Verunsicherung trifft auf Verunsicherte – Ein Beitrag zur Erneuerungsdebatte der SPD

So, der Urlaub ist vorbei und die Sondierungsgespräche auch. Zu beidem gäbe es viel zu sagen, aber in das für mich noch neue Arbeitsjahr starte ich erst einmal mit einem Beitrag, der Ende 2017 für die Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte entstanden ist und dort soeben auch online veröffentlicht wurde.  Mehr zur Zukunftsdebatte der SPD gibt es ausserdem direkt bei der Neuen Gesellschaft-Frankfurter Hefte:

NGFH2
Verunsicherung trifft auf Verunsicherte

Leicht modifizierte und erweiterte Fassung vom 14.1.2018

Auf der Suche nach Erklärungsmustern für die totalitären Tendenzen in den ostdeutschen Bundesländern oder den ebenso jungen Demokratien in Osteuropa, wird häufig auf den Veränderungsdruck verwiesen, den die Menschen im ehemaligen Ostblock im Zuge der Demokratisierung nach westlicher Machart hätten durchlaufen müssen. Da ist sicher etwas dran. Es erklärt aber nicht die ähnlichen Tendenzen in Österreich, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Italien und weiteren Ländern mit klassisch westlicher Prägung, einschließlich ihrer sozialen Sicherungssysteme. Eine Übertragung der Theorie auf die USA ist noch schwieriger. Auch aus der wirtschaftlichen Situation lässt sich wenig ableiten. Die ökonomischen Kennzahlen in Österreich sind ebenso hervorragend wie in Deutschland und die USA erlebten zur Wahl Donald Trumps bereits spürbar einen Konjunkturaufschwung mit stark sinkender Arbeitslosigkeit.

Stellt sich die Frage, warum viele Leute verhältnismäßig schlecht drauf sind, obwohl es ihnen in den meisten Fällen so gut geht wie selten zuvor in der Geschichte, auch der jüngeren. Für das weltweit beneidete und hochstabile Deutschland im Jahre acht eines Daueraufschwungs am Rande der Vollbeschäftigung stellt sich diese Frage erst recht. Aus diesem Grund werden seit Jahren aufwendige Studien durchgeführt, die nach Antworten suchen. Diese stellen das Bauchgefühl einiger traditioneller Sozialdemokraten eindeutig infrage. Gerade deshalb sollte man ihnen vielleicht etwas mehr Beachtung schenken, v. a. angesichts einer Niederlagenserie der deutschen Sozialdemokratie, die bereits über ein Jahrzehnt andauert.

Kurz zusammengefasst lautet die Analyse, die ich aus zahlreichen Fokusgruppen, quantitativen Studien und öffentlich zugänglichen Materialien ableite: Die SPD hat weder ein Gerechtigkeits- noch ein Wirtschaftskompetenzdefizit. Sie hat ein Zukunftsdefizit, ein Modernitätsdefizit. Man traut ihr nichts zu, weil sie selbst mindestens ebenso verunsichert in die Zukunft blickt wie die Wähler/innen. Die SPD strahlt keine Kraft und keinen Mut aus, die Zukunft gestalten zu können. Sie ist in einer Mischung aus visionsbefreitem Pragmatismus und selbstreferenziellem, rückwärtsgerichtetem Sozialismus verblasst. Die Partei verschwindet einfach. Nicht eine einzige Debatte wird in Deutschland geführt, weil sie von der Sozialdemokratie auf die Agenda gesetzt wurde. Sie reagiert nur noch auf die Agenden, die von anderen zusammengestellt wurden.

Wie lauteten also die Erkenntnisse der letzten Jahre, die so konsequent ignoriert wurden, und aus denen man so viel mehr hätte machen können?
Beginnen wir mit den Wähler/innen und bleiben dabei in Deutschland. Es mag sein, dass manche Ostdeutsche seit über einem Vierteljahrhundert versuchen irgendwo anzukommen – es ist aber auch so, dass die meisten von ihnen schon längst verstanden haben, dass die Welt sich weiterdreht. Damit befinden sie sich in einer ähnlichen Situation wie die meisten Westdeutschen.

