In der neuen Folge von „61 Millionen“, dem Wahlkampf-Podcast von Hajo Schumacher und Frank Stauss, dreht sich alles um TV-Duelle, Umfragen in bewegten Zeiten, die sich aber nicht bewegen, Mitleidsstimmen und kleine Psychotricks von Profis. Enjoy.
Schlagwort: Die Linke
Auf den Kanzler kommt es an. Oder?
Die fröhliche Achterbahnfahrt der Umfragewerte setzt sich auch noch fünf Wochen vor dem Wahltag munter fort und es entspannt sich eine Debatte darüber, wie sehr denn Personen die Wahl beeinflussen oder aber am Ende doch die politische Grundüberzeugung den Ausschlag gibt. Nun, das ist eine sehr gute Frage Euer Ehren…
Am 12. April 2021 – noch vor den Nominierungen von Armin Laschet und Annalena Baerbock als Kanzlerkandidaten ihrer Partei – entwarfen wir an dieser Stelle ein Szenario für eine Renaissance von Olaf Scholz und der SPD:
„Die Union stichelt sich gegenseitig bis zum Wahltag weiter, Söder und Laschet pflegen ihren Hass ungefiltert und werfen sich gegenseitig Stöcke zwischen die Beine, die Ost-CDU versinkt weiter im braunen Sumpf und Baerbock/Habeck reden sich bei den Grünen um Kopf und Kragen.
In diesem Fall – und er ist nicht ausgeschlossen – kann Olaf Scholz das machen, was er am besten kann: Olaf Scholz sein. Seriös, ernsthaft, erfahren, stabilisierend und nach wie vor sehr beliebt aus Sicht der Wählerinnen und Wähler.
Olaf Scholz notiert seit Jahren stabil im oberen Drittel der beliebtesten Politiker Deutschlands. Er hat zwei Landtagswahlen fulminant gewonnen und Regierungserfahrung wie kein zweiter. Er kann Ende September der richtige Mann zur richtigen Zeit sein, auch wenn es jetzt im April das unwahrscheinlichste Szenario ist.“
Seither ist einiges geschehen und man muss schon sagen: Das Ausmaß an Dilettantismus der Laschet- und Baerbock-Kampagnen raubt einem den Atem, während die Scholz-Kampagne – von einer überflüssigen Episode abgesehen – reibungslos und vor allem konfliktfrei läuft.
Nun zeichnet volatile Umfragen vor allem eines aus: ihre Volatilität. Und so zäh wie sich die SPD Punkt für Punkt an die 20er-Marke heranrobbt, so schnell kann es auch wieder runtergehen. Aber vieles spricht dafür, dass CDU/CSU und Grüne die größeren Probleme vor sich haben.
Viele Erfahrungswerte der Vergangenheit zählen bei dieser Wahl nicht, da es eine solche Wahl in der Vergangenheit noch nicht gab.
Aber der Reihe nach.
Das Besondere dieser Wahl.
Hier ein paar bekannte Fakten: Zum ersten Mal in der Geschichte tritt ein:e Amtsinhaber:in nicht mehr an. Es gibt also niemanden an dem man sich abarbeiten kann. Das war noch nie da. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte, aber zum zweiten Mal gibt es drei Kanzlerkandidat:innen. Guido Westerwelle hatte sich zwar 2002 auch so bezeichnet (FDP: 7,4%), aber jetzt kommt drittens: Zum ersten Mal in der Geschichte liegen 5 Wochen vor der Wahl drei Parteien tatsächlich innerhalb der Fehlertoleranz von 3% im Rennen um Platz 1 (siehe Kantar/Emnid vom 11.8.21: CDU 22%, Grüne 21%, SPD 19%).
Die Forschungsgruppe Wahlen bildet in Ihrer Projektion vom 13.8.21 das Rennen der drei noch nicht so eng ab (CDU 26%, SPD 19%, Grüne 19%), aber in der politischen Stimmung schon: CDU 26%, SPD 25%, Grüne 21%.
Zu den außergewöhnlichen Faktoren zählen natürlich außerdem die Covid-19 Umstände mit dem besonderen Fokus der Bevölkerung auf politisches und staatliches Handeln (oder dessen Ausbleiben) sowie die Hochwasserkatastrophe in Deutschland und die Hitzewelle mit massiven Waldbränden in Europa und eigentlich der ganzen Welt. Da eine breite Mehrheit in Bevölkerung und Wissenschaft letztere Entwicklung in Zusammenhang mit dem Klimawandel bringt, ist das natürlich ein Vorteil für die Grünen, die dieses Thema klar besetzen.
