Habecks zweite erste Chance.

Die Bundestagswahl 2025 nähert sich und es werden nach Medienberichten auch bereits personelle Entscheidungen zur Vorbereitung der Habeck-Kampagne getroffen. Das ist doch ein schöner Anlass, um auf die strategischen Optionen für Robert Habeck und die Grünen zu blicken. Die anderen Parteien folgen dann in loser Reihenfolge. Die strategischen Gedanken bilden nicht in jedem Fall dieser Reihe persönliche Präferenzen ab, manchmal aber doch und manchmal auch das krasse Gegenteil. Enjoy.

Das strategische Ziel der Grünen ist so klar wie ein Ziel nur klar sein kann: Robert Habeck muss seine Partei so stark machen, dass auf Bundesebene keine Zweierkoalition ohne die Grünen möglich ist. Dreier-Konstellationen auf Bundesebene haben doch sehr an Charme verloren. Selbst wenn die FDP knapp wieder in den Bundestag käme – was unwahrscheinlich ist – will niemand ohne Not mit ihr arbeiten und ein BSW in einer Dreier-Konstellation kann man sich auch nicht wirklich vorstellen.

Gehen wir also davon aus, dass die FDP nicht mehr in der Regierung vertreten sein wird, weil sie entweder zu schwach ist oder zu verbrannt oder nicht mehr vorhanden oder alles zusammen. Aus aktueller Sicht gäbe es dann nur zwei Optionen für Zweier-Konstellationen und das sind Union/SPD oder Union/Grüne. Der Union und selbstredend auch der SPD wäre die erste Konstellation lieber.

Aber was man sich wünscht und was einem der Wähler am Ende kredenzt, ist manchmal recht verschieden. Zwischen den Wünschen und dem Ergebnis liegt dann eben ein Wahlkampf.

Das vordergründige Problem: Die Grünen sind so out-of-vogue wie schon lange nicht mehr. Augenrollen bei der puren Erwähnung der Partei begegnet einem häufiger und das ist noch eine der angenehmsten Reaktionen. In anderen Regionen der Republik wird man dafür mit Schmorgurken aus nicht biologischem Anbau beworfen.

Ein Blick auf die Umfragen, Themenlagen und Potentiale lässt auf dem Weg bis zur Bundestagswahl 2025 in einem Jahr jedoch auch klare Chancen erkennen. Und diese liegen nicht nur – aber auch – in der Schwäche der anderen. Sie liegen auch in der Stärke Robert Habecks.

Mit aktuell 11-13% in den nationalen Umfragen notieren die Grünen nur wenig unterhalb ihres Wahlergebnisses von 14,8% im Jahr 2021. Sie ist die robusteste der Ampelparteien. Die FDP kam vor drei Jahren noch auf 11,5% und steht heute bei immer noch erstaunlichen 3-5%. Die SPD errang 25,7% und steht bei 15%. Umfragengewinner sind die Union, die von 24,1% auf 31-33 % zulegt, AfD von 10,3% auf 17-18% und BSW auf 8% national.

Auch wenn Heizungstechnologien und Energiewende, Elektromobilität und Radwege zum lustigen Draufschlagen in bestimmten Kreisen einladen, ist eine andere Entwicklung beachtenswert: Die Themenbedeutung von Klima- und Umweltschutz notiert immer noch in fast allen Erhebungen auf Platz 2 oder 3 der Dringlichkeit. Robert Habeck hat sich wieder auf einen der mittleren Plätze in der Politikerbewertung hochgearbeitet und gesellschaftspolitische Themen werden bei einem Kandidaten Merz auf Unionsseite an Relevanz zunehmen. Auch die aktuellen Top-Themen wie Migration und Wirtschaft müssen nicht zwingend in einem Jahr noch die Debatten dominieren.

