Auf den Kanzler kommt es an. Oder?

Die fröhliche Achterbahnfahrt der Umfragewerte setzt sich auch noch fünf Wochen vor dem Wahltag munter fort und es entspannt sich eine Debatte darüber, wie sehr denn Personen die Wahl beeinflussen oder aber am Ende doch die politische Grundüberzeugung den Ausschlag gibt. Nun, das ist eine sehr gute Frage Euer Ehren…

Am 12. April 2021 – noch vor den Nominierungen von Armin Laschet und Annalena Baerbock als Kanzlerkandidaten ihrer Partei – entwarfen wir an dieser Stelle ein Szenario für eine Renaissance von Olaf Scholz und der SPD:

„Die Union stichelt sich gegenseitig bis zum Wahltag weiter, Söder und Laschet pflegen ihren Hass ungefiltert und werfen sich gegenseitig Stöcke zwischen die Beine, die Ost-CDU versinkt weiter im braunen Sumpf und Baerbock/Habeck reden sich bei den Grünen um Kopf und Kragen.

In diesem Fall – und er ist nicht ausgeschlossen – kann Olaf Scholz das machen, was er am besten kann: Olaf Scholz sein. Seriös, ernsthaft, erfahren, stabilisierend und nach wie vor sehr beliebt aus Sicht der Wählerinnen und Wähler.

Olaf Scholz notiert seit Jahren stabil im oberen Drittel der beliebtesten Politiker Deutschlands. Er hat zwei Landtagswahlen fulminant gewonnen und Regierungserfahrung wie kein zweiter. Er kann Ende September der richtige Mann zur richtigen Zeit sein, auch wenn es jetzt im April das unwahrscheinlichste Szenario ist.“

Seither ist einiges geschehen und man muss schon sagen: Das Ausmaß an Dilettantismus der Laschet- und Baerbock-Kampagnen raubt einem den Atem, während die Scholz-Kampagne – von einer überflüssigen Episode abgesehen – reibungslos und vor allem konfliktfrei läuft.

Nun zeichnet volatile Umfragen vor allem eines aus: ihre Volatilität. Und so zäh wie sich die SPD Punkt für Punkt an die 20er-Marke heranrobbt, so schnell kann es auch wieder runtergehen. Aber vieles spricht dafür, dass CDU/CSU und Grüne die größeren Probleme vor sich haben.

Viele Erfahrungswerte der Vergangenheit zählen bei dieser Wahl nicht, da es eine solche Wahl in der Vergangenheit noch nicht gab.

Aber der Reihe nach.

Das Besondere dieser Wahl.

Hier ein paar bekannte Fakten: Zum ersten Mal in der Geschichte tritt ein:e Amtsinhaber:in nicht mehr an. Es gibt also niemanden an dem man sich abarbeiten kann. Das war noch nie da. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte, aber zum zweiten Mal gibt es drei Kanzlerkandidat:innen. Guido Westerwelle hatte sich zwar 2002 auch so bezeichnet (FDP: 7,4%), aber jetzt kommt drittens: Zum ersten Mal in der Geschichte liegen 5 Wochen vor der Wahl drei Parteien tatsächlich innerhalb der Fehlertoleranz von 3% im Rennen um Platz 1 (siehe Kantar/Emnid vom 11.8.21: CDU 22%, Grüne 21%, SPD 19%).

Die Forschungsgruppe Wahlen bildet in Ihrer Projektion vom 13.8.21 das Rennen der drei noch nicht so eng ab (CDU 26%, SPD 19%, Grüne 19%), aber in der politischen Stimmung schon: CDU 26%, SPD 25%, Grüne 21%.

Zu den außergewöhnlichen Faktoren zählen natürlich außerdem die Covid-19 Umstände mit dem besonderen Fokus der Bevölkerung auf politisches und staatliches Handeln (oder dessen Ausbleiben) sowie die Hochwasserkatastrophe in Deutschland und die Hitzewelle mit massiven Waldbränden in Europa und eigentlich der ganzen Welt. Da eine breite Mehrheit in Bevölkerung und Wissenschaft letztere Entwicklung in Zusammenhang mit dem Klimawandel bringt, ist das natürlich ein Vorteil für die Grünen, die dieses Thema klar besetzen.