Zwei Unbekannte, ein Vize-Amtsinhaber und viel Konsens.
In der generell schon unübersichtlichen Weltlage und inmitten massiver Transformationsprozesse suchen die Deutschen nun eine neue Führung. Und je orientierungsloser die Menschen sind, desto mehr suchen sie nach einem Leuchtturm, der ihnen den Weg weist und einen sicheren Hafen verspricht. Hier kommt der menschliche Faktor ins Spiel. Denn am Ende sind Menschen der Transmissionsriemen zwischen einer immer komplizierter werden politischen Welt und den Wählerinnen und Wählern.
Natürlich gibt es auch längerfristige Grundüberzeugungen bei vielen – aber gleichzeitig gibt es auch keine unüberwindbaren Konflikte mehr zwischen den Parteiprogrammen. Wenn Angela Merkel sich am Ende Ihrer 16-Jährigen Amtszeit über eine Zustimmungsrate von 83% freuen kann („macht Ihre Arbeit gut“ FGW Politbarometer Juli I, KW28), dann zeigt das bereits, wie gering unsere Gesellschaft polarisiert ist. Letztendlich sind alle Wählerinnen und Wähler und die Anhänger aller Parteien mit Ausnahme der AfD für diesen generellen Konsens in unserer Gesellschaft. Diese Stabilität zieht sich auch durch die großen politischen Fragen unserer Zeit und wird so von den Parteien auch gespiegelt.
Der Grundkonsens: zumindest in ihrer Programmatik bekennen sich alle Parteien außer der AfD zur Bekämpfung eines von Menschen gemachten Klimawandels, zur sozialen Marktwirtschaft, zu einer weltoffenen Gesellschaft (außer CDU-Ost und AfD), zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk (außer CDU-Ost und AfD) und natürlich zur demokratischen freiheitlichen Grundordnung (außer AfD).
Es gibt also viel Konsens zwischen den Parteien und der Bevölkerung. Am Ende geht es um Details. Wir erinnern uns an semantisch ähnliche Begriffe wie „Mindestlohn“ oder „Lohnuntergrenze“, die faktisch etwas anderes bedeuten, aber dennoch die gleiche Richtung suggerieren. Kurzum: Die große Polarisierung findet in unserem Land jenseits von Twitter und der BILD nicht statt und dafür sollten wir jeden Tag dankbar sein.
Und nun zurück zum Wahlkampf:
CDU, CSU, Grüne, SPD und in weiten Teilen sogar FDP und Linke bewegen sich innerhalb eines politischen Grundkonsens. Aus diesem gesellschaftlichen Konsens schert nur die AfD aus und wird dabei immer wahnsinniger, weil sie immer wahnsinniger werden muss, um die letzten verbliebenen Wahnsinnigen noch zu erreichen. Denn diese sind in ihrem Wahnsinn schon so weit fortgeschritten, dass sie das Wählen – und vor allem das Briefwählen nicht mehr beherrschen. Erst recht nicht, seit sich herumgesprochen hat, dass die Briefwahlunterlagen einen Nano-Mikro-Gates-Chip enthalten, der sich automatisch bei Berührung implantiert. Das ist ein Insider-Wissen, das ich hier nicht preisgeben sollte und es daher im Fließtext verstecke.
Wo waren wir? Ach ja: Werden politische Unterschiede nicht mehr massiv wahrgenommen, rücken die Personen natürlich umso mehr in den Fokus.
Wie stark ist also der Faktor Mensch/Kanzlerkandidat?
Das lässt sich nicht genau beziffern, aber er ist beträchtlich und nimmt aus meiner Erfahrung eher zu. Aus Landtagswahlen kennen wir das Phänomen schon länger und dort liegen uns auch Daten vor. Damit meine ich nicht die Antworten auf die Frage „Wählen Sie eher die Person oder anhand von Themen?“. Auf diese Frage bekommt niemand eine vernünftige Antwort, da sich in Deutschland ein Konsens durchgesetzt hat, dass man seine Wahlentscheidung natürlich rational und auf Basis von Themen trifft. Das ist natürlich Bullshit. Es gibt nicht einen einzigen rationalen Wähler. Das geht rein technisch nicht. Wir sind Menschen und werden immer einen Weg finden, unsere eigene Ratio zu überlisten.