Den Deutschen geht es insgesamt finanziell gut. Man spürt keinen Mangel, die Kinder haben Zugang zu guter Bildung, man erfährt eine medizinische Betreuung auf weltweit höchstem Niveau, man kann sich auf einen demokratischen Rechtsstaat mit funktionierender Gewaltenteilung verlassen, reist viel und empfindet Europa grundsätzlich als eine prima Sache. Etwa drei Viertel der Bevölkerung und damit etwa 90 % derjenigen, die wählen gehen, sehen das so.

Kommen wir zum Veränderungsdruck, der alle eint. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, in Anbetracht dessen die industrielle Revolution ein vergleichsweise schleichender Prozess war. Alleine das Smartphone hat das Leben der Menschen und ihren Alltag so dramatisch verändert, wie kaum eine Erfindung zuvor. Die technologische Entwicklung seit dem Amtsantritt des letzten sozialdemokratischen Kanzlers vor zwei Jahrzehnten war atemberaubend. Mit allen Konsequenzen für das Arbeitsleben, den Medienkonsum, das Privatleben und die globale Vernetzung. Unser Alltag wurde bis in den kleinsten Winkel hinein auf den Kopf gestellt.
Vor allem aber erleben wir, dass sich viele Menschen in einem nervösen Dauerzustand befinden. Viele verspüren zudem einen permanenten Veränderungsdruck.

Allein in den letzten zehn Jahren durchlebten die Menschen in Deutschland eine massive Konjunkturkrise (2009) mit langen Kurzarbeitsphasen bis hinein in die Boomregionen von Bayern und Baden-Württemberg. Sie erlebten die Eurokrise, die in Kombination mit der weltweiten Rezession zu Dauerniedrigzinsen und dem Niedergang der Lebensversicherungen führte. Sie erlebten eine massive Binnenmigration mit einer regelrechten Landflucht junger Leute in die Ballungszentren und Boomstädte. Die Folgen waren auf beiden Seiten gravierend: Ausdünnung, Ladenschließungen, ÖPNV-, Schul- und Kitaabbau und damit Vergreisung auf der einen Seite – explodierende Mieten, Gentrifizierung, Überlastung der Infrastruktur, Schul- und Kitamangel sowie Bauboom und Dauerbaustellen auf der anderen.

Diese im Alltag aller Menschen spürbaren Veränderungen werden nun noch durch erste Auswirkungen der technologischen Entwicklung auf die Zukunftsfähigkeit der deutschen Schlüsselindustrien und Symbole des Wohlstands verstärkt. Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank, Volkswagen, KarstadtQuelle – Symbole des Wohlstands durchleben Krisen oder verschwinden gleich ganz vom Markt. Die Dieselkrise führt zu einer zusätzlichen und direkt erlebten Verunsicherung. Werden die Produkte von BMW, Daimler Benz, Audi, Porsche, Volkswagen bald zu Auslaufmodellen oder sogar mit dem Makel eines Fahrverbotes in Ballungszentren im In- und Ausland versehen?

Und im Privatleben spüren die Menschen auch einen permanenten Kommunikationsdruck und deutlich gestiegene Erwartungen an Erreichbarkeit, Erziehung, Ernährung, Sozialverhalten und digitale Kompetenz. Hinzu kommen die gesellschaftlichen Veränderungen, die manche mehr irritieren als andere. Stichworte hierfür sind: Emanzipation, Ehe für alle, Patchwork, Internationalisierung der Gesellschaft. Ferner erleben wir die Folgen des Klimawandels nun auch in Deutschland und Europa und kennen ihn nicht mehr nur aus Berichten von fernen Ländern. Zudem stellen die Fluchtbewegungen nach Deutschland und deren Höhepunkt in 2015/16 neue Herausforderungen dar.
Aber schon vorher stand fest: Alles ist in Bewegung. Planbarkeit wird schwieriger. Zukunftsszenarien werden immer schneller zur Realität.

Auf Veränderungen kann man auf dreierlei Art reagieren: Man bleibt auf die Gegenwart fixiert und verteidigt den Status quo, man idealisiert reaktionär das Gestern und flüchtet sich in die Vergangenheit oder man gestaltet aktiv die Zukunft.

Unter dem Vorsitzenden Sigmar Gabriel wurde entschieden, die SPD in diesem turbulenten Umfeld als Anker entlang des Frames »Sicherheit« zu positionieren, hinsichtlich innerer, sozialer, wirtschaftlicher, finanzieller und äußerer Sicherheit. Das entspricht vordergründig der Erwartungshaltung der Mehrheitsgesellschaft. Faktisch ist es aber das Todesurteil für die SPD als progressive Kraft.

Der Sicherheitsframe ist ein zutiefst konservativer Rahmen. Die SPD begibt sich damit in direkte Unterwürfigkeit zur CDU/CSU, kann diese aber auf dem konservativen Stammterritorium niemals schlagen. Sie spielt auf diesem Feld von Beginn an nicht mehr auf Sieg, sondern nur noch auf Platz.

Gleichzeitig verstärkt sie durch die Übernahme des Sicherheitsframes die Unsicherheitsgefühle in der Bevölkerung und verliert so zusätzlich an die reaktionären Kräfte, die sich in der AfD und Teilen der Linkspartei organisieren. Aufgerieben und orientierungslos enttäuscht die SPD in diesem Gleichschritt zur Union auch noch die letzten Progressiven in den eigenen Reihen, die sich geradezu gezwungen fühlen, Zukunftsthemen bei anderen Parteien wie u. a. den GRÜNEN oder der FDP zu suchen. Übrig bleiben aktuell 20 %.

Natürlich haben die Probleme auch mit der Bewegung der Union nach mitte-links unter Angela Merkel zu tun. Aber nur darauf zu warten bzw. zu hoffen, dass nach Merkel die Union wieder nach rechts rutscht, macht die SPD nicht automatisch attraktiver.

Die SPD verneint mit dem Sicherheitsversprechen ihre eigene Geschichte als Kraft, die Zukunft gestalten und prägen will. Sie verneint einen Gestaltungswillen, der sich von der Gründung über die Vision von einem geeinten Europa, einer demokratischeren Gesellschaft, einer neuen Ostpolitik, einem modernen Deutschland bis hin zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen der rot-grünen Bundesregierung zeigte.

Die Zukunft gestalten, Deutschland entlang der Grundüberzeugungen der Sozialdemokratie immer besser machen zu wollen – also sozialer, internationaler, friedlicher, offener, erfolgreicher und toleranter – das ist die Geschichte der SPD.

Irgendwann kam jemand auf die Idee, aus der SPD die »Schutzmacht der ›kleinen Leute‹ zu machen«. Vielleicht machte das 1960 einmal Sinn, heute nicht mehr. Dafür gibt es zu wenige »kleine Leute«. Und von diesen wollen noch weniger von einer Partei beschützt werden. Die SPD hat sich damit selbst verzwergt. Aber sie geht diesen paternalistischen Weg konsequent weiter und stalked weiter Menschen, die von ihr gefälligst beschützt werden sollen. Dabei wissen wir aus der Sozialforschung, dass gerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stolz auf ihre eigene Leistung sind – egal, ob diese in der Fabrik, im Handwerk, an der Kasse, in der Pflege oder im Warenlager erbracht wird. Sie wollen, dass ihnen keine Steine in den Weg gelegt werden, sie wollen nicht benachteiligt werden und freuen sich, wenn man ihnen das Leben an der ein oder anderen Stelle leichter macht. Aber sie wollen auf gar keinen Fall an die Hand genommen, „gerettet“ oder bevormundet werden. Vom Staat nicht und schon gar nicht von einer Partei.

Im Bundestagswahlkampf 2017 hat die SPD in ihrem Wahn, sich immer weiter einem vermeintlich »kleinen Mann von der Straße« anbiedern zu müssen, aus einem Kandidaten, der als international anerkannter Staatsmann auf oberster Ebene gestartet war, den Bürgermeister eines Mittelzentrums gemacht. Das muss man erst einmal schaffen.

Ja, die SPD soll Politik für die Schwachen im Land machen. Das sehen sehr viele Menschen so. Es gibt in Deutschland eine große Mehrheit, die in einer sozial ausgeglichenen, modernen und erfolgreichen Gesellschaft leben will. Doch wenn über 70 % der Menschen angeben, dass es ihnen finanziell gut gehe, dann sollte man ihnen das nicht ausreden wollen. Um die übrigen – von denen nur eine Minderheit wählen geht – streitet sich die SPD dann mit der Linkspartei, der AfD, und der CDU/CSU. Da kann nicht viel übrig bleiben. Und bleibt es ja auch nicht.

Zukunft ist nie sicher, da sie ja in der Zukunft liegt. Aber die Menschen haben sehr wohl ein Gespür dafür, ob eine Gesellschaft, eine Wirtschaft, eine Gemeinschaft und auch eine Partei zukunftsfähig und zukunftsorientiert ist.

Die SPD hat die Chance, sich inhaltlich, personell und organisatorisch auf den Wahlkampf 2017 vorzubereiten über mindestens vier Jahre – eher sogar über acht jahre völlig vertan. Am 24. Januar 2017 folgte erneut – zum zweiten Mal unter Gabriel – eine überhastete und entsprechend unvorbereitete Kandidatenkür und die inhaltliche Substanz war nach fünf Wochen verbraucht – sofern sie überhaupt erarbeitet war.
Aber eine echte Chance hatte die SPD spätestens seit Mitte 2016 nicht mehr. Denn bis dahin hätte ihre inhaltliche Neuaufstellung spätestens abgeschlossen sein müssen, um einen fundierten Wahlkampf mit neuen Konzepten und Ideen führen zu können. Einen Wahlkampf um die Zukunft – nicht um den Status quo. Niemand kann Status quo besser als die Konservativen.

In bisher gut 30 Wahlkämpfen lernt man viel über die sich zunehmend verändernde Wählerschaft. Und über heutige kulturelle Trennlinien und Werteorientierungen, die zum Teil bisherige soziodemografische Grenzen überlagern. Hierzu zählen die Einstellungen zu Europa, zum Umweltschutz, zur Digitalisierung und Einwanderung, zum Sozialstaat und Zusammenhalt, zur Globalisierung, zu Frauenrechten und zum Minderheitenschutz. Dies führt zu Verschiebungen in der bisherigen Wählerschaft, bisweilen auch zum Aufkommen neuer oder dem Untergang alter Parteien. Wenn sich in der Gesellschaft vieles rasant verändert, ist nichts mehr sicher.

Man kann in Deutschland jedoch auch mit einer modernen, sozialen und proeuropäischen Haltung ein Momentum schaffen, wenn man es konsequent und klug anstellt. Das kurze Aufflackern nach der Nominierung von Martin Schulz Anfang 2017 hat dieses Potenzial gezeigt. Die inhaltliche und personelle Selbstdemontage folgte dann auf dem Fuß und endete in der Verknappung auf Gerechtigkeit, Sicherheit und dem »Ich bin doch einer von euch«-Mantra. Das Kuriose am Zustand der SPD liegt darin, dass sie eigentlich nur Zukunftsfragen entlang ihres traditionellen Wertekanons beantworten müsste, um neue Wähler/innen zu erreichen. Die fulminanten Erfolge von Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz, Olaf Scholz in Hamburg oder zuletzt auch Stephan Weil in Niedersachsen unterstreichen dies in der Praxis.

Die beiden dominierenden Herausforderungen der kommenden Jahre lauten: die Zukunft Europas und die Zukunft der Arbeit. Das sind klassisch sozialdemokratische Themen und gleichzeitig entscheidende Zukunftsthemen. Besser kann man es eigentlich nicht treffen.

Die SPD sollte sich auf diese konzentrieren und sich inhaltlich rüsten.
Was die SPD davon abhält, klar, laut und deutlich für ihre innersten Überzeugungen zu kämpfen und damit auch Menschen mitzureißen und neue Wähler/ innen zu gewinnen, ist mangelndes Vertrauen in die eigenen Stärken. Von 20 % zu kommen, darf einen nicht in Angststarre versetzen, sondern muss einen dazu bringen, befreit aufzuspielen.

Die SPD-Führung muss weder die Demoskopen noch die eigenen Mitglieder ständig mit Fragen belästigen. Die Führung muss einfach an die Idee der Sozialdemokratie glauben – und dann führen.

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LMAA oder Lust aufs Regieren?

Gerade komme ich von einer kurzen Auslandsreise zurück, auf der ich mehrfach gefragt wurde, weshalb denn niemand ein Land am Rande der Vollbeschäftigung mit prall gefüllten Steuersäcken und ständig nach oben korrigierten Wachstumsraten regieren will. Das empfand ich als eine nicht gänzlich unberechtigte Sicht von außen.

Deutschland will niemand regieren. Wer sich an die lustlose Erklärung von Frau Merkel erinnert, in der sie ihre Kandidatur dahinmäanderte, weiß, dass auch sie keine Lust mehr hat. Dass sie keine Ideen hat, ist nicht der Grund, die hatte sie ja noch nie. Es macht ihr einfach keinen Spaß. Martin Schulz hatte drei Monate Freude an der Sache, solange er als Kanzler gehandelt wurde. Linke und AfD wollen sowieso nicht oder es will keiner mit ihnen, die FDP kann aus Selbstbesoffenheit nicht und die Grünen feiern sich seit einer Woche dafür, dass sie nicht regieren müssen.

Jetzt habe ich auch keine Lust mehr. Ich bin politikverdrossen. Und das nach vierzig Jahren eines Lebens als Politjunkie.

Vor allem auch, weil immer alle von Problemen reden und niemand Lust auf Lösungen hat. Lust daran, unsere Infrastruktur auf Vordermann zu bringen, schnelles Internet in jeden Winkel des Landes zu legen, unsere Schulen zu modernisieren, Europa neues Leben einzuhauchen, den öffentlichen Personennahverkehr mit e-mobility und neuen Ideen voranzubringen, die Gleichberechtigung endlich zu vollenden, das Land wieder mit der Stadt zu vereinen, soziale Verwerfungen auszugleichen, ein vernünftiges Einwanderungsgesetz als Voraussetzung für ein funktionierendes Einwanderungsland zu prägen, über neue Arbeitszeitmodelle und Lebensarbeitszeitmodelle offen zu sprechen, die Energiewende zu vollenden – ja, ich weiss ja gar nicht mehr, wo man anfangen und aufhören soll, so viele spannende Aufgaben liegen vor uns. Wie kann man denn da keine Lust darauf haben?

Anders gesagt: Ich bin persönlich beleidigt, dass mich niemand regieren will. Und das, obwohl ich seit meinem 18. Geburtstag zu jeder Gelegenheit von meinem Wahlrecht gebrauch gemacht habe und auch sonst ein ordentlicher Staatsbürger bin, der nur gelegentlich falsch parkt. Und zu schnell fährt. Und – ach, lassen wir das.

Nur fürchte ich, dass noch mehr Leute in diesem Land beleidigt sein dürften – allerdings mit weitreichenderen Konsequenzen, die mir nie in den Sinn kämen.

Als Staatsbürger habe ich seit der Bundestagswahl viele Begründungen gehört, weshalb welche Partei aus welchen Gründen auch immer nicht regieren kann oder will. Es handelte sich meist um rein taktische Erwägungen. Die konnte ich mal mehr, mal weniger nachvollziehen und als Sozialdemokrat hielt ich es auch für sehr gut begründbar, weshalb die anderen jetzt mal ran sollten. Sie wollten nicht.

Lindner, weil er aus der FDP die Freiheitlichen machen will –  nur weniger rassistisch, dafür mit Diesel, aber ohne Europa, Umweltschutz, Flüchtlingen, Elektroautos und allem Sozialen. Seehofer, weil er Seehofer ist und sich selbst ständig Fallen stellt, um die er dann auf Kosten der Republik herumtapsen muss. Die SPD, weil sie sich in Reha begeben wollte, aber jetzt nicht darf. Und die CDU, die zwar will, aber auch nur, weil sie mit der Merkelnachfolge noch nicht soweit ist und solange noch das Kanzleramt braucht. Eine Idee für das Land hat sie nicht und hat daher im Vorfeld der Wahl auch jede Debatte darüber verweigert.

Ihr fahrt alle zusammen gerade die Demokratie vor die Wand.

Mehr zum Thema auch in der Phoenix Runde vom 28.11.2017

Phoenix Runde 28.11.17

 

Lasst sie gehen.

Vor vier Jahren gab es sehr gute Gründe für einen Einstieg in die Große Koalition und das Mitgliedervotum der SPD unterstützte diesen Kurs. Heute gibt es sehr gute Gründe, andere regieren zu lassen und auf Macht, Einfluss und Gestaltungsspielraum zu verzichten.

Nein, es war kein Automatismus, dass die SPD zwingend so geschwächt aus einer Großen Koalition gehen würde. Dazu gehörten schon auch eine gehörige Portion Gabrielscher Zick-Zack-Kurs mit dem wiederholt verantwortungslosen Umgang bei der Vorbereitung von Kanzlerkandidatur und Wahlkampfstrategie, sowie der immer noch herumspukende Irrglaube, man könne die SPD mit den Rezepten von gestern und vorgestern neu aufstellen.

Wie schwach Merkel und die Union tatsächlich aufgestellt waren, zeigte sich nicht nur im Aufglimmen der SPD nach der Nominierung von Martin Schulz – sondern eben auch am Wahltag selbst. Merkel war schlagbar, doch ein Wahlkampf der verpassten Chancen ließ sie noch einmal davonkommen.

Noch schlimmer verlief allerdings der Wahlkampf der Union. Ende Juni noch bei 40% in den Umfragen – und erst dann begann ja die heiße Phase – verlor die Union satte 7% durch die wohl bräsigste, arroganteste und selbstgefälligste Bundestagswahlkampagne der Neuzeit. „Für ein Deutschland in dem wir gut und gerne leben“ eignet sich vielleicht als Motto für das Dr. Oetker Kochstudio, aber mit Sicherheit nicht als Guideline für die Kanzlerpartei in einer massiven Zeitenwende. Die Wähler fühlten sich zu recht veräppelt und flüchteten sich – nicht vordringlich zur AfD – sondern vor allem zur FDP oder in die Nichtwählerschaft.

Das Versagen aller drei Regierungsparteien – und auch die intellektuelle Unterforderung der progressiven Wählerinnen und Wähler im Wahlkampf – machte das Ausfransen an den Rändern erst möglich. An manchen Tagen fühlte ich mich wie ein Telefonseelsorger und beantwortete Fragen wie: „Ich möchte nicht, dass die SPD untergeht, aber ich möchte auch nicht, dass sie weiter regiert – was soll ich tun?“ Antwort: Wähl sie trotzdem, es wird schon schlimm genug werden. Oder: „Ich kann das Grünen-Duo nicht leiden, bei der Linken stören mich die Putin-Lover und die SPD soll nicht mehr regieren – wen soll ich wählen?  Antwort: „Dann wähl halt die Grünen, wenn es sonst passt, es ist ja kein Sympathiewettbewerb.“ Und dann kamen natürlich auch einige, die Frau Merkel unterstützen wollten, aber nicht auf die Gefahr hin, damit Herrn Seehofer zu stärken. Tja. Eine Antwort auf die Schizophrenie der Union hatte ich nicht. Die FDP kam natürlich auch vor, weil sie im Gegensatz zu allen anderen auch einen Grafiker bezahlt hatte. Dort störte wiederum die legere Haltung zum Umweltschutz (Motto: Nur nicht einmischen, das wächst von alleine nach).

Beim Wahl-O-Mat siegten bei mir erstmals in meiner persönlichen Geschichte die Grünen. Ich nehme an, es war die Braunkohle. Aber am Ende lasse ich mir von einem schnöden Programm meine Fehlentscheidungen nicht verbieten. Die Grünen landen dann auch ohne mich – nach 13% in den Umfragen im November letzten Jahres – auf einem sehr mageren letzten Platz mit einem Ergebnis von 8,9%, für das Jürgen Trittin vor vier Jahren sofort zurücktreten musste (8,4%). Sie feiern sich dusselig.

Es war ein Trauerspiel.

Ein völlig unnötiges Trauerspiel. Spannende Themen lagen zu Hauf auf der Straße, wurden aber ignoriert. Auch von den mindestens ebenso denkfaulen Fragestellern in den meisten Talkrunden und dort vor allem in dem unsäglichen „DUELL“. Ein in den ersten 40 Minuten lupenreines AfD-Förderprogramm (Maischberger: „Man hat uns versprochen, dass nur gut ausgebildete Akademiker kommen“ Wer? Wann? Quelle?), bei dem ich zum ersten Mal im Leben ernsthaft Zweifel an meinen Gebühren für die Öffentlich-Rechtlichen bekam. Man nimmt ja vieles an Volksberieselung in Kauf in der Annahme, dafür Qualitätsjournalismus zu bekommen. In diesem Wahlkampf leider Fehlanzeige bis hin zur Elefantenrunde danach. Bei der ich erstmals Sympathie für Frau Kipping empfand, die auch dort einmal auf ein paar wirkliche Themen zu sprechen kommen wollte. Der Moderator verhinderte dies erneut mit aller Kraft.

Jetzt will die SPD nicht mehr und ich kann sie verstehen. Wenn mir jetzt wieder einer damit kommt, dass die SPD Verantwortung übernehmen müsse, dann wäre hier meine Antwort: Deutschland ist nicht im Krisenmodus und es steht auch nicht der Untergang vor der Türe. 87% der Deutschen haben nicht AfD gewählt, dafür die Union zur stärksten Kraft gemacht und zwei kleinere, demokratische Parteien ins Parlament gewählt, die in einem Bundesland bereits miteinander koalieren.

Sowohl die Grünen als auch die FDP haben die Regierung in diesem Wahlkampf hart angegriffen – was ja ihr Job ist – und haben jetzt die Gelegenheit, mit ihren Konzepten zu liefern. Diese Chance haben sie sich redlich verdient. Die Grünen wollten ja eh mit Frau Merkel regieren, die FDP auch, dann wird ja auch einem flotten Dreier nichts im Wege stehen. Frau Merkel jedenfalls nicht.

Die SPD wurde nach allgemein anerkannten politischen Erfolgen in der Regierung mit dem schlechtesten Ergebnis in der Geschichte nach Hause geschickt. Man kann beim besten Willen von ihr nicht verlangen, diesen Wählerwillen zu ignorieren und weiter zu regieren.

Sie stand nun vor der Frage, der AfD die Position der stärksten Oppositionspartei zukommen zu lassen, oder selbst diese Rolle zu übernehmen. Sie verzichtet auf entscheidende Häuser: Das Arbeits- und Sozialministerium, das Wirtschaftsministerium, Justiz-, Familien-, Umweltministerien mit all den politischen Einflussmöglichkeiten und auch den entsprechenden Posten. Das ist ein bisher einmaliger Vorgang.

Die SPD leistet mit ihrem Gang in die Opposition einen wichtigen Beitrag für die Demokratie. Es ist dabei trotz allem ein mutiger Schritt. Denn Opposition alleine bedeutet noch keine Rekonvaleszenz, wie die Jahre 2009-2013 – und vor allem auch dort mal wieder die versemmelte K-Frage gezeigt haben.

Diesmal aber geht es um alles – auch um die Existenz. Die SPD befindet sich seit 2002 in einem permanenten Niedergang. Sie wird daher auch einen langen Weg gehen müssen, um wieder stark zu werden. Sie wird ihre Programmatik aktualisieren müssen – und das bei einer alternden Mitgliedschaft- und Gesellschaft. Sie wird intensiv junge Talente suchen und fördern müssen. Sie wird sich in den Ländern organisatorisch neu aufstellen – und vermutlich auch den finanziellen Kahlschlag der letzten Jahre verarbeiten müssen.

Und dann muss sie eine überzeugende Oppositionsarbeit leisten, die nicht nur die neue Regierung herausfordert, sondern auch die Feinde der Demokratie rechts von ihr.

Das wird ein hartes Stück Arbeit. Dafür braucht die SPD alle verfügbaren Kräfte. Und unsere Hochachtung für diesen Dienst an der Demokratie. Lasst sie gehen.

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Der Wähler hat seinen eigenen Kopf

Hat Martin Schulz noch eine Chance? Kann die Dieselkrise Auswirkungen auf diesen Wahlkampf haben? Welchen Einfluß haben die Medien und was eigentlich macht Angela Merkel? Mit Ina Böttcher habe ich hierzu für die Tagesschau ein längeres Gespräch geführt.

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