Zwei Unbekannte, ein Vize-Amtsinhaber und viel Konsens.

In der generell schon unübersichtlichen Weltlage und inmitten massiver Transformationsprozesse suchen die Deutschen nun eine neue Führung. Und je orientierungsloser die Menschen sind, desto mehr suchen sie nach einem Leuchtturm, der ihnen den Weg weist und einen sicheren Hafen verspricht. Hier kommt der menschliche Faktor ins Spiel. Denn am Ende sind Menschen der Transmissionsriemen zwischen einer immer komplizierter werden politischen Welt und den Wählerinnen und Wählern.

Natürlich gibt es auch längerfristige Grundüberzeugungen bei vielen – aber gleichzeitig gibt es auch keine unüberwindbaren Konflikte mehr zwischen den Parteiprogrammen. Wenn Angela Merkel sich am Ende Ihrer 16-Jährigen Amtszeit über eine Zustimmungsrate von 83% freuen kann („macht Ihre Arbeit gut“ FGW Politbarometer Juli I, KW28), dann zeigt das bereits, wie gering unsere Gesellschaft polarisiert ist. Letztendlich sind alle Wählerinnen und Wähler und die Anhänger aller Parteien mit Ausnahme der AfD für diesen generellen Konsens in unserer Gesellschaft. Diese Stabilität zieht sich auch durch die großen politischen Fragen unserer Zeit und wird so von den Parteien auch gespiegelt.

Der Grundkonsens: zumindest in ihrer Programmatik bekennen sich alle Parteien außer der AfD zur Bekämpfung eines von Menschen gemachten Klimawandels, zur sozialen Marktwirtschaft,  zu einer weltoffenen Gesellschaft (außer CDU-Ost und AfD), zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk (außer CDU-Ost und AfD) und natürlich zur demokratischen freiheitlichen Grundordnung (außer AfD).

Es gibt also viel Konsens zwischen den Parteien und der Bevölkerung. Am Ende geht es um Details. Wir erinnern uns an semantisch ähnliche Begriffe wie „Mindestlohn“ oder „Lohnuntergrenze“, die faktisch etwas anderes bedeuten, aber dennoch die gleiche Richtung suggerieren. Kurzum: Die große Polarisierung findet in unserem Land jenseits von Twitter und der BILD nicht statt und dafür sollten wir jeden Tag dankbar sein.

Und nun zurück zum Wahlkampf:

CDU, CSU, Grüne, SPD und in weiten Teilen sogar FDP und Linke bewegen sich innerhalb eines politischen Grundkonsens. Aus diesem gesellschaftlichen Konsens schert nur die AfD aus und wird dabei immer wahnsinniger, weil sie immer wahnsinniger werden muss, um die letzten verbliebenen Wahnsinnigen noch zu erreichen. Denn diese sind in ihrem Wahnsinn schon so weit fortgeschritten, dass sie das Wählen – und vor allem das Briefwählen nicht mehr beherrschen. Erst recht nicht, seit sich herumgesprochen hat, dass die Briefwahlunterlagen einen Nano-Mikro-Gates-Chip enthalten, der sich automatisch bei Berührung implantiert. Das ist ein Insider-Wissen, das ich hier nicht preisgeben sollte und es daher im Fließtext verstecke.

Wo waren wir? Ach ja: Werden politische Unterschiede nicht mehr massiv wahrgenommen, rücken die Personen natürlich umso mehr in den Fokus.

Wie stark ist also der Faktor Mensch/Kanzlerkandidat?

Das lässt sich nicht genau beziffern, aber er ist beträchtlich und nimmt aus meiner Erfahrung eher zu. Aus Landtagswahlen kennen wir das Phänomen schon länger und dort liegen uns auch Daten vor. Damit meine ich nicht die Antworten auf die Frage „Wählen Sie eher die Person oder anhand von Themen?“. Auf diese Frage bekommt niemand eine vernünftige Antwort, da sich in Deutschland ein Konsens durchgesetzt hat, dass man seine Wahlentscheidung natürlich rational und auf Basis von Themen trifft. Das ist natürlich Bullshit. Es gibt nicht einen einzigen rationalen Wähler. Das geht rein technisch nicht. Wir sind Menschen und werden immer einen Weg finden, unsere eigene Ratio zu überlisten.

Was wir deutlich sehen – zum Beispiel zuletzt im März in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg ist, dass Wählerinnen und Wähler bewusst andere politische Parteien wählen als sonst, weil ihnen Malu Dreyer (SPD) oder Winfried Kretschmann (Grüne) wesentlich wichtiger waren als ihre Parteipräferenz. Die SPD in Rheinland-Pfalz lag bei allen Bundestagswahlen der letzten Jahre und auch kommunal deutlich unterhalb der 35,7% vom 14. März 2021 und hinter der CDU.

Bei Olaf Scholz konnten wir bei seinen beiden höchst erfolgreichen Wahlkämpfen in Hamburg 2011 und 2015 ähnliche Effekte sehen. Um 2015 auf die 45,6% vom Wahltag zu kommen, musste Olaf Scholz über seine Person rund 10% mehr Wähler:innen ziehen, als die SPD im Mai 2014 bei den Kommunalwahlen erreichen konnte (35,2%). Das gelang allerdings dann auch bei einer Direktwahlquote von 70% (FGW 15.2.2015).

Der Stand zur BTW 21 Mitte August.

Bei Kantar/Emnid liegen SPD, Grüne und CDU/CSU in Schlagweite der Fehlertoleranz von 3%. Die massive Talfahrt der Union, die Stagnation der Grünen trotz des dominierenden Metathemas Klimaschutz und die Renaissance der SPD haben alle eine einzige Ursache: die Kandidaten.

Armin Laschet war vielen Menschen außerhalb von NRW nicht bekannt und die Menschen in NRW halten nicht viel von ihm. (Forsa vom 19.5.2021: CDU 25%, Wahlergebnis vom 14.4.2017: 33% – also 8% runter in 3 Amtsjahren – und das auch noch als Kanzlerkandidat aus NRW). Jetzt lernen ihn auch die Menschen in Deutschland kennen und halten noch weniger von ihm (ARD Deutschlandtrend 5.8.21 Direktwahl Kanzlerkandidat: Laschet 20%, also -8% zum Vormonat).

Armin Laschet hat in den wenigen Wochen seiner Kandidatur die CDU/CSU von 35% Mitte Februar auf 22% Anfang August abgesenkt (Kantar/Emnid). Das ist beachtlich, wenn auch nicht unerreicht. Angela Merkel hatte ihre Partei von 49% im Juni 2005 auf 35% am Wahltag im September 2005 runtergerockt. Zur Wahrheit gehört auch: Es ging von Juni an immer weiter runter für Merkel. In den letzten Umfragen vor der Wahl notierte sie noch bei 41-43%. Im August 2017 notierte die Union noch bei 40% (FGW 11.8.17), heraus kamen 32,9%. Also nochmal minus 7%. Und das war Angela Merkel. Sollte die Union sich also Sorgen machen? Ich denke, das kann nicht schaden.

Annalena Baerbock hat die Chance vertan, ihrer Partei und ihren politischen Anliegen einen Dienst zu erweisen und die Kanzlerkandidatur zurückzugeben. Sie liegt im Politikerranking der Forschungsgruppe Wahlen heute auf dem letzten Platz und als einzige – neben Armin Laschet auf dem vorletzten Platz – im negativen Bereich. Ihre Rettung: Die Grünen werden in jedem Fall ein tolles Ergebnis holen. Alle äußeren Umstände – Flut, Brände, Dürre, Starkregen – sprechen für die Öko-Partei. Weshalb sie ja jetzt auch klar in Führung liegen sollte. Sie tut es nicht weil ihre Kandidatin das verhindert.

Baerbock und Laschet haben außer ihrer Unbeliebtheit eine weitere Gemeinsamkeit: Sie haben vermeintliche bessere Kandidaten im eigenen Lager – die sie auch beide höchstpersönlich verhindert haben. Unionswähler sind nicht nur sauer auf Laschet, weil er kein guter Kandidat ist, sondern weil er ihren Lieblingskandidaten Söder verhindert hat. Das gleiche gilt für Baerbock, die Habeck verhindert hat. Das nehmen ihr viele Grünen Wähler:innen ebenso übel. Im zitierten Politkerranking der Forschungsgruppe Wahlen folgen der unerreichbaren Nummer 1 Merkel, dann Söder, Scholz und Habeck auf den Plätzen 2-4. Wählbar ist davon als Kanzlerkandidat nur Scholz.

Und so sind wir zum Ende dieses langen Blogs bei Scholz. Er lauert mit einem schlumpfigen Lächeln auf dem Gesicht auf die Fehler der anderen und kann geradezu zusehen, wie ihm Laschet und Baerbock die irritierten Wähler:innen zutreiben. Noch nicht in Scharen, aber kontinuierlich.

Wie erwähnt, muss er schon deutlich über seiner Partei liegen, damit sich das auf deren Konto zeigt, aber das tut es. Und er auch. Denn er baut seinen Direktwahlvorsprung ständig aus. Er ist der Vize-Kanzler und damit am nächsten zu einem Amtsinhaberbonus. Die SPD, das muss man immer wieder betonen – ist bei den Wähler:innen nicht per se in Misskredit. Sie hat ihnen auf Bundesebene aber in den letzten Jahren kein attraktives Angebot unterbreitet. Die SPD wird nach wie vor als „eine Partei, die ich grundsätzlich wählen könnte“ von rund 35% der WählerInnen genannt. Sie braucht davon aber nur um die 22-23%. Das ist machbar. Und Stand heute ist sogar der 1. Platz wieder drin. Denn je näher der Wahltag rückt, desto verzweifelter werden die Unionswähler:innen aber auch manche bei den Grünen, die mit Laschet und Baerbock einfach nicht klarkommen.

Der Weg von Merkel-Wähler:innen zu Olaf Scholz ist kein weiter. Das ist machbar. Außerdem könnten wir eine Demobilisierung der UnionswählerInnen erleben und ein Abdriften dieser zu FDP und Freien Wählern. Zur Erinnerung: Die Freien Wähler sitzen seit März im Landtag von Rheinland-Pfalz aufgrund der Schwäche der dortigen CDU. Die starken Werte der FDP sind auch nur durch die fehlende Bindungskraft Laschets zu erklären. Bei einem Kandidaten Söder wäre die FDP einstellig.

Ja, so sieht es aus, liebe Leute.

Schließen wir in diesen unruhigen Zeiten doch mit einem Bekenntnis zur Klarheit. Aus Hamburg 2011. Und Grüße!

OS_Klarheit

Fotograf: Domink Butzmann, Agentur: BUTTER.

So wird Robert Habeck Bundeskanzler.

Obwohl viele diese Bundestagswahl bereits abgehakt haben, gibt es einen plausiblen Weg für die Grünen, diese Wahl zu gewinnen. Sie müssten es nur wollen. Und das ist die eigentliche Frage: Wollen sie es überhaupt?

Die Bundestagswahl 2021 hatte bis vor wenigen Tagen kein Thema, jetzt hat sie eines. Es ist ein Überthema, eine massive Intervention, ein Game-Changer wie wir ihn selten so nah vor Wahlen erleben. Die Toten der vergangenen Tage werden die deutsche Politik auf Jahre prägen und verändern und das ist auch das mindeste, was diese Gesellschaft ihnen schuldig ist.

Die Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 führte zu einer 180° Wende in der deutschen Energiepolitik. Es war „der eine Tag“, der Angela Merkel veranlasst hat, ihre kurz zuvor vollzogene 180° Wende wieder rückgängig zu machen und am Ende genau dort zu landen, wo die Rot/Grüne Bundesregierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder bereits Jahre zuvor angekommen war: Beim Atomausstieg. Nur schneller. Fehler erkannt, Fehler korrigiert. Armin Laschet sieht heute keine Veranlassung, nur Aufgrund der Ereignisse eines Tages seine rückständige Umweltpolitik zu ändern. Merkel tat es. Was einmal mehr beweist, in welch intellektueller Kreisklasse Laschet im Vergleich zur Weltpolitikerin Merkel boxt.

Heute erleben wir keine ferne Reaktorkatastrophe an Japans Küste, sondern dutzendfachen, vermutlich hundertfachen Tod und massive Zerstörung mitten in unserem Land. Und der Sommer ist noch jung. In den nächsten Wochen werden wir alle bei einsetzendem stärkerem Regen zusammenzucken und uns fragen: Hört das wieder auf – oder bleibt das 12, 24, 36 Stunden so? Die verheerenden Folgen des Klimawandels sind endgültig bei uns angekommen und nur noch ideologische verblendete Vollpfosten oder skrupellose Lobbyisten leugnen das.

Selbstredend ist dieses Ereignis das Thema für die Grünen. Keine Partei genießt auf irgendeinem Feld höhere Kompetenzwerte als Die Grünen bei Umwelt- und Klimaschutz. Gleichzeitig wird das Thema in den nächsten Tagen die Corona-Krise von Platz eins der wichtigsten Themen, die die Deutschen bewegen, verdrängen.

Schauen wir einmal auf die Zahlen von Deutschlands bestem Meinungsforschungsinstitut, der Forschungsgruppe Wahlen (FGW), die im Auftrag des ZDF seit Jahrzehnten ihre Erhebungen veröffentlicht. Dort standen die Grünen am 7. Mai 2021 bei 26%, die Union bei 25%. In der ungewichteten „Politischen Stimmung“ kamen die Grünen gar auf 32%. In der Beurteilung der 10 wichtigsten Politiker*innen lag Annalena Baerbock mit 1,0 auf dem 7. Platz, allerdings sehr nah an Scholz (1,0), Habeck (1,2) und Söder (1,3). Abgeschlagen folgten Spahn (0,3), Laschet (0,2) und mit der gelben Laterne Lindner (0,0). Thematisch dominierte Corona (74%) vor Umwelt/Klima (26%).

Springen wir auf die jüngsten Zahlen der FGW aus der KW28, veröffentlicht am 16.7.2021, erhoben vom 13.-15.7.2021 – also bevor die Katastrophe Einfluss nehmen konnte. Die Grünen standen bei 20% (politische Stimmung: 22%), die Union bei 30% (Stimmung: 36%). Thematisch lag Corona bei 50%, Umwelt/Klima bereits bei 34%. Im Ranking der 10 wichtigsten Politiker*innen belegte Annalena Baerbock nun zum zweiten Mal in Folge den letzten Platz (-0,5) hinter Lindner (0,2) und Spahn (0,2). Laschet steht bei schwachen 0,5 und Scholz bei 1,0. Falls jemand fragt: Ja, oben thront seit Monaten als einzige mit einer 2 vor dem Komma die Kanzlerin.

Nähern wir uns der Überschrift dieses Beitrages.

Die Grünen waren schon einmal der Union auf den Fersen oder gar knapp vor ihr und das nicht irgendwann, sondern noch im Mai. Dann wurde Annalena Baerbock medial getestet und ist durchgefallen. Baerbock ist heute ein Klotz am Bein der Grünen-Kampagne. Sie zieht die Grünen massiv nach unten und wird das weiter tun. Bleibt Baerbock Kanzlerkandidatin der Grünen, werden deren Werte zwar in Folge der Katastrophe steigen, aber je näher wir dann ab Ende August der Bundestagswahl im September kommen, auch wieder fallen. Weil man Baerbock das Kanzleramt nicht zutraut. Das wird so bleiben. Der Schaden ist innerhalb von acht Wochen nicht zu reparieren.

Wie können die Grünen jetzt das Blatt noch wenden? Nun, diese Katastrophe und die damit verbundene politische Disruption eröffnet der Partei ein kurzes Zeitfenster, um sich neu aufzustellen und zu sortieren. Kann Habeck die Grünen auf Platz 1 führen? Ja, er ist zwar bis dato auch kein Mega-Zugpferd (0,8; Platz 5), aber vor allem ist er kein Bremsklotz am Bein der Grünen. Wer die Bilder seines Wahlkampfauftaktes im Norden gesehen hat, weiß: Das ist der einzige Politiker im Feld, der überhaupt etwas wie Aufbruchstimmung verbreiten kann. Ist er fehleranfällig? Auf jeden Fall! Aber er ist länger im Geschäft, erfahrener und schlicht und ergreifend interessanter als Baerbock.

Würde man den Grünen diesen Wechsel verzeihen? Nun, die Wähler*innen der Grünen sollten diesen Wechsel nicht nur verzeihen, sondern herbeisehnen. Baerbock verhindert mit ihrer gescheiterten Kandidatur den Erfolg der Grünen und damit mehr Klimaschutz, mehr Tierschutz, mehr Umweltschutz. Das ist die Lage und nur die Grünen können sie ändern. Genauer: Nur Baerbock kann das ändern. Dafür braucht es Größe und Verzicht.

Es geht um die historisch einmalige Chance für die Grünen auf das Kanzleramt und Baerbock steht im Weg. Ist das alles gerecht? Weiß ich nicht. Ungerecht ist es jedenfalls nicht. Eine Garantie für den Erfolg ist Habeck auch nicht, aber der Ticket-Wechsel ist die einzige Chance.

Zeitlicher Ablauf:

Dieser Wahlkampf kann noch enormes Momentum für die Grünen entfachen. Das Thema Klimawandel/Umwelt wird stark und entscheidend. Wann wäre dann der beste Zeitpunkt?

Der Fokus in den nächsten zwei Wochen wird sich auf Laschet als Frontrunner richten und er wird dabei nicht gut aussehen. Weder politisch noch sonst irgendwie. Weil er das gar nicht kann. Da sollte man nicht stören.

Ein Rückzug Baerbocks zur Mitte der ersten Augustwoche wäre die zweite große Disruption für die Grünen und würde massive mediale Aufmerksamkeit auf Habeck lenken. Alle Karten würden neu gemischt. Für die Plakate der dritten Welle ist das noch ausreichend und ein Kanzlerkandidatinnen-Plakat für Baerbock gibt es bis dato sowieso noch nicht. Alles käme außerdem rechtzeitig zu Beginn der wichtigen Briefwahl.

Die anderen Parteien können nicht mehr reagieren und Habeck hat wenig Zeit, um Fehler zu machen. Habeck wäre der einzige Kandidat mit der Chance, den Wahlkampf noch elektrisieren zu können. Sehr viele Wählerinnen und Wähler sind noch unentschlossen und empfänglich.

Vor allem aber – und das unterscheidet ihn von anderen Ad-hoc Kandidaten der Vergangenheit: Er ist vorbereitet. Er hat sich seit Jahren darauf vorbereitet. Er ist bereit.

Das ist der Weg für Robert Habeck und die Grünen ins Kanzleramt.
Werden sie es versemmeln?
Wahrscheinlich.

Der Game Changer dieser Wahl ist da und wird sie entscheiden.

Die Hochwasserkatastrophe wird aus Sicht der Wählerinnen und Wähler das zentrale Thema dieses Bundestagswahlkampfes werden und das zurecht. Denn was gerade geschieht ist eine menschengemachte Naturkatastrophe und kann auch nur von Menschen durch politisches Handeln eingedämmt werden. Ein Kandidat ist dafür gänzlich ungeeignet.

Im März 2011 segelte Kurt Beck mit rund 40% in den Umfragen einem sicheren Wahlsieg in Rheinland-Pfalz entgegen. Dann kam am 11. März die Katastrophe von Fukushima und die Grünen schossen von 10 auf 15,4%. Am Ende lag die SPD nur noch 0,5% vor der CDU. Im Nachbarland Baden-Württemberg kam es am selben Wahltag sogar zu einer Sensation: Die CDU wurde krachend abgewählt und ausgerechnet das konservative „Ländle“bekam den ersten Grünen Ministerpräsidenten der Republik. Jetzt stehen wir vor einem neuen, dramatischen Game-Changer. Und die Toten sind nicht irgendwo zu beklagen – sondern mitten in Deutschland.

Armin Laschet hat ein Problem. Während Markus Söder in den letzten zwei Jahren- unter Druck – seinen umweltpolitischen Kurs massiv korrigiert hat, gibt Laschet nach wie vor alles – für Industrie und Braunkohle. Er ist der Prototyp des pirouettendrehenden Pseudo- Umweltschützers wie er im Buche steht. Jeder Satz zum Umweltschutz von Laschet ist Greenwashing aus dem Lehrbuch: Grün reden und dann politisch blockieren wo es nur geht. Das Problem dabei: Es schützt weder die Industrie noch die Braunkohle sondern macht alles nur teurer, schmerzhafter und vor allem – tödlicher. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen steht heute in den Trümmern seiner Umweltpolitik.

Und natürlich ist er dabei nicht alleine. Die Versäumnisse haben viele Mütter und Väter. Die SPD hat sieben lange unfruchtbare Jahre unter Sigmar Gabriel den Umweltschutz vor allem als Gefahr für das Industrieland Deutschland gesehen. Sie hat jetzt die Kurve bekommen und stellt mit Svenja Schulze die bis dato erfolgreichste Umweltministerin der Republik. Viele – selbst einige in der Union – haben heute erkannt, dass der wirtschaftliche Wettbewerb mit China und den USA nicht die alles erschöpfende Ausrede gegen einen harten Kurswechsel in der Umweltpolitik ist. Die Chinesen und Amerikaner sterben genauso im Klimawandel wie die Europäer – sie tun es bereits. Und sie werden im Zweifelsfall schneller umschalten als wir.

Deutschland und Europa müssen jetzt Vorreiter werden, so wie die EU-Kommission das vorschlägt. Nur müssen sie es noch schneller werden. Mit Laschet wird alles langsamer. Peter Altmaier geht selbst das EU-Paket zu weit. Julia Klöckner ist ein umweltpolitischer Totalausfall und ein CDU/CSU Finanzminister wird eher bremsen als fördern. Von Andreas Scheuer als Verkehrsminister ganz zu schweigen.

Grüne und SPD müssen jetzt klar machen: Armin Laschet und die Union sind der Bremsklotz für Deutschlands ökologische Industriepolitik. Die Grünen haben das Problem, dass sie mit Annalena Baerbock eine Person nominiert haben, der man das Kanzleramt nicht zutraut. Die SPD hat das Problem, dass sie einen Kandidaten hat, dem man das Kanzleramt zutraut, aber seiner Partei nicht mehr so viel. Beide haben das Problem, dass die Union beim Kampf von Grünen und SPD um Platz zwei zur Zeit wie der lachende Dritte dasteht. Und dass diesem Wahlkampf bisher ein Thema fehlte.

Das Thema ist jetzt da. Es ist ein zutiefst trauriges Thema. Aber es ist auch eines, das klar macht: Jetzt lohnt es sich politisch für eine neue Richtung zu kämpfen. Für echten Wandel. Nicht für eine Koalition mit der CDU – die zuletzt Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg wieder ins Boot geholt hat, weil es für ihn bequemer war.

Es lohnt sich politisch zu kämpfen für ein modernes, erfolgreiches Deutschland, das modern ist, weil es beweist, dass eine ökologische Industriepolitik und eine ökologische Landwirtschaft wirtschaftlich erfolgreich sein können, zukunftsweisend und im wahrsten Sinne des Wortes lebensrettend.

Es liegt nun an Grünen und SPD, auf unterschiedlichen Wegen zu einem gemeinsamen Ziel zu kommen: Eine Regierung ohne CDU/CSU und vor allem ohne einen Kanzler Laschet, der nur Placebos verteilen wird.

Dieser Wahlkampf wird sich in den kommenden Wochen wieder um Politik drehen. Wer jetzt sagt: „Kein Wahlkampf auf dem Rücken der Toten“, der hat eines nicht verstanden: Diese Toten sind das Ergebnis falscher Politik. Und eine Wahl beeinflusst die Politik von morgen. Ein Wahlkampf ohne Berücksichtigung dieser Frage wäre eine Verhöhnung der Opfer – in Deutschland und der Welt.

Grünen-Kampagne: Hier stimmt etwas nicht.

Infolge meiner Anmerkungen vom 12. Juli im ZDF heute journal zur Kampagnenpräsentation der Grünen haben mich zahlreiche Rückfragen erreicht. Ich beantworte sie einfach in diesem Beitrag öffentlich, dann ist alles gesagt.

Warum stimmt etwas nicht bei der Grünen-Kampagne?

Ich bin so froh, dass Du das fragst, Frank: Nun, zum ersten Mal in ihrer Geschichte benennt die Partei eine Kanzlerkandidatin. Gleichzeitig belastet diese Kandidatin seit Wochen die Kampagne der Grünen und es wird munter spekuliert, ob nicht doch noch ihr Co-Vorsitzender die Kandidatur übernimmt.

Mitten in dieser Gemengelage präsentiert der Bundesgeschäftsführer die ersten beiden Plakatwellen, und es findet sich kein einziges Plakat der Kanzlerkandidatin Baerbock.

Es gibt mehrere Großflächen mit Habeck und Baerbock, Einzelplakate von Baerbock und Habeck, es wurde eine Tour angekündigt von Habeck und später auch von Baerbock.

Aber warum gibt es nicht ein einziges Plakat, auf dem zum Beispiel sinngemäß steht:  „Mehr Umweltschutz ins Kanzleramt: Annalena Baerbock.“ Oder: „Neue Ideen ins Kanzleramt: Annalena Baerbock“ etc.

Ein einziges Plakat hätte gereicht.
Ein einziges Plakat in dieser Richtung hätte alle Fragen beantwortet.
Endgültig. Aber es wurde nicht gemacht.

Daher: Da stimmt etwas nicht.

Die Grünen haben doch Frau Baerbock bereits als Kanzlerkandidatin ausgerufen. Warum sollte ausgerechnet ein Plakat das noch einmal manifestieren?

Das Plakat ist das unflexibelste Medium im Wahlkampf. Besonders die erste Welle der Großflächen hat einen Vorlauf von gut sechs bis acht Wochen. Das ist genau jetzt. Die Großflächen werden gedruckt, trocknen, werden ausgeliefert und dann in großen Hallen schon auf die ersten Sonderstellflächen aufgezogen, damit diese Sonderflächen möglichst rasch innerhalb weniger Tage flächendeckend in Deutschland aufgebaut werden können. Für die erste Welle der Großflächenplakate ist jetzt der „Point of no Return“ erreicht.

Problem: Liefere ich jetzt ein Plakat aus, auf dem explizit Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin bezeichnet wird, dann wird dieses Plakat auch in der Republik hängen.

Sollte sie einen Rückzieher machen, hängt sie trotzdem dort.

Lösung: Wenn ich mir sicher sein will, dass diese Plakate in jedem Fall passen, gebe ich nur Großflächen mit Baerbock und Habeck frei und vermeide in jedem Fall die Bezeichnung „Kanzlerin“, „Kanzlerkandidatin“, „Kanzleramt“.

Habeck und die Grünen dementieren doch, dass noch ein Wechsel stattfindet. Wie soll das dennoch gehen?

Niemand dementiert irgendetwas. „Kokolores“ oder „Dazu ist alles gesagt“ sind keine Dementis. Die Entscheidung kann und wird nur Baerbock treffen, so wie sie auch die erste Entscheidung getroffen hat. Zieht sie „aus persönlichen Gründen“ zurück, dann ist es Habeck.

Und dann?

Dann wird die dritte Welle der Plakate auf den Kanzlerkandidaten Habeck zugeschnitten. Dafür ist noch ausreichend Zeit, denn die letzte Plakatwelle hängt erst in den letzten 14 Tagen vor der Wahl. Sie wird also um den 10. September herum plakatiert. Dann stehen die Flächen auch schon überall im Land und es wird von mobilen Teams umplakatiert, was rascher geht als in der ersten Welle. Druckunterlagenschluss ist dann ungefähr Mitte August.

Warum würde ein Profi wie Bundesgeschäftsführer Kellner nicht einfach den Deckel drauf machen und dieses blöde Plakat einfach zeigen?

Weil er nicht durfte. Vermutlich hat sich Baerbock Bedenkzeit in ihrem Urlaub genommen und sich nicht rechtzeitig zur Kampagnenpräsentation entschieden. Die Präsentation zu verschieben, hätte aber noch mehr Fragen aufgeworfen.

Ich bin mir sicher: Wenn Kellner eine Freigabe dafür gehabt hätte, hätte er liebend gerne ein Plakat der Kanzlerkandidatin präsentiert. Gegenfrage: Warum würde er darauf verzichten wollen – bei der ersten Kanzlerkandidatur in der Geschichte der Grünen?

Ist das nicht eine olle Verschwörungstheorie?

Nein, weil ich sie direkt von Bill Gates über meinen Impf-Chip empfangen habe. Und außerdem muss man das Wort „Kanzlerkandidatin“ auf der Website der Grünen schon lange suchen. Ich sage auch nicht, dass sie es am Ende nicht doch machen wird. Aber zu 100% ist das am 14. Juli 2021 nicht sicher.