Was wir deutlich sehen – zum Beispiel zuletzt im März in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg ist, dass Wählerinnen und Wähler bewusst andere politische Parteien wählen als sonst, weil ihnen Malu Dreyer (SPD) oder Winfried Kretschmann (Grüne) wesentlich wichtiger waren als ihre Parteipräferenz. Die SPD in Rheinland-Pfalz lag bei allen Bundestagswahlen der letzten Jahre und auch kommunal deutlich unterhalb der 35,7% vom 14. März 2021 und hinter der CDU.
Bei Olaf Scholz konnten wir bei seinen beiden höchst erfolgreichen Wahlkämpfen in Hamburg 2011 und 2015 ähnliche Effekte sehen. Um 2015 auf die 45,6% vom Wahltag zu kommen, musste Olaf Scholz über seine Person rund 10% mehr Wähler:innen ziehen, als die SPD im Mai 2014 bei den Kommunalwahlen erreichen konnte (35,2%). Das gelang allerdings dann auch bei einer Direktwahlquote von 70% (FGW 15.2.2015).
Der Stand zur BTW 21 Mitte August.
Bei Kantar/Emnid liegen SPD, Grüne und CDU/CSU in Schlagweite der Fehlertoleranz von 3%. Die massive Talfahrt der Union, die Stagnation der Grünen trotz des dominierenden Metathemas Klimaschutz und die Renaissance der SPD haben alle eine einzige Ursache: die Kandidaten.
Armin Laschet war vielen Menschen außerhalb von NRW nicht bekannt und die Menschen in NRW halten nicht viel von ihm. (Forsa vom 19.5.2021: CDU 25%, Wahlergebnis vom 14.4.2017: 33% – also 8% runter in 3 Amtsjahren – und das auch noch als Kanzlerkandidat aus NRW). Jetzt lernen ihn auch die Menschen in Deutschland kennen und halten noch weniger von ihm (ARD Deutschlandtrend 5.8.21 Direktwahl Kanzlerkandidat: Laschet 20%, also -8% zum Vormonat).
Armin Laschet hat in den wenigen Wochen seiner Kandidatur die CDU/CSU von 35% Mitte Februar auf 22% Anfang August abgesenkt (Kantar/Emnid). Das ist beachtlich, wenn auch nicht unerreicht. Angela Merkel hatte ihre Partei von 49% im Juni 2005 auf 35% am Wahltag im September 2005 runtergerockt. Zur Wahrheit gehört auch: Es ging von Juni an immer weiter runter für Merkel. In den letzten Umfragen vor der Wahl notierte sie noch bei 41-43%. Im August 2017 notierte die Union noch bei 40% (FGW 11.8.17), heraus kamen 32,9%. Also nochmal minus 7%. Und das war Angela Merkel. Sollte die Union sich also Sorgen machen? Ich denke, das kann nicht schaden.
Annalena Baerbock hat die Chance vertan, ihrer Partei und ihren politischen Anliegen einen Dienst zu erweisen und die Kanzlerkandidatur zurückzugeben. Sie liegt im Politikerranking der Forschungsgruppe Wahlen heute auf dem letzten Platz und als einzige – neben Armin Laschet auf dem vorletzten Platz – im negativen Bereich. Ihre Rettung: Die Grünen werden in jedem Fall ein tolles Ergebnis holen. Alle äußeren Umstände – Flut, Brände, Dürre, Starkregen – sprechen für die Öko-Partei. Weshalb sie ja jetzt auch klar in Führung liegen sollte. Sie tut es nicht weil ihre Kandidatin das verhindert.
Baerbock und Laschet haben außer ihrer Unbeliebtheit eine weitere Gemeinsamkeit: Sie haben vermeintliche bessere Kandidaten im eigenen Lager – die sie auch beide höchstpersönlich verhindert haben. Unionswähler sind nicht nur sauer auf Laschet, weil er kein guter Kandidat ist, sondern weil er ihren Lieblingskandidaten Söder verhindert hat. Das gleiche gilt für Baerbock, die Habeck verhindert hat. Das nehmen ihr viele Grünen Wähler:innen ebenso übel. Im zitierten Politkerranking der Forschungsgruppe Wahlen folgen der unerreichbaren Nummer 1 Merkel, dann Söder, Scholz und Habeck auf den Plätzen 2-4. Wählbar ist davon als Kanzlerkandidat nur Scholz.