Hinzu kommt, dass nach dem beliebten Motto „Aktion-Reaktion“ auf den aktuellen Backlash auch eine Gegenbewegung folgen kann. Für mehr Umweltschutz, gegen einen Rechtsruck, der auch die Union unterwandert, für die Verteidigung gesellschaftlicher Errungenschaften wie Gleichberechtigung, Minderheitenschutz etc., für Fortschritt gegen Rückschritt oder Stillstand. Diese Bewegung braucht einen Anführer.

Merz ist wiederum in seinem Grünen-Bashing gefangen, das er einst losgetreten hat und nun nicht mehr los wird. Weil viele seiner Leute ihn ernst genommen haben und sich nicht mehr einfangen lassen. Von Markus Söder wurde Merz wiederum nie ernst genommen und er überfüllt dessen vermeintlichen Auftrag nur, weil er ihm damit am effektivsten schaden kann. Denn Merz verliert natürlich eine wichtige Option, die er aber am Ende doch noch brauchen wird – wenn die Grünen an der SPD vorbeiziehen. Was bleibt ihm sonst übrig?

Die Union ist also wieder dort, wo sie 2020/21 schon einmal war: So siegessicher und selbstberauscht, dass sie sich wieder lustige Ränkespiele bis in die Zielgerade meint leisten zu können. Das Kandidatenkarussel der Union ist wieder neu eröffnet, Brücken in alle Richtungen werden eingerissen – auch innerparteiliche.

Zurück zu den Grünen, denen alles hilft, was den anderen schadet aber denen auch das weitere Kandidatenumfeld in die Hände spielt: Habeck kann reden und Emotionen in Worte fassen und auslösen. Habeck kann im zunehmenden Kulturkampf der Republik das immer noch relevante progressive Lager hinter sich versammeln, motivieren, vielleicht sogar klimaneutral elektrisieren.

Und viele Merkel-Wähler:innen die 2021 von der Union zur SPD gewechselt waren, sind heute wieder heimatlos. Nicht nur, aber erst recht im Vergleich zu Merz und Scholz hat Habeck definitiv einen „Schlag bei den Frauen“ (sagt meine Mama). Vielleicht kann er sogar noch eine kleine Portion aus den Konkursmassen von FDP und Linken abgreifen.

Ein weiterer Vorteil: Die Grünen sind eine urbane und speckgürtelstarke Partei, weshalb aktuelle Wahlergebnisse der Ost-Wahlen in Bezug auf die BTW wenig Relevanz haben, da im Osten ja kaum jemand wohnt. Von etwa 83,5 Mio. Bundesbürgern leben noch 12,6 Mio. im Osten (ohne Berlin), so dass die deutlich dichter besiedelten Regionen im Westen plus Berlin und die wenigen Städte im Osten viel wichtiger sind. Das ist ein großer Vorteil für die Grünen, die sich im Mittel- und Personaleinsatz konzentrieren können.

Bei einer aus Sicht vieler progressiver Wähler:innen wenig attraktiven Wiederauflage der Großen Koalition – und dann noch unter Merz – können die Grünen und Habeck das von nicht wenigen erwünschte Korrektiv sein. Und das kann entscheidend sein, um am Ende als Nr. 2 durch die Zielgerade zu kommen. 46-48% der Wählerstimmen können für eine Zweier-Konstellation reichen – und es ist gut möglich, dass Union/SPD daran scheitern Union/Grüne aber nicht.

Als Warnung vor der GroKo kann sich Habeck einen aktuell wohl bekannten Schlachtruf ausleihen und mit eigenen Inhalten und Parolen füllen: We are not going back!

Das kann klappen.

Fun Facts zur US-Wahl (Part 2)

Battleground-Airport-Hangar-Hopping

Während die Präsidentschaftskampagnen in den USA langsam auf die Zielgerade einbiegen, beobachten wir wieder mit mehr oder weniger Erstaunen das intensive Bearbeiten der entscheidenden Battlegound-Staaten (siehe auch Part 1). Kamala Harris, Tim Walz, Donald Trump und JD Vance landen in unterschiedlichen Städten der umkämpften Staaten und folgen sich manchmal binnen Stunden auf dem Fuße. Vor Ort ist dann meistens keine Fahrt in die jeweilige Stadt eingeplant, da dies nur unnötig Zeit kosten würde. Statt dessen werden die Wahlkampfveranstaltungen meist in einem leeren Airport-Hangar abgehalten. Die jeweilige Ground-Staff vor Ort hat dann den Job, manchmal nur mit kürzester Vorwarnung hunderte oder tausende Fans an den Flughafen zu karren und den trostlosen Hangar binnen Stunden in eine Wahlkampf-Arena zu verwandeln.

But why? Stan Greenberg, legendärer Meinungsforscher, hat dies bereits 1992 für die Clinton/Gore-Kampagne festgestellt: „Ein Trip in einen Bundesstaat hat einen sofortigen Effekt von 2, manchmal sogar 3 Prozentpunkten. Es ist fast wie in einem Football-Match – wer den Ball zuletzt bekommt, kann den Unterschied machen und eine knappe Niederlage in einen knappen Sieg verwandeln.“ (ABC Nightline, 72 Hours to Victory – Behind the Scenes with Bill Clinton, Erstausstrahlung 4.11.1992).

Wichtig sind dabei natürlich nicht die eigenen Supporter vor Ort, sondern die Lokalen Media-Marktes. Also die lokalen TV-Stationen, Radio-Stationen, News-Channel, natürlich heute auch Influencer und die noch vorhandenen Tageszeitungen. Sie berichten in den lokalen Fenstern der Networks oder eigenen Kanälen im jeweiligen Bundesstaat und erreichen so direkt die Menschen vor Ort.

So kommt es, dass manchmal ein regelrechtes Rennen in die jeweiligen Media-Marktes erfolgt und sich aktuell Trump/Vance und Harris/Walz – Flugzeuge binnen Stunden folgen – oder sich sogar auf dem gleichen Flughafen begegnen – während Tim Walz gerade startet und JD Vance landet.

Je näher der Wahltag rückt, desto irrer wird es. Denn jetzt heißt es für die jeweilige Kampagne: Time is runnig out – money is running out. Wohin gehen wir noch? Wo haben wir noch eine Chance? Schicke ich meinen Kandidaten lieber nach PA oder WI? 

Manchmal sieht man einer Kampagne auch ihre Verzweiflung an der Planung der letzten Tage an. Wenn George W. Bush etwa 1992 noch nach Florida muss, weil er sich nicht sicher sein kann, den eigentlich sicheren Staat zu gewinnen (er gewann ihn mit 1,8% Vorsprung), kann er nicht noch nach PA oder Ohio. Wenn Barack Obama als prominentester Surrogate-Speaker (Ersatzredner) der (Hillary-) Clinton/Kaine Kampagne 2016 kurz vor dem Wahltag noch in New-Hampshire (4 Wahlmänner) auftaucht, weiß man, dass die Hütte brennt.

Die Routen werden nach aktuellen Umfragen noch korrigiert, so dass manchmal Events in letzter Minute abgesagt und andernorts anberaumt werden. Dann stehen halt ein paar hundert Leute im dekorierten Hangar und es kommt keiner – zumindest keiner den man sehen wollte. Sondern im Zweifel der Gouverneur oder Senator vor Ort, der schnell einspringen muss.

Dass Wahlkampf Chefsache ist, bewies Bill Clinton, der am 2. November 1992 dem letzten Tag vor der Wahl noch 9 Wahlkampfauftritte in 9 Bundesstaaten bestritt – und zwar von Nord nach Süd u.a. mit Pennsylvania, Ohio, Michigan, Missouri, Kentucky, Arkansas.

Umstritten in seinem Team war ein Stop in Paducah, Kentucky (27.000 Einwohner). Bill Clinton dazu: „My staff didn’t want me to go there because ist is not a big media market. And I said: You don’t understand. We get Kentucky and it touches southern Illinois, Tennessee, Indiana, even Missouri…so we have a multi-state-impact right here.“ Und so kam es auch. Die Übertragungswagen kamen aus allen genannten Staaten. (Siehe „ABC Nightline oben). Ich fürchte dazu gibt es noch so viel zu sagen, dass ich das in Part 3 packen muss.

Da ich in der zentralen Rednereinsatzplanung der Clinton/Gore Kampagne arbeitete, anbei ein Screenshot aus dem täglichen Plane-Schedule der Kampagne (Yes – it’s a fax!). Wir sehen hier sehr schön, wie die Flugzeuge von Bill Clinton (BC) und Al Gore (AG) sowie das Presse-Flugzeug koordiniert werden. BC startet zuerst, gefolgt von AG, dann hat die Presse ihre Bilder der abfliegenden Kandidaten gemacht und kann zu Ihrem Flieger rennen, der als letzter startet. In der Luft überholt das Presseflugzeug die anderen, landet zuerst und die Presse kann aus dem Flugzeug rennen, um die ankommenden Kandidaten zu filmen…and so on.

If it’s not on air – it didn’t happen. Was nicht gesendet wird, hat nicht stattgefunden (kann man sich also sparen). Alter Campaigner-Spruch.

That’s all. Thank you for your attention.

Fun Facts zur US Wahl (Part 1)


Campaign Media-Spending USA vs. Deutschland.

Für die Clinton/Gore Kampagne 1992 war ich Mitarbeiter im National Speakers Bureau, also der zentralen Rednereinsatzplanung. Seither bestreite ich ununterbrochen Wahlkämpfe. Aus aktuellem Anlass möchte ich an dieser Stelle in loser Folge auf Eigentümlichkeiten einer US-Kampagne hinweisen. Manche kennen sie, für manche mögen sie neu sein. Und da ich gerade eine alte Fotokiste gefunden habe, unterstreiche ich meine Fun Facts mit einem blast from the past: Privaten und häufig schlechten Bildern aus Clinton/Gore 1992. Enjoy.

Campaign Media-Spending USA vs. Deutschland.

In den USA leben rund 335 Mio. Menschen. Aber für die aktuelle US-Präsidentschaftskampagne sind nur die Bundesstaaten Pennsylvania (13 Mio.), Wisconsin (5,9 Mio.), Arizona (7,5 Mio.), Nevada (3,2 Mio.) Georgia (11 Mio.), Michigan (10 Mio.) und North Carolina (10,7 Mio.) relevant. In allen anderen Bundesstaaten führt eines der beiden Teams so deutlich, dass sich ein relevanter Mitteleinsatz nicht lohnt. Letztendlich muss jedes Team auf mindestens 270 Wahlmänner kommen und diese werden in den einzelnen Bundesstaaten nach dem „The Winner Takes all -Prinzip“ vergeben.

Insgesamt wohnen in den Battleground-States also 61 Mio. Menschen – rund 22 Mio. weniger als in Deutschland.

Die Wahl 2020 wurde zum Beispiel in Arizona mit einem Vorsprung von 0,3% oder 10.457 Stimmen für Biden/Harris entschieden, in Georgia waren es 0,2% oder 11.779 Stimmen.

Im Jahr 2020 gaben die beiden Präsidentschaftskampagnen (also ohne Kongress- und andere Wahlen) insgesamt über 6,6 Milliarden USD aus, von denen nahezu alles in die wenigen umkämpften Staaten floss.

Und heute? Nach einer aktuellen Übersicht von CNN flossen alleine in den vier Wochen 21.7.2024 bis 18.8.2024 folgende Media-Spendings (also nur die gekaufte Werbezeit):

Pennsylvania: Harris/Walz: 33,2 Mio : Trump/Vance: 34,8 Mio
Georgia: 11,7 : 19,6 Mio.$
Michigan: 19,2 : 15,9 Mio.$
Arizona: 8,1 : 13,1 Mio.$
North Carolina: 4,2 : 7,1 Mio.$
Nevada: 3,8 : 4,7 Mio. $

Für einen Bundestagswahlkampf stehen den großen Parteien in Deutschland zwischen 15-25 Mio. EUR zur Verfügung. Und zwar inklusive allem – also auch dem Veranstaltungsmanagement etc.

Damit bekommt man immerhin gut vier Wochen Michigan.

That’s all. Thank you for your attention.

Die Ostalgiefalle.

Eine kleine Reise durch ein mysteriöses Land, in dem es bei Softeis und Broiler immer mehr Opfer gibt – einschließlich der Demokratie.

Vor wenigen Tagen fuhr ich durch das schöne nordöstliche Brandenburg und wurde von mehreren handgefertigten Hinweisschildern am Wegesrand auf leckeres „Original-DDR-Softeis“ und „Original-DDR-Kuchen“ aufmerksam gemacht. Erst zweihundert, dann einhundert, dann nur noch fünfzig Meter, dann rechts. Etwas in Eile musste ich auf diese Leckerbissen leider verzichten, stellte mir aber dennoch vor, wie ich etwa im schönen Westerwald auf Werbetafeln reagieren würde, die „Original-Drittes-Reich-Schnittchen“ anpriesen. Vermutlich verstört. In diesem gedanklichen Umfeld fiel es schon gar nicht mehr auf, dass ich laut Wahlplakaten in genau diesem Landstrich schon Ende September den sofortigen und vollumfänglichen Weltfrieden wählen konnte. Der ja bekanntlich schon immer von deutschem Boden ausging.

Ich hielt also nicht an, um den vermutlich sehr leckeren Kalten Hund zu genießen, sondern folgte dem Motto eines weiteren Plakats, das mich zur sofortigen „Remigration“, und zwar nicht irgendwann, sondern „jetzt“, aufforderte. Stets gehorsam steuerte ich mein sowieso unerwünschtes Elektromobil umgehend gen Westen und gewann damit Zeit genug, um darüber zu sinnieren, was in den letzten 35 Jahren eigentlich so vor sich gegangen war, um in dieser Gegenwart zu landen.

Seit 35 Jahren mache ich Wahlkämpfe, und einer meiner ersten bezahlten Jobs in diesem entspannten Metier führte mich im Januar 1990 nach Ostberlin, die Hauptstadt der DDR. Die erste (und auch letzte) freie Wahl zur Volkskammer der DDR im März 1990 stand bevor, und man hatte in der DDR sicher viele Dinge fürs Leben lernen können, aber Wahlkämpfe mit echter Konkurrenz und tatsächlich zählenden Stimmzetteln in versiegelten Urnen gehörten nicht dazu. Jetzt, wo sich diese Wahl bald zum 35. Mal jährt, ist vielleicht kein schlechter Zeitpunkt, um ein paar Gedanken zum Stand der Demokratie loszuwerden.

Es ist offensichtlich, dass nicht unerhebliche Teile der verbliebenen Bevölkerung des Ostens (12,6 Mio. ohne Berlin) in einer gefährlichen Nostalgiefalle feststecken, die sie nur immer weiter von dem entfernt, was man unter einer guten Gegenwart, einer guten Zukunft und tendenziell guter Laune versteht. In Verbindung mit der seit vielen Jahrzehnten von der jeweils aktuellen SED-PDS-Links-BSW-AfD-Ostalgiepartei gepflegten permanenten Opferrolle entsteht eine vermeintliche Ohnmachtssituation, die der faktischen Wirklichkeit, der Selbstbestätigung durch die Anerkennung der tatsächlich selbst geschaffenen Erfolge und vor allem jeglicher Lösungsoption diametral entgegensteht.

Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem aus Sicht breiter Bevölkerungsschichten Ostdeutschlands „der Westen“ an nahezu allem Unheil Schuld trägt – auch an Putin. Scheinbar fällt es vielen Menschen schwer zu glauben, dass sie bzw. ihre Eltern schlicht das Pech hatten, im falschen Sektor Restdeutschlands gelandet zu sein. Schuld am Krieg überhaupt hatte ganz Deutschland. Die Ostdeutschen traf nicht mehr und nicht weniger Schuld als die Westdeutschen, die durch Zufall in einem der anderen drei Sektoren gelandet waren. Auf der Strecke hatte Westdeutschland einfach die deutlich clevereren Besatzer, die sich mit dem zerbombten Haufen Schrott und Nazis, den sie da an der Backe hatten, wenigstens langfristig einen Demokratie- und selbstredend auch Handelspartner und Absatzmarkt schaffen wollten. Hat geklappt. So war das halt und ist nachträglich auch nicht zu ändern.

Es gab und gibt im Westen aber nicht nur Gewinner und im Osten nicht nur Verlierer. Kurios, dass man das überhaupt erwähnen muss. Weder vor noch nach der Wende ist entgegen weitverbreiteter Mythen auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik Geld vom Himmel gefallen. Und auch dort haben sehr viele Menschen ihre eigenen Probleme, leiden viele Landstriche an Landflucht, gibt es auch entvölkerte Dörfer, mangelhafte Infrastruktur, rückständige Digitalisierung, marode Schulen – und ja – es gibt sogar Menschen, die nichts erben oder nur Schulden. Was heute in den westlichen Ländern steht, ist nicht von selbst „auferstanden aus Ruinen“, sondern das Ergebnis sehr hart arbeitender Menschen. Ebenso wie die massiven Transferleistungen bis zum heutigen Tag, über die sich im Westen übrigens kaum jemand je beschwert hat.

Und dennoch lebt der Mythos fort, zu kurz gekommen zu sein. Im Vergleich zu wem? Und unterrepräsentiert auf allen möglichen Ebenen. Im Vergleich zu wem? Im Vergleich zu „den Westdeutschen“ im Allgemeinen? Alleine diese Rechenart ist ja schon entlarvend. Wer zählt denn in den alten Bundesländern die Vorstandsvorsitzenden aus Schleswig-Holstein? Sind die Rheinland-Pfälzer gemäß ihres Bevölkerungsanteils ausreichend in universitären Führungspositionen vertreten? Wie stark sind die Deutschen mit Migrationshintergrund in Führungspositionen repräsentiert? Diese gut 12 Millionen Mitbürger sind ja zahlenmäßig fast ebenso viele wie die in ostdeutschen Ländern lebenden. Die Bundesrepublik hatte schon einen ostdeutschen Bundespräsidenten und sechzehn Jahre lang eine ostdeutsche Bundeskanzlerin, die aber beide nicht zählen, weil sie sich – zu Recht – nicht als Opfer sehen wollten, sondern als Deutsche.

Es gibt nirgendwo auf der Welt einen Anspruch darauf, dass einem das gute Leben dort serviert wird, wo man gerade sitzt und wartet. Für junge Menschen gab und gibt es schon immer zwei Möglichkeiten: Entweder man schafft sich vor Ort ein gutes Leben mit Ideen und Tatkraft, oder man geht dorthin, wo es eine bessere Zukunft gibt. Junge Leute gehen auch fort, weil sie es wollen. Weil sie in der Stadt leben möchten oder in anderen Ländern, weil sie bessere Perspektiven für sich und ihre Lieben sehen und nicht sonderlich an ihrer Heimat hängen. Weil es ihnen in der Kleinstadt einfach zu piefig ist, zu konservativ oder zu rechts. Aber im Osten gehen junge Erwachsene angeblich nur fort, weil sie müssen. Alles – selbst der Aufstieg an anderen Orten als dem Geburtsort – wird in die Opfererzählung übersetzt.

Die bisherige Antwort der Regierenden aus Ost und West lief immer nach dem gleichen Schema ab: “We feel your pain. Ihr habt mehr Respekt verdient. Der Bundespräsident kommt jetzt auch mehrfach zur Therapiesitzung vorbei,” etc. Aber für viele Empfänger bestätigte das nur ihre Sicht der Dinge, dass der Westen ihnen alles kaputtgemacht hat – und es jetzt auch noch zugibt. Vielleicht müsste die Antwort eher lauten: “Get over it and get a life.”

Je mehr gelitten wurde, desto mehr Geld kam, und die Formel des Tages lautet: Je mehr Nazis, desto Chipfabrik. Das rätselhafte Ostleiden darf auch nur von gebürtigen Ostdeutschen analysiert und ggf. sogar kritisiert werden, da allen anderen Deutschen auch nach über drei Jahrzehnten im gleichen Staat keinerlei Meinung erlaubt ist – vermutlich aus Gründen der Cultural Appropriation. Das war den meisten Westdeutschen bisher auch relativ egal, da sie im Gegensatz zur häufig verbreiteten Legende nicht den ganzen Tag über den Osten lästern. Der Osten ist den meisten Westdeutschen ebenso egal wie Hessen oder Niedersachsen, wenn sie nicht gerade in Hessen oder Niedersachsen wohnen.

Jetzt jedoch haben wir einen Punkt erreicht, an dem aus dem Osten eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Demokratie in ganz Deutschland ausgeht. Denn der Osten und sein nahezu von allen – von ganz links bis ganz rechts und vielen dazwischen – befeuerter Opfermythos ist der ideale Nährboden für den Rechtspopulismus, wie wir ihn auch aus anderen Regionen der kleiner werdenden demokratischen Gemeinschaft kennen. In Kombination mit den nicht gefestigten demokratischen Strukturen und dem mit hoher Wirkkraft vorangegangenen Beschuss der unabhängigen Medien und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sorgt der Medienwandel für den Wegfall des Korrektivs einer funktionierenden freien Presse.

Lange konnte man sich damit trösten, dass doch immerhin 60-70-80% je nach Bundesland am Ende doch „demokratisch“ wählen. Aber von Wahl zu Wahl nimmt dieser Anteil ab. Und eine Partei wie das extrem unseriös argumentierende und auch finanzierte BSW durchbricht diese Regel eben nicht, sondern bestätigt sie.

Die zentrale Frage, die sich heute stellt, ist: Wie stabilisieren wir jetzt eigentlich diejenigen, die sich weder in DDR-Nostalgie, Faschismus noch nationalem Sozialismus wiederfinden? Die in den ostdeutschen Landesteilen ein gutes, normales, zufriedenes und auch glückliches Leben führen und lieber nach Griechenland reisen als zur Wolfsschanze?

Eine entscheidende Rolle kommt dabei denjenigen zu, die tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland angekommen sind – oder gar schon in ihr geboren wurden. Betrachtenswert ist ja, dass die Generation, die 1989/90 in der Mitte des Lebens stand und auch durch die Umbrüche der Nachwendezeit am stärksten geprägt wurde – also die damals 35- bis 50-Jährigen – heute 70 bis 85 Jahre zählt und längst in Rente oder bereits verstorben ist. Wer zur Wendezeit 15 Jahre alt war, ist heute 50 und hat nicht nur den Zusammenbruch, sondern eben auch massiven Aufschwung und viele neue Freiheiten erlebt – und häufig auch genossen. Und jetzt nähern wir uns der Zeit, in der es die DDR bald länger nicht mehr gibt, als es sie gab.

Solange der ewige Opfermythos auch noch von Generation zu Generation weitergetragen wird, wird sich nichts zum Besseren wenden. Und solange alle Probleme in den ostdeutschen Ländern mit dem Opfermythos erklärt werden, wird das Gift des Neids sich weiter ausbreiten. Für viele der immer wieder aufgeführten Probleme (Landflucht, geringe Industriedichte, zu wenige Universitäten, kaum größere Städte/Ballungsgebiete etc.) lassen sich vielfältige Erklärungen finden, die mit dem ostdeutschen Spezifikum wenig oder gar nichts zu tun haben.

Aber solange alles in die Opfer-Rahmenerzählung gequetscht wird – und was nicht passt, wird passend gemacht – kann es keine gute Zukunft geben. Die Befreiung des Ostens aus dem Opfermythos muss aus der Mitte der ostdeutschen Gesellschaft kommen.

Die Heilung des Ostens ist nicht delegierbar.