag erfahrbare Verbesserungen ab als die Kolleg*innen von der CDU/CSU.

CDU/CSU:

Nach der Wahl in Hessen vom Oktober 2018, bei der die dortige CDU 11,3 Prozentpunkte im Vergleich zu 2013 verloren hatte, kam Angela Merkel den Angriffen aus den eigenen Reihen zuvor. Sie verkündete nur 24 Stunden später ihren Verzicht auf den Parteivorsitz und kündigte ihren Rückzug aus der Politik mit der Bundestagswahl 2021 an. Nun wurde auch sichtbar, dass die Kanzlerin die lange Zeit an der Parteispitze nicht genutzt hatte, geeignete Nachfolger*innen aufzubauen. Eine Führungsreserve für die Parteiführung war (und ist) nicht erkennbar.

Für den Parteivorsitz kandidierten Jens Spahn, Friedrich Merz und Annegret Kramp-Karrenbauer, die am 7. Dezember 2018 erst im zweiten Wahlgang gewählt wurde. Zermürbt von anhaltender innerparteilicher Kritik kündigte Kramp-Karrenbauer bereits am im Februar 2020 ihren Rücktritt an. Kurz darauf kam es zum coronabedingten Lockdown in Deutschland und die Parteivorsitzende musste fast ein weiteres Jahr als machtlose Übergangsverwalterin im Amt ausharren. Erst am 16. Januar 2021 wurde Armin Laschet – wieder im zweiten Wahlgang – zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. Angetreten waren neben ihm Norbert Röttgen und natürlich, wie immer, Friedrich Merz. Die CDU hatte die Menschen über zwei Jahre lang mit Kampfabstimmungen irritiert – die natürlich auch innerparteilich Spuren hinterlassen hatten.

Nun zögerte Laschet aber, gleich auch nach der Kanzlerkandidatur zu greifen, um nicht mit den drohenden Niederlagen der CDU im März 2021 in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg identifiziert zu werden. Dieses erneute Machtvakuum nutzte Markus Söder, um seinen Hut in den Ring zu werfen. Nach erneuten harten Auseinandersetzungen hatte die Union erst am 20. April 2021 auch einen Kanzlerkandidaten – und der war beschädigt.

Dies hatte natürlich Auswirkungen auf die technische Führung des Wahlkampfes. Generalsekretär Paul Ziemiak – der mit Kramp-Karrenbauer im Dezember 2018 sein Amt angetreten hatte – musste sich im Januar 2021 zunächst mit einem neuen Parteivorsitzenden arrangieren und hatte erst vier Monate später einen Kanzlerkandidaten. Das ist sehr spät – eigentlich zu spät. Zu diesem Zeitpunkt warten die Kandidatinnen und Kandidaten vor Ort schon seit Wochen auf überzeugende Argumente und ihre Werbemittel. Die Kampagne musste jetzt in Windeseile aus dem Boden gestampft werden, beziehungsweise – und das ist der wahrscheinlichere Fall – die Kampagne war schon vorbereitet und musste nun auf Armin Laschet zugeschnitten werden.

Wichtiger aber ist: In dieser kurzen Zeit baut man kein Team auf, das sich blind vertraut. Für die Außenkommunikation wurde die ehemalige BILD- Chefredakteurin Tanit Koch engagiert – es fehlte aber die Zeit, sie auch zu integrieren. Viele Beobachter*innen nahmen wahr, dass in der Kampagne Verantwortlichkeiten nicht klar zugeordnet waren, der Kandidat häufig schlecht oder gar nicht vorbereitet zu Terminen erschien. Die handwerklichen Fehler häuften sich. So entstand kein Vertrauen in den Kandidaten und die Kampagne. Im Konrad-Adenauer-Haus fand über die letzten Jahre zudem ein Generationswechsel statt, sodass im Haus selbst keine Erfahrung mehr vorhanden ist. Für Policyentwicklung blieb ebenfalls keine Zeit. Alle Pannen aufzuzählen würde hier den Raum sprengen – aber die verunglückten Bilder des Kandidaten setzten sich in den Köpfen fest.

Die Grünen

Die Grünen nutzten zwar den relativ langen Zeitraum vor der Verkündung der Spitzenkandidatin, um sich organisatorisch und auch inhaltlich solide aufzustellen. Das neue Führungsteam Annalena Baerbock und Robert Habeck hatte die Vorlaufzeit in der Parteiführung gut genutzt, um mit einigen grünen Widersprüchlichkeiten aufzuräumen. Sie beendeten die Jahrzehnte dauernde Lähmung durch Strömungsauseinandersetzungen zwischen Fundis und Realos. Die Bundesgeschäftsstelle wurde professionalisiert, Strömungsscharmützel rückten in den Hintergrund. Das neue Duo konzentrierte sich auf die Policyentwicklung. Sie  erweiterten ihr Portfolio in der Sozialpolitik und besonders der Co-Vorsitzende Habeck beackerte zunehmend auch die Felder Finanz- und Wirtschaftspolitik.

Umso erstaunlicher ist es daher, dass die einsame Entscheidung um die Kanzler*innenkandidatur die scheinbar professionelle Maschinerie aus dem Takt brachte.  Baerbock und Habeck hatten intern offenbar zu wenig über die eigentliche Entscheidung kommuniziert und diese tatsächlich erst unmittelbar vor der Verkündung von Baerbock gefällt. Unabhängig davon hatte es die Kampagnenleitung zudem verpasst, beide Kandidierenden über diesen langen Zeitraum hinweg auf Herz und Nieren zu prüfen. In den notwendigen Prozess auch der innerparteilichen Heilung (viele Anhänger*innen hätten lieber Habeck gesehen) platzten dann die bekannten Vorwürfe gegen die Spitzenkandidatin und beschädigten sie nachhaltig. Selbst die Flutwelle – die eigentlich einen Boom für die Grünen hätte auslösen müssen – brachte keine Wende in der Kampagne. Etwa ab Juli spielte die Partei nur noch auf Platz.

Wahlkampf ist ein Handwerk. Eine perfekte Kampagne führt nicht automatisch zum Sieg – dafür gibt es zu viele äußere Umstände, die auf das Ergebnis Einfluss nehmen. Aber eine handwerklich schlechte Kampagne kann den sicher geglaubten Erfolg kosten.

Die SPD – die gesamte SPD – hat aus ihren Fehlern gelernt. Das kann man am Ende dieses Wahljahres definitiv sagen. Allen anderen empfehlen wir: „Aus Fehlern lernen“.

 

 

 

 

„Erst kommt das Team, dann folgt der Untergang“ – Das heute-journal Interview

Marietta Slomka führte für das heute journal vom 3.9.2021 ein Interview mit mir zu den jüngsten Zahlen des ZDF Politbarometers aber auch zur Teamvorstellung von Armin Laschet.

Um die Dimension der Probleme von Armin Laschet zu begreifen, kann man auch die Beliebtheitswerte anderer Kandidaten bemühen. Rudolf Scharping hatte um den Wahltag 1994 herum einen Wert von +0,9, Martin Schulz kam 2017 auf +1,1. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück notierten noch darüber. Armin Laschet liegt am 3.9.2021 bei einem Negativrekord von -0,8.

Seit dem die Forschungsgruppe Wahlen die Werte für die wichtigsten Politiker:innen erhebt, ist Armin Laschet mit -0,8 der historisch am schlechtesten bewertete Kanzlerkandidat. Am nächsten kommt ihm nur Annalena Baerbock mit -0,5. Olfa Scholz notiert aktuell bei +1,7. Das ist ein Spitzenwert – nur noch übertrumpft von der Kanzlerin (2,2) – die aber niemand mehr wählen kann.

Zum Interview geht es hier:

Bildschirmfoto 2021-09-04 um 13.54.31

Oder im Wortlaut hier:

Intro: Frank Stauss ist Kommunikationsberater und macht seit 20 Jahren Wahlkämpfe. Er hat eine der Agenturen, an die sich Politiker wenden, wenn sie strategische Beratung und Wahlkampagnen brauchen. Mehrfach hat Stauss die SPD beraten, unter anderem auch Olaf Scholz.

ZDF: In diesem Bundestagswahlkampf sind sie nicht aktiv im Geschirr, sondern beobachten das sozusagen von der Seitenlinie. Wenn wir uns jetzt die Strategie der Union ansehen, Furcht vor einem Bündnis mit der Linkspartei im Bund zu wecken und damit Wähler zu mobilisieren, kann das für die SPD für Team Scholz sozusagen ein strategisches Problem werden?

Frank Stauss: In den Kampagnen der letzten Jahre hätte ich das klar bejaht, weil es in der Vergangenheit – ob das jetzt die Kampagnen von Steinbrück, von Steinmeier oder von Schulz waren – eine der wenigen Machtoptionen war. Oder zum Teil auch die einzige, die die SPD überhaupt hatte. Jetzt ist es allerdings anders.

Da sie (die SPD) jetzt in allen Umfragen die Nummer eins ist, hat sie natürlich viel mehr Machtoptionen überhaupt.

Also neben dieser Linkskoalition auch noch die Ampel. Dann natürlich, unabhängig davon, ob das jemand will, auch eine Große Koalition unter Führung der SPD. Eine Koalition mit der Union und den Grünen und so weiter und so fort. Und dadurch hat das natürlich nicht den Stellenwert, den das sonst in Kampagnen gehabt hätte.

ZDF: Wobei es ganz interessant ist – das ist auch so eine Zahl aus unserem Politbarometer – dass zwei Drittel der Befragten sagen, sie gehen schon davon aus, wenn die Mehrheitsverhältnisse entsprechend sind, dann macht das Herr Scholz mit der Linken trotz aller Vorbehalte, die es da gibt. Und 60 Prozent finden das überhaupt nicht gut. Also kann das nicht schon auch ehemalige Merkel-Wähler abschrecken? Wie sollte die SPD damit umgehen? Was würden Sie als Wahlkampfberater sagen?

Stauss: Die Kampagne der Union zielt ja genau darauf ab. Auf der anderen Seite hat eben dieses Politbarometer auch erhoben, dass es den meisten Menschen egal ist, ob die SPD jetzt im Vorfeld eine solche Koalition ausschließt. Das ist für mich ein ganz wichtiger Indikator. Denn es bedeutet, dass sie es zwar grundsätzlich nicht wollen, dass sie aber gleichzeitig dieser Frage keine so große Bedeutung zumessen.

Ich glaube, letztendlich ist es ein Nullsummenspiel, weil eben es so viele Optionen gibt. Und am Ende werden sich die Menschen, eben weil es so viel Verwirrung und Orientierungslosigkeit gibt, an den Personen orientieren. Und das ist ja gerade das große Problem von Armin Laschet, dass die Menschen eben Olaf Scholz nicht zutrauen, dass er eine instabile Koalition anführen würde.

ZDF: Stichwort Team Laschet: Drei Wochen vor der Wahl und dann immer noch so im Abwind – was kann man da eigentlich als Wahlkampfmanager überhaupt noch machen oder empfehlen?

Stauss: Ja, also meine Empfehlung ist da immer ganz klar, die Finger von einem Team zu lassen. Für mich gilt die Formel: Kommt das Team, folgt der Untergang. Das hat noch nie funktioniert. Ich erinnere mich an die Kampagne von Frank Walter Steinmeier, der ein Team in der Größenordnung einer Fußballmannschaft inklusive Ersatzkader präsentiert hat. Das hat alles nicht gefruchtet.

Heute muss der Mann sein Leben als Bundespräsident verbringen.

Ich erinnere mich an Rudolf Scharping, der von Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine gestützt werden sollte, aber eher gestürzt wurde. Also dieser Teamgedanke funktioniert nicht, und das hat auch eine ganz einfache Erklärung:

Es gibt kein Team im Bundeskanzleramt, es gibt da exakt einen Stuhl. Auf dem sitzt dann am Ende der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin.

Und deswegen orientieren sich die Menschen tatsächlich an den Kandidaten.

ZDF: Aber versucht man nicht doch auch verschiedene Flügel damit abzudecken? Also zum Beispiel, indem man sagt, dass Herr Merz eine Rolle spielen soll, um CDU-Stammwähler, die das gut finden, zu erfreuen?

Stauss: Ja, das ist im Prinzip der Gedanke. Aber meine Erfahrung ist: Er funktioniert nicht, weil die Menschen sagen, man kann eine Kanzlerkandidatur nicht delegieren. Man kann auch eine Kanzlerschaft nicht delegieren. Das, was Herr Laschet gerade präsentiert hat, sind die verschiedenen Flügel seiner Partei. Die interessieren aber wiederum die Wählerinnen und Wähler nicht so richtig.

Herr Merz ist ein Angebot für den wirtschaftsliberalen Flügel, ist auch ein bisschen den Angriff an die FDP, von der die Union gerne wieder ein, zwei Prozentpunkte zurückhaben würde. Aber letztendlich ist meine Erfahrung, dass diese Teams eher Verwirrung stiften, weil Herr Laschet hat vor ein paar Tagen noch ein Klima-Team präsentiert, jetzt ein Kern-Team, das hört ja gar nicht mehr auf.

ZDF: Glauben Sie, dass in den nächsten drei Wochen noch viel passieren kann? Es ist ja ein verrückter Wahlkampf, man hat ja vieles noch vor ein paar Wochen nicht für möglich gehalten.

Stauss: Ja, es ist ein komplett verrückter Wahlkampf. Aber auch mit Werten, die ich meinem Leben noch nie erlebt hatte, dass eben auch ein Kanzlerkandidat der Union so unbeliebt ist. So war keiner zuvor, weder Rudolf Scharping noch Martin Schulz hatten so schlechte Werte. Die Stimmung dreht sich eindeutig in Richtung der SPD und Olaf Scholz. Und deswegen muss die Union was tun, allerdings läuft ihr die Zeit davon.

Das Interview führte ZDF heute journal-Moderatorin Marietta Slomka.