Und so sind wir zum Ende dieses langen Blogs bei Scholz. Er lauert mit einem schlumpfigen Lächeln auf dem Gesicht auf die Fehler der anderen und kann geradezu zusehen, wie ihm Laschet und Baerbock die irritierten Wähler:innen zutreiben. Noch nicht in Scharen, aber kontinuierlich.
Wie erwähnt, muss er schon deutlich über seiner Partei liegen, damit sich das auf deren Konto zeigt, aber das tut es. Und er auch. Denn er baut seinen Direktwahlvorsprung ständig aus. Er ist der Vize-Kanzler und damit am nächsten zu einem Amtsinhaberbonus. Die SPD, das muss man immer wieder betonen – ist bei den Wähler:innen nicht per se in Misskredit. Sie hat ihnen auf Bundesebene aber in den letzten Jahren kein attraktives Angebot unterbreitet. Die SPD wird nach wie vor als „eine Partei, die ich grundsätzlich wählen könnte“ von rund 35% der WählerInnen genannt. Sie braucht davon aber nur um die 22-23%. Das ist machbar. Und Stand heute ist sogar der 1. Platz wieder drin. Denn je näher der Wahltag rückt, desto verzweifelter werden die Unionswähler:innen aber auch manche bei den Grünen, die mit Laschet und Baerbock einfach nicht klarkommen.
Der Weg von Merkel-Wähler:innen zu Olaf Scholz ist kein weiter. Das ist machbar. Außerdem könnten wir eine Demobilisierung der UnionswählerInnen erleben und ein Abdriften dieser zu FDP und Freien Wählern. Zur Erinnerung: Die Freien Wähler sitzen seit März im Landtag von Rheinland-Pfalz aufgrund der Schwäche der dortigen CDU. Die starken Werte der FDP sind auch nur durch die fehlende Bindungskraft Laschets zu erklären. Bei einem Kandidaten Söder wäre die FDP einstellig.
Ja, so sieht es aus, liebe Leute.
Schließen wir in diesen unruhigen Zeiten doch mit einem Bekenntnis zur Klarheit. Aus Hamburg 2011. Und Grüße!
Fotograf: Domink Butzmann, Agentur: BUTTER.
Die Würfel fallen weiter.
Mitte April – noch vor der Wahl in Sachsen-Anhalt sowie den Nominierungen von Frau Baerbock und Herrn Laschet – warfen wir unter dem Titel „Die Würfel fallen noch“ einen ersten Blick auf die Bundestagswahl 2021. Seither ist einiges geschehen. Und: Es wird noch einiges geschehen, bevor Ende September verunsicherte Parteien auf verunsicherte Wähler treffen.
Sagen wir mal so: Zurzeit bekommen alle ihr Fett weg. Die Grünen stolpern nach einem Stolperstart und einem sehr mageren Ergebnis in Sachsen-Anhalt spürbar nervös und auch ein bisschen giftig Platz 3 entgegen. Die Union robbt nach der willkürlichen Nominierung des zweitbesten Kandidaten (von zweien) langsam Richtung der für sie jedoch immer noch mageren 30-%-Marke. Die SPD bleibt ausschließlich durch ihren unerschöpflichen Kanzlerkandidaten im Rennen um Platz 2. Die FDP profitiert deutlich sowohl von enttäuschten Söder-Wählern als auch von der Spannungsarmut des Rennens um Platz 1, weiß aber nicht, ob man dem trauen kann. Die AfD reduziert sich zwischen Spendensumpf und Querdenkern zur Partei der endgültig und völlig Verstörten. Die Linken sind die Linken und suchen in ihren Pressekonferenzen immer irgend etwas auf dem Boden, vermutlich Halt.
Nach heutigem Wasserstand kann man eines schon mal festhalten: Das Rennen um Platz 1 ist wohl gelaufen, die Zusammensetzung der künftigen Bundesregierung und auch, wer letztendlich ins Kanzleramt einzieht, allerdings noch lange nicht.
Wie im April bereits erwähnt, spielt die Verteilung der Themenprioritäten sowohl der Union als auch den Grünen in die Hände. In der KW 23 (07.06.2021 ff.) nahm laut ZDF-Politbarometer der FGW die Dominanz des Corona-Themas weiter ab (von 66 % auf 51 %), Umwelt/Klima/Energie bleibt mit starken 30 % das dominierende Sachthema jenseits von Corona mit klarem weiteren Wachstumspotenzial im Sommer. Danach laufen wir schon Richtung „Vermischtes“ zwischen je 9 % (Soziale Gerechtigkeit, Wirtschaftslage, Politikverdruss/Affären) und 8 % (Ausländer/Flüchtlinge/Asyl) sowie den mit 6 % bis 4 % noch knapp über dem Radar fliegenden Themen Bildung/Schule, Rente, Arbeitsmarkt, Infrastruktur.
Gleichzeitig steigt die Zufriedenheit mit Bundesregierung und Kanzlerin wieder deutlich an, und sosehr ich der SPD gönnen würde, dass auch sie davon profitierte, spricht die Lebenserfahrung dagegen. Und natürlich die Tatsache, dass die Kanzlerin zwar nicht mehr antritt, aber doch immer noch von der CDU ist und die Bundesregierung von der Union geführt wird.
Die von manchen Forschern entdeckte „Wechselstimmung“ sehe ich nicht als Vorteil von irgendjemanden, denn ein Wechsel findet ja in jedem Fall statt. Es wird nach 16 Jahren jemand anderes ins Kanzleramt einziehen und das reicht den meisten Deutschen auch schon an Wechsel.
Dennoch bleibt auch im Juni wahr, was im April schon stimmte: Diese Bundestagswahl ist alleine schon durch die nicht mehr antretende Amtsinhaberin wie keine zweite in der Geschichte der Republik und das auch noch in einem pandemischen Umfeld, das es so noch nicht gab und einem Kanzlerkandidaten-Trio, von dem tatsächlich alle drei noch Chancen auf den Chefsessel haben. Aber wie?
Die geringsten Chancen auf den Top-Job gebe ich Annalena Baerbock und die größten – keine Überraschung hier – Armin Laschet. Die SPD und Olaf Scholz finden sich, wie so häufig, in der Mitte. Eine Position, in der man sich ausdehnen oder aber zerquetscht werden kann.
Gehen wir ins Detail: Annalena Baerbock ist im Jahr 2021 einfach noch nicht reif für den Job. Das haben wir hier schon häufiger festgehalten und hat auch nichts mit Geschlecht oder Alter zu tun, sondern mit Lebenslauf und Regierungsqualifikation. Dass die Deutschen kein Problem mit einer weiblichen Kandidatin haben, zeigen 16 Jahre Merkel überdeutlich. Sie haben ein Problem mit dieser Kandidatin. Ja, Baerbock wurde nicht nur, aber vor allem in den Sozialen Medien unter der Gürtellinie angegriffen. Davon können Frau Künast, Frau Roth, Frau Ypsilanti oder eben auch Frau Merkel und viele mehr ein lautes Lied singen. Und sehr viele Männer auch. Doch nur, weil manche Angriffe mehr als übergriffig sind, steigt ja nicht die eigene Qualifikation. Hinzu kommen schlimme Fehler der Wahlkampfleitung und ein neuer, fatal lamoyanter Ton.
Die politischen Angriffe auf Die Grünen und ihre Kandidatin wiederum waren absolut vorhersehbar und sind auch frei jeglicher Originalität. Umso beschämender, dass die Kampagne genau hierfür keine überzeugenden Abwehrmechanismen erarbeitet (und getestet) hatte. Und auch, dass man die Kandidatin offenbar nicht davor bewahren konnte, sich selbst immer neue Stolperfallen zu stellen.
Die Wucht, mit der Baerbock in den Umfragen nach unten stürzte und im Juni im ZDF sogar auf dem letzten Platz hinter Wagenknecht, Lindner, Spahn notiert, spricht Bände. Sie war zwar nie ein wirkliches Zugpferd, aber jetzt wird sie zur Belastung. Im Lager der Grünen hofft man jetzt auf den Wetterbericht. Aber diese Kandidatur ist am Ende – und kