Der Sinn der Arbeit

Was morgen sein wird – Teil 1. Eine Serie von Richel, Stauss.

Wann haben wir eigentlich damit begonnen, uns einzureden, dass Arbeit schlechthin der Sinn des Lebens ist? Vor sehr langer Zeit und unter deutlich anderen Rahmenbedingungen. Angesichts der technologischen, klimatischen und demographischen Entwicklungen ist die Zeit gekommen, neu über sinnvolle Arbeit nachzudenken.

Gute Arbeit definieren wir in den demokratischen Wirtschaftsnationen entlang des nunmehr über ein Jahrhundert andauernden Kampfes für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dieser brachte weitreichende Errungenschaften von Tarifverträgen, geregelten Arbeitszeiten, Mitbestimmung, Sozialversicherungen, Mindestlohn, Gesundheitsschutz bis hin zu ergonomischen Stühlen und vielem mehr.

Angesichts der Herausforderungen unserer Zeit ist es geboten, diesen Rahmen um eine neue gesellschaftliche Priorität zu erweitern: Sinnvolle Arbeit.

Die Zukunft dessen, was wir heute Arbeit nennen.

Die Digitalisierung, Automatisierung, Künstliche Intelligenz und wie auch immer wir es nennen wollen, was 3D Drucker in Zukunft „drucken“ – von der Pistole bis zum Fertighaus – wird die Zukunft der Arbeit beherrschen. Was ja nicht so schlimm sein muss, denn es gibt ja auch ziemlich viele öde Jobs. Aber über welchen Zeitraum sprechen wir eigentlich? 20 Jahre? 50? Auf jeden Fall ist diese Zukunft sehr, sehr nahe. Heute Zwanzigjährige am Beginn ihres Arbeitslebens werden diesen Wandel vollständig erleben – und gestalten.

Die industrielle Revolution hat uns über rund einhundert Jahre zunächst viel Elend und dann viel Wohlstand gebracht. Grob verkürzt. Sie brachte Megafabriken mit megavielen Fabrikarbeitern, die sich über die Jahre mithilfe organisierter Gewerkschaften auch weitgehend ordentliche Löhne erstritten. Leider immer erstritten, denn geschenkt hat ihnen nie einer was. Diese Hunderttausende wurden zu stolzen Kruppianeren, schafften beim Daimler oder bei Porsche und identifizierten sich über Generationen mit ihrer Arbeit, ihren Produkten und Unternehmen.

Aber wie auch immer es kommt, es kommt anders und zwar schnell. Sehr schnell. Bei uns und aber auch in China, Bangladesch und anderswo. Es wird diese Form von Arbeit nicht mehr in heutigem Ausmaß geben. Das betrifft bei weitem nicht nur den Niedriglohnsektor, sondern auch qualifizierte Arbeit und klassische Bürojobs. Weil ein Großteil der Bürojobs in seiner Routine ebenso besser von einem Algorithmus erledigt werden kann, wie das Durchsaugen und anschließende feuchte Aufwischen von einem Roboter, der gegen 2 Uhr morgens aus seiner Ladestation fährt. Wir sprechen längst nicht mehr nur von der berühmten Kassiererin oder dem Empfangsservice an der Hotelrezeption. Wer den Film Passengers gesehen hat, weiß, dass selbst die tröstenden Phrasen des Barkeepers mindestens ebenso gut von einem Roboter kommen können, während er pausenlos irgendein Glas trockenreibt.

Alles passiert bereits. Wer für seinen Flug einchecken kann, kann das auch für sein Hotelzimmer. Und vielleicht ist der Tag nicht mehr so fern, an dem junge Menschen den Kopf darüber schütteln, dass man früher einmal ernsthaft „Human Resources“, also tatsächliche, echte Menschen dafür eingesetzt hat, um Kohle aus einem Loch in der Erde zu baggern, Versicherungsfälle zu bearbeiten, feucht aufzuwischen oder Autos an einem Band zu montieren. So wie wir den Heizer auf der Lokomotive, den Setzer in der Druckerei oder den „Bankbeamten“ nostalgisch belächeln. Ehrenwerte Arbeit, zu ihrer Zeit. Aber die Zeiten ändern sich. Jetzt.

Weltweit machen sich viele Menschen Gedanken darüber, was dann wird. Was der Mensch dann tut, wenn er nichts oder wesentlich weniger zu tun hat. Und vor allem, was das für demokratische und soziale Gesellschaften bedeutet. Diktaturen kommen ja immer irgendwie klar. Im Zweifel mit Gewalt. Aber wie machen wir das?

Zunächst einmal muss man in diesen Zeiten den Wert von Arbeit hinterfragen. Denn damit steht und fällt ja das ganze Wertesystem des Kapitalismus und des real existierenden Sozialismus übrigens auch.

Wer von einem „Recht auf Arbeit“ spricht, wertschätzt Arbeit als etwas, das man zur Erfüllung eines Lebens braucht. Das „Recht auf Arbeit“ bedeutet im Kern jedoch eher die „Pflicht zur Arbeit.“ Und viele Studien belegen, dass Menschen, die arbeiten wollen, es aber nicht können, sich als minderwertig empfinden, als Bittsteller, als Almosenempfänger, als unnützes Glied in der Gesellschaft, als Ballast.

Der Kapitalismus hat die Arbeit zum Sinn des Lebens erklärt, die Arbeiterbewegung den „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ erkämpft. Und jetzt?

Wann haben wir begonnen, uns das einzureden? Vermutlich schon vor der Industrialisierung. Der Landarbeiter hat auf den Landstreicher ebenso geblickt wie der Handwerker auf den Tagelöhner und Lebemann. Aber erst der Kapitalismus hat die Arbeit zum Sinn des Lebens erklärt. Die reguläre Arbeit. Erst sieben Tage die Woche, 14 Stunden am Tag, dann immer etwas weniger. Aber noch heute bedeutet die harmlos gestellte Frage „Was machst Du so beruflich?“ für den Befragten, dass es jetzt soweit ist: Jetzt wird Maß genommen und eingeordnet.

Und die Arbeiterbewegung? Sie hat aus dem Siegeszug der Industrialisierung und des Kapitalismus versucht, einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen. Das ist ihr in weiten Teilen jedenfalls besser gelungen als dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, der die gleiche Ausbeutung betrieb oder betreibt, nur ohne Rendite, Menschenrechte, Umweltschutz und Demokratie.

So weit, so gut. In Deutschland kam man damit ja die letzten Jahrzehnte gut klar und zählt zu den wohlhabendsten Ländern der Welt.

Aber was kommt jetzt? Auch wenn sehr vieles im Fluss ist, kann man eines mit Sicherheit sagen: Es wird sehr viel weniger klassische Arbeit geben als heute – vom Büro bis zur Werkbank. Das wird nicht automatisch weniger Wohlstand bedeuten müssen, denn produziert wird ja weiterhin etwas, das auch nur von Menschen gekauft werden kann, die Einkommen haben.

Und damit sind wir bei der großen Frage der Distribution des Wohlstandes und einer Verteilungspolitik auf der Höhe der Zeit. Anders wird es nicht gehen, sollen nicht viele in Armut fallen und damit auch absolut nicht in der Lage sein, bei Amazon zu shoppen, mit Uber zu fahren oder ein Volkswagen e-mobil zu erwerben. Nein, bei einer neuen Erbschaftsregelung geht es nicht um Omas kleines Häuschen. Es geht um Omas und Opas 300 Wohnblocks, 78 Holdingbeteiligungen etc.

Wir müssen auch zügig weg von der stundenbasierten Entlohnung von Arbeit. Und von der Vorstellung, dass nur wer 20-40 Stunden die Woche arbeitet, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft sein kann. Bald werden es nur noch vierzig Stunden im Monat sein, also zehn in der Woche. Wir müssen Gewinne besser verteilen und unverdiente Gewinne aus altem, angehäuftem, totem Erbschaftsgeld wieder in die soziale Gesellschaft investieren.

Wir müssen uns angesichts der technologischen, klimatischen und demographischen Entwicklung auch neu Gedanken über den Sinn unserer Arbeit machen. Eine Debatte, die seit der Wachstumskritik der 90er Jahre, ausgehend vom Bericht des Club of Rome, über Jahrzehnte hinweg ins Stocken geraten ist.

Welche Produkte machen denn Sinn? Und welche zerstören am Ende unsere Lebensgrundlagen?

Schon heute müssen sich viele Arbeitnehmer von ihren Kindern fragen lassen, warum sie denn so ein sinnloses Zeug produzieren, warum sie mit ihrer Arbeit schädliche Entwicklungen unterstützen oder mit ihrer Geldanlage das Wachstum der Konzerne finanzieren, die sie auf der anderen Seite für Lohndumping, Umweltverschmutzung und Datenmonopolisierung verantwortlich machen. Die Antwort der Eltern lautet so oder so ähnlich: „Damit ich deinen Lebensunterhalt, Dein Smartphone und Deine 35 Primark-Ausbeutungsklamotten im Monat finanzieren kann.“ Diese Gespräche finden so oder so ähnlich hunderttausendfach statt und zeigen vor allem eines: Eine neue Nachdenklichkeit und ein permanentes Dilemma.

Das sind die Widersprüche unserer Zeit.

Eltern wollen nicht Produkte herstellen, die am Ende ihren Kindern schaden. Sie tun es, weil sie dafür bezahlt werden, aber sie haben keine Freude und keinen Stolz daran.

Wer diesen Konflikt um die Zukunft der Arbeit auflöst, dem gehört die Zukunft. Die Zeit drängt. Aber die Aufgabe ist dafür hoch spannend.

Schon längst findet in unserer Gesellschaft ein Paradigmenwechsel statt, den die Politik bisher nicht ausreichend honoriert. Denn der Paradigmenwechsel heißt: Raus aus dem Hamsterrad, dafür mehr Zeit für ein Leben mit Familie, Freizeit, Hobby, Kultur, Selbstverwirklichung und ehrenamtlichem Engagement. Das ist nicht Faulheit, das ist das Gegenteil davon. Das ist ein Leben, wie ein Leben sein sollte. Eine Utopie so nah, wie die Utopie der ersten Arbeiterbewegung auf ein Leben in Würde. Diese Utopie nennt sich Freiheit. Und zwar Freiheit nicht auf Kosten anderer, sondern gemeinsam mit anderen für eine soziale Gesellschaft, die ihrer Verantwortung auch für die Umwelt gerecht wird.

Wenn man diese Herausforderung richtig anpackt – die Politik, die Industrie, die Gewerkschaften – wenn man nicht versucht, das Heil in vermeintlicher Verteidigung und Erhalt des Status Quo zu suchen (ist ja auch schon immer schief gegangen), dann kann man diesem Wandel sehr viel Gutes abgewinnen. Man muss es sogar. Er kommt ja sowieso.

Es bleibt so viel, worüber wir nachdenken müssen, was zu gestalten wäre. Eben genau das, was am Anfang dieses Textes steht. Wie lebt eine moderne, soziale, freie und demokratische Gesellschaft ohne diese stundenbasierten, kolonnenhaften Arbeitsmodelle? Wie schaffen wir Angebote, die neue Freiheit zu nutzen? Und vor allem – wie distribuieren wir den Wohlstand, für den man immer weniger körperliche Arbeit und Anwesenheit benötigt, von den Konzernen und den obszön Reichen in die Gesellschaft?

Viel zu tun. Die zwanzigjährigen sind unter uns und warten zu Beginn ihres Arbeitslebens auf Antworten. Sie wurden übrigens geboren, als der letzte sozialdemokratische Bundeskanzler seine Amtszeit begann. Heute braucht es ganz neue Antworten auf der Höhe der Zeit. Man müsste nochmal zwanzig sein.

 

 

Europawahl 2019 – ein neues politisches Klima.

Eine Europawahl ist (leider) nicht wirklich eine Europawahl, sondern wird weiterhin auf Basis nationaler Listen und Regeln durchgeführt und daher auch von nationalen Stimmungen dominiert. Das gilt auch für das überwältigend pro-europäische Deutschland und erschwert eine personelle wie inhaltliche Zuspitzung im Wahlkampf.

Die Europawahl bringt einige Besonderheiten mit sich, die sich klar von den sonstigen Parametern einer Bundestags- oder Landtagswahl unterscheiden. Der wahrscheinlich wichtigste Unterschied ist die fehlende personelle Zuspitzung – aber das ist nicht der einzige. Der Reihe nach.

Personalisierung
Seit 2014 gibt es zwar eine virtuelle Spitzenkandidatur der beiden größten Fraktionsgemeinschaften, aber für Klarheit sorgt das nicht zwingend. Denn das Votum ist nicht bindend, und im Vorfeld der Wahl 2019 wurde schon mehr als einmal spekuliert, dass Manfred Weber selbst bei einem Erfolg nicht zwingend von der EVP für den Job des Kommissionspräsidenten nominiert werden würde. Das sorgt nicht für Klarheit.

Wenn die Spitzenkandidatur überhaupt etwas bringt, dann im Zweifel den Kandidaten in ihrem jeweiligen Heimatland. Frans Timmermans hat so seine PvdA offenbar nicht nur revitalisieren, sondern sogar auf Platz 1 in den Niederlanden hieven können. Denn natürlich sind die Niederländer stolz darauf, wenn „ihr Mann“ sich europaweit TV-Duelle liefert. In Deutschland alleine zwei Duelle mit Weber zur besten Sendezeit in ARD und ZDF, die auch in Holland gesehen werden. Martin Schulz half die europaweite Kandidatur 2014 ebenso, denn auch viele Deutsche mochten es, dass „ihr Mann“ europaweit Großkundgebungen und TV-Debatten bestritt. Aber den Mega-Durchbruch brachte das am Ende auch nicht. 27,3% sind aus heutiger Sicht ein Traumergebnis – allerdings hatte die SPD im Jahr zuvor bei der Bundestagswahl auch schon 25,7% geholt und stand bundesweit in den Umfragen zur Bundestagswahl zwischen Januar und Mai 2014 stabil bei rund 26% (FGW/Infratest). Die europaweite Spitzenkandidatur brachte am Ende also  1-2 Prozentpunkte. Immerhin. Herr Weber hat trotz Spitzenkandidatur der EVP in Europa und für CDU/CSU in Deutschland Stimmenanteile verloren.

Es ist also extrem schwer für die Menschen, neben den nationalen Kandidaten auch noch die europaweiten einzusortieren. National macht man es ihnen auch noch unnötig schwer. Die Grünen plakatierten überwiegend nicht ihre Europa-Kandidaten, sondern die populäre Bundesspitze (kein Vorwurf – der werfe den ersten Stein), und die SPD stellte zwar Katarina Barley deutlich heraus, trat aber faktisch auch mit einer Doppelspitze an.

In Zeiten, in denen die Mediennutzung der Wählerinnen und Wähler so vielfältig ist, dass man nur mit sehr klaren Botschaften und eindeutiger Personalisierung durchdringen kann, hilft dieses Kandidaturenmischmasch keinem und stiftet, wenn überhaupt, dann nur Verwirrung.

Polarisierung
Mit der Polarisierung ist es 2019 so eine Sache. Außer der AfD führten alle Parteien im Vergleich zu 2014 einen klar pro-europäischen Wahlkampf. Auch die CSU mit Manfred Weber, die 2014 noch mit Europaskeptiker Peter Gauweiler angetreten war und für die damalige Verhältnisse in Bayern sehr schlechte 40,5% eingefahren hatte.

Eine Polarisierung wurde über die zweifelhaften Bündnispartner der EVP-Parteien in Österreich, Ungarn, Estland etc. zwar versucht– aber eine solche Polarisierung ist etwas für die schmale Info-Elite. Die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler interessiert sich herzlich wenig dafür, wer in anderen Ländern mit wem koaliert, und in Deutschland traut man der Union bis dato keine Zusammenarbeit mit der AfD zu – was sich ja vielleicht in Sachsen bald ändern wird. Aber diese Wahl kommt ja erst noch.

Die anderen Themen – von europäischem Mindestlohn bis europäischer Armee sind jeweils interessant – aber hier sehen die Menschen (zurecht?) nicht das Parlament als ausschlaggebenden Faktor, sondern eher die nationalen Regierungen über die Kommission. Das bedeutet nicht, dass diese Themen nicht adressiert werden sollten –  mit irgend etwas muss man ja Wahlkampf machen – aber für eine harte Polarisierung taugen sie nicht. Auch beim Thema Frieden (Trump, Irak, Nordkorea) sehen die Wählerinnen kein Kriegstreibertum bei Merkel, den Grünen oder der Linkspartei, weshalb auch hier für die SPD keine Alleinstellung möglich ist. Einige führen hier gerne Gerhard Schröder gegen Bush Jr. an – aber damals hatten wir einen Clash zwischen einem amtierenden Bundeskanzler und dem amerikanischen Präsidenten. Das ist eine völlig andere Ausgangslage. Die Wähler glauben zurecht nicht, dass Donald Trump sich für die Meinung eines Junior-Koalitionspartners in Deutschland interessiert. Er interessiert sich ja nicht mal für Merkel.

Da wir also rund 80% pro-europäische Parteien bei einer über 80%-pro-europäisch eingestellten Bevölkerung haben, verteilte sich der Kuchen innerhalb dieses Lagers weitgehend entlang der bisher vorliegenden Umfragen. Etwas schwieriger wurde die Lage für die Volksparteien durch die nicht vorhandene 5%-Hürde, weshalb vor allem aus dem sogenannten progressiven Lager noch Wähler zu Parteien wie „Die Partei“, „VOLT“, „Piraten“, oder gar „Tierschutzpartei“ abflossen. Ein Prozent hier, zwei da und schwupps sind am Ende 6-7% futsch.

Wachsendes Interesse fand diese Wahl grundsätzlich durch die polarisierte Weltlage – von Trump über Putin bis Brexit. Aber auch hier waren die Antworten der Pro-Europäer zumindest an der Oberfläche so ähnlich, dass man schon tiefer einsteigen musste, um die Unterschiede erkennen zu können. Es steigt aber kaum jemand tiefer ein.

Bereits im Vorfeld warfen manche der SPD Spitzenkandidatin Katarina Barley (aber auch Manfred Weber) vor, sie würde zu wenig polarisieren und sei zu leise. Da Katarina Barley nicht vom Himmel fiel, war auch schon im Vorfeld bekannt, dass sie nicht für einen Hau-Drauf-Politikstil zur Verfügung steht. Ob eine härtere Gangart (was immer das heißen soll) der SPD geholfen hätte, ist in ihrem aktuellen Gesamtzustand zu bezweifeln. Die SPD steckt bei vielen Wählerinnen und Wähler in einer so fundamentalen Vertrauenskrise, dass wilde Rhetorik und Macho-Männchen-Attacken vermutlich noch weniger ankommen als ein ruhiger, sympathischer und vertrauenswürdiger Auftritt.

Die SPD hat in diesem Wahlkampf kein wahlentscheidendes Thema gespielt, weil sie keines hatte. Jedenfall kann ich allen versichern, dass wir nicht die ultimative Wahlkampfwaffe im Keller gelassen haben, um sie für schlechtere Zeiten aufzubewahren.

Vergleich der beiden letzten nationalen Urnengänge.
Mit dem fehlenden zündenden Thema ist die SPD nicht alleine. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 – der letzten nationalen Wahl – gab es sehr viele Verlierer und nur eine Gewinnerin. Wir bewerten die Bundestagswahl 2017 – trotz höherer Wahlbeteiligung – als aussagekräftiger als den Vergleich mit der Europawahl 2014. Denn dazwischen lagen die entscheidenden Jahre 2015/16, in denen sich entlang der Flüchtlingsthematik die deutschen Wählerinnen und Wähler als auch die Parteienlandschaft neu sortiert haben.

Im Vergleich der beiden jüngsten nationalen Urnengänge, der Bundestagswahl 2017 und der Europawahl 2019 sieht es so aus:

CDU/CSU: – 4% (32,9 : 28,9)
SPD: – 4,7% (20,5 : 15,8)
Grüne: + 11,6% (8,9 : 20,5)
FDP: -5,3% (10,7 : 5,4)
Linke: -3,7% (9,2 : 5,5)
AfD: -1,6% (12,6 : 11,0)
Sonstige: + 7,9 (5,0:12,9)

Die Regierungsparteien verlieren gemeinsam noch einmal 8,7% im Vergleich zu dem sowieso schon schwachen Ergebnis 2017. Die FDP halbiert sich. Große Gewinner sind die Grünen. Aber auch die Sonstigen, was eine weiter abnehmende Bindungskraft der Parteien signalisiert.

Das eine Thema – ist so viele Themen.
Natürlich profitierten die Grünen massiv von dem dominierenden – aber eben auch sehr europäischen Thema das Klimaschutzes. Grenzübergreifender Umweltschutz macht eben auch extrem viel Sinn. Das erklärt auch das massive Abschmieren der FDP. Hier hat sich seit der Bundestagswahl 2017 bei der Hälfte der damaligen FDP Wähler offenbar die Erkenntis durchgesetzt, dass die FDP von allen Parteien jenseits der AfD den härtesten Pro-Lobby und Anti-Klima-Kurs fährt.

Die SPD hat bei diesem Thema seit vielen Jahren ihre Kompetenz eingebüßt. Es gab tatsächlich in den 90er Jahren einmal Zeiten, in denen Al Gores „Erde im Gleichgewicht“ in jedem sozialdemokratischen Bücherschrank stand neben Oskar Lafontaines „Der andere Fortschritt“ (1985 – als er noch Vordenker statt Nachtreter war). Man berief sich auf den Club of Rome und hatte prominente Umweltschutz-Vordenker wie Ernst Ulrich von Weizsäcker (späterer Präsident des Club of Rome), Michael Müller, Jo Leinen und viele mehr in den Parlamenten. Irgendwann hat man das Thema dann an den Koalitionspartner delegiert. Was nicht bedeutet, dass es keine engagierten Umweltschützerinnen und Umweltschützer in der SPD mehr gäbe. Herausgestellt hat man sie jedoch nicht, aber das immerhin SPD-geführte Umweltministerium in den Koalitionsverhandlungen zur Schrumpfmasse erklärt.

Heute ist Umwelt- und Klimaschutz bei weitem mehr als Umwelt- und Klimaschutz. Das Thema ist in den Augen vieler Menschen zu einer Existenzfrage der Menschheit überhaupt geworden und – wenn man es etwas tiefer hängen will – zur Existenzfrage der deutschen Schlüsselindustrie. Die SPD wird hier aufgrund ihrer nicht zu leugnenden Historie als Kohle- und Autopartei massiv bestraft. Für viele Jugendliche ist die Partei nicht wählbar und aus der Zeit gefallen.

Aber es geht weit über die Jugend hinaus. Eltern wollen nicht Produkte herstellen, die am Ende ihren Kindern schaden. Sie tun es, weil sie dafür bezahlt werden, aber sie haben keine Freude und keinen Stolz daran. Wer diesen Konflikt auflöst, dem gehört die Zukunft. Wer bremst und verteidigt, wo es nichts mehr zu verteidigen gibt – das gilt für Politiker, Wirtschaftsbosse und Betriebsräte gleichermaßen – wird weggefegt werden. Vom Markt, vom Arbeitsplatz, von der politischen Bildfläche. Das hat selbst VW begriffen. Auf die harte Tour.

Die SPD hat das Thema in den letzten Jahren des Niedergangs auch aus Angst vernachlässigt, noch mehr Wählerinnen und Wähler zu verlieren. Sie tat dies in der irrigen Annahme, ehemalige Wähler mit einem solchen Kurs zurückholen zu können. Solange die SPD überhaupt noch davon träumt, Wähler von 1998 zurückholen zu können, fährt sie sowieso weiter vor die Wand. Diese Wählerkoalition gibt es schon lange nicht mehr.

Die ökologische Wende der deutschen Industrie, die Verkehrswende und die Energiewende sind so gigantische Projekte, dass die SPD dort dringend gebraucht wird. Für moderne und saubere Arbeitsplätze, die  Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stolz machen. Weil sie Leistungen  erbringen, auf die auch ihre Kinder stolz sein können.

On a happy note:
Europa, das ist die gute Nachricht, war den Deutschen wichtig, und sie haben in überwältigender Mehrheit pro-europäisch gewählt. Überhaupt blieb der große Rechtsruck in Europa aus.

Die SPD, das ist offensichtlich, hat einige Probleme zu lösen. Eines steht aber fest: Die Lösungen für die Probleme der SPD liegen nicht in der Vergangenheit. Weder politisch noch personell. Die eingeleitete Neuaufstellung muss weiter gehen.

 

 

Hat NoGroko der SPD in Bremen geschadet? Im Gegenteil.

Spätestens als die SPD Bremen vor einem Jahr bei 22% notierte (28.5.18/INSA), war klar, dass es diesmal wirklich eng werden würde. Allerdings nicht das erste Mal. Bereits 1995 landete die SPD nur 0,8% vor der CDU. Diesmal ist es umgekehrt und die CDU liegt aktuell 0,9% vor der SPD. Aber was hat die GroKo Absage der SPD Bremen 9 Tage vor der Wahl bewirkt?

2019  war die Lage für die SPD besonders dramatisch. Unter anderem, weil die Lage der SPD überhaupt dramatisch ist, aber auch aus lokalen Gründen. Bürgermeister Carsten Sieling wurde 2015 Bürgermeister, da sein Amtsvorgänger das SPD Ergebnis von 32,8% und die Bestätigung von Rot/Grün durch die Wählerinnen und Wähler (47,9%) nicht gut genug fand und abtrat. Kann man machen. Führt aber zu Problemen. Denn der Nachfolger war dadurch eben nicht im weitesten Sinne vom Volk legitimiert, sondern ausschließlich von der Bürgerschaft gewählt. Das macht verfassungsrechtlich keinen Unterschied – es ist ja keine Direktwahl, aber emotional schon. Vor allem aber hat ein solcher Wechsel auch noch längere Zeit Auswirkungen auf den Bekanntheitsgrad, der erst durch einen Wahlkampf deutlich steigt.

Der suboptimale Start ins Amt wurde durch den notwendigen Konsolidierungskurs der Rot/Grünen Regierung nicht leichter. Die faktisch erfolgreiche Konsolidierung (die Schuldenuhr läuft seit einigen Tagen rückwärts), führt jetzt auch zu neuen finanziellen Spielräumen – allerdings können diese erst nach der Wahl greifen. Insgesamt notierte die Landesregierung daher nur leicht positiv und die Kompetenzwerte sind in vielen Bereichen ausbaufähig .

2019 lag die SPD in keiner Umfrage mehr vor der CDU, meist 1% dahinter. Auf der anderen Seite wuchsen die Bäume der CDU in den Wochen vor der Wahl trotz unkonventionellem Kandidaten aber auch nicht in den Himmel. Angestrebt waren 30%+x und immerhin hatte die CDU auch schon einmal 37,1% geholt – 1999. Man sieht also, dass es in Bremen nicht nur für die SPD bergab ging in den letzten zwanzig Jahren. Die CDU notierte von Februar bis Anfang Mai zwischen 25 und 26%, die FDP bei etwa 6 und das Schwarz/Gelbe Lager zwischen 31 und 34%. Starke Linke (10-12%) und sowieso starke Grüne (18%, rauf von 15,1% bei der letzten Wahl) ergänzten das Stimmungsbild.

Allerdings änderte sich das, je näher die Wahl kam. Der CDU mit einem Unternehmer an der Spitze gelang es verstärkt, sich zum Anführer des schwarz/gelben Lagers zu machen. Dies hatte zur Folge, dass die CDU auf Kosten der FDP zulegte und vermutlich auch noch ein oder zwei Prozent aus dem autoritätsfixierten rechteren Wählersegment gewinnen konnte. Und die Chance, dass tatsächlich erstmals die CDU vorne liegen könnte, mobilisierte das eigene Lager zusätzlich. Dies führte dazu, dass die CDU der SPD weiter enteilte, die Lager selbst sich aber nicht nennenswert vergrößerten.  Als erste meldete die FGW für das ZDF am 16.5. einen Vorsprung von 1,5% für die CDU und damit erstmals mehr als das bisher gemessene 1% oder Gleichstand. Es folgte kurz darauf Infratest mit einem Vorsprung von 3% und schließlich INSA* am 21.5 mit 5% CDU-Vorsprung – bei 28% für die CDU und 23% SPD. Wenn man von einem Trend sprechen will, dann hat man hier einen. (* Insa veröffentlichte zwar erst am 21.5, war aber seit dem 15.5. im Feld)

Die SPD musste etwas tun. Wie andernorts auch, hatten die Genossen an den Infoständen viele Gespräche zu GroKo und Co zu bewältigen. Die SPD entschied sich daher für eine klare Vorwärtsstrategie und schloss eine Große Koalition mit der CDU aus. Und mit der FDP eine Ampel gleich mit. Thematisch wurde der Fokus auf Wohnen und Mieten vs. einer unsozialen Wende mit Privatisierung und Sozialabbau gelegt.

Die Wählerinnen und Wähler hatten damit eine klare Wahl. Ob ein solcher Schritt nur neun Tage vor der Wahl noch fruchtet, weiß man erst am Wahltag. Denn nur weil zwölf Leute das am Freitag twittern und der Weserkurier es einmal schreibt, ist die Botschaft noch lange nicht unterm Volk.

Ein Hinweis, dass der Trend zur CDU abgeschwächt wurde, gab die letzte Umfrage der FGW für das ZDF, die als einzige die klare Aussage der SPD voll im Erhebungszeitraum hatte. Im Gegensatz zu ihren früheren Umfragen, fand die FGW keine Bewegung hin zur CDU und veröffentlichte erneut einen Vorsprung der CDU von 1,5%.

Gemessen wurde aber auch eine klare Absage an Jamaika und die beliebtesten Koalitionsmodelle waren Rot/Grün gefolgt von Rot/Rot/Grün, beide allerdings auch ohne Mehrheit.

Bremen ist ein kleines Bundesland, so dass auch kleinere Bewegungen zu größeren Verschiebungen führen können. Genau wird man es nie erfahren. Wir sind fest davon überzeugt: Ohne Disruption wäre die CDU der SPD mit gut 4-5% Vorsprung davongezogen.

Die (immer noch vorläufigen) Ergebnisse im Einzelnen (Landeswahlleiter, 27.5., 2:16 Uhr):

RRG: 25,34 (S) + 10,79 (L) + 17,49 (G) = 53,62
Jamaika: 26,30 (C) + 6,04 (F) + 17,49 (G) = 49,83

Insgesamt bleibt das traditionell linke Bremen mit einem Anteil von 53,62% für SPD, Grüne und Linke klar links der Republik.  Schwarz-Gelb kommt zusammen auf 32,34%, Rot-Rot auf 36,13.  Jetzt liegt es an den Grünen, ob sie für die erste Rot-Grün-Rote Landesregierung in einem der alten Bundesländer bereit sind.

Die SPD hat jedenfalls den Wählern vor der Wahl klar gesagt, wofür sie steht. Es hat ihr nicht geschadet und jetzt muss sie auch nicht rumeiern.

Die SPD muss progressiver werden – nicht das Gegenteil davon.

Die Grünen sind die rießengroßen Gewinner dieser Europawahl und saugen von CDU/CSU und SPD jeweils gut über 1 Million Stimmen sowie 500.000 von der FDP. Vergleicht man die Prozentanteile nicht mit der 5 Jahre zurückliegenden Europawahl, sondern mit der letzten nationalen Wahl, der Bundestagswahl 2017, fällt der Erfolg noch deutlicher aus.

Die Grünen gewinnen im Vergleich zur BTW 17 sagenhafte 11,7% auf jetzt über 20%. CDU/CSU verlieren 4,1%, die SPD 5%, die FDP halbiert sich von 10,7% auf 5,4%, die Linke verliert 3,8% und die AfD 1,8%. Und dann gibt es noch 13,5% Sonstige – darunter Die Partei, Volt und andere.

Das sind tektonische Verschiebungen – allerdings definitiv nicht nach rechts. Die europafreundlichen Parteien kommen gemeinsam auf deutlich über 85%. Das alles dominierende Thema war nicht die Migration – daher auch der Rückgang der AfD – sondern der Klimawandel und die Wahlbeteiligung stieg deutlich.

Die rundum modernisierten Grünen zogen massiv Stimmen von der SPD, was vor allem einen Grund hat: Die SPD ist seit vielen Jahren von einer einstmals progressiven Umweltschutzpartei (Herrmann Scheer, Jo Leinen, Michael Müller (der aus Düsseldorf), Erhard Eppler) zu einer Partei geworden, die sich auch um Umweltschutz kümmert. Offenbar deutlich zu wenig. Bereits 1990 klebten wir an der Basis Plakate für „Das 3-Liter-Auto“ und kämpften Seite-an-Seite mit den Grünen für den Atomausstieg. Aber welches sind unsere Projekte 2019?

Es kommen weitere Themen hinzu, in denen die SPD außerdem zukunftsfester werden muss: bei den vielfältigen Themen rund um die digitale Revolution, bei der Verkehrswende, bei neuen Arbeitsformen und natürlich auch bei ihrem Kernthema, der sozialen Sicherheit im massiven globalen Wandel. Einige dieser Themen sind in Arbeit, andere müssen noch bearbeitet werden.

Aber das geht. Bei der Bundestagswahl 2017 gingen die Grünen noch auf dem letzten Platz durchs Ziel. Ihre Zeit kam in den letzten beiden Jahren. Die Grünen können heute noch Christian Lindner jeden Tag auf Knien danken, dass er sie aus Jamaika gerettet hat. Sie selbst waren ja schon mittendrin. Aber um die Grünen geht es jetzt mal nicht.

Die SPD leidet heute darunter, dass sie progressive Themen in den letzten Jahren des Niedergangs sträflich vernachlässigt hat. Hier besteht dringend Nachholbedarf. Sie tat dies in der irrigen Annahme, ehemalige Wähler mit einem ambivalenten Kurs zurückholen zu können. Solange die SPD überhaupt noch davon träumt, Wähler von 1998 zurückholen zu können, fährt sie sowieso weiter vor die Wand. Diese Wählerkoalition gibt es schon lange nicht mehr. Dafür jede Menge Alternativen.

Für die SPD kam nach der Bundestagswahl noch erschwerend hinzu, dass sie unter dem damaligen Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten nach der Wahl erst eine große Koalition ausschloss, dann nach dem Scheitern von Jamaika und deutlichen Ansagen aus dem Bundespräsidialamt notgedrungen doch hineinging und Martin Schulz obendrauf auch noch in seine selbstgestellte Falle lief, einen Posten im Kabinett Merkel auszuschließen, ihn dann aber dennoch zu wollen. Das verstärkte die Glaubwürdigkeitskrise zusätzlich.

Manche machen heute auch noch die Debatte um Kevin Kühnert für das schlechte Ergebnis verantwortlich. In besseren Tagen hätte die SPD eine solche Debatte aber mit vereinten Kräften zu einer Debatte über explodierende Mieten und soziale Schieflagen gedreht. Stattdessen kamen die härtesten Angriffe unter der Gürtellinie aus der SPD selbst. Die SPD braucht aber dringend solche Zukunftsdebatten und keine darüber, wie schön es 1998 doch war.

Jetzt fordert ausgerechnet Sigmar Gabriel – prominenter Kühnert-Attackierer- personelle Konsequenzen. Er, der als Parteivorsitzender die längste Amtszeit seit Willy Brandt zur Verfügung hatte, um die SPD zu modernisieren. Der inhaltlich seinen Nachfolgern absolut nichts hinterlassen hatte, worauf dieser aufbauen konnte, dafür aber ein finanzielles Desaster ersten Ausmaßes. Und Martin Schulz sekundiert ihm. Ein Mann, der als Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender von seiner Partei auf Händen getragen wurde aber seine eigene Kampagne mit Anlauf und ohne eigenen Kompass vor die Wand gefahren hat. Danach waren seine Berater schuld. Ich gehörte nicht dazu, aber als Berater weiß ich eines: Wenn ein Kandidat selbst nicht weiß was er will und wofür er steht, dann sind am Ende keine Berater schuld, sondern nur er selbst. Alle Halbjahr eine wohlfeile Rede für Europa und gegen Rechts rauszuhauen ist kein Zukunftsprogramm.

Die SPD, das ist offensichtlich, hat eine Menge Probleme zu lösen. Eines steht aber fest: Die Lösungen für die Probleme der SPD liegen nicht in der Vergangenheit. Weder politisch noch personell.

Mehr zu den Wahlen in Bremen und der EPW in den kommenden Tagen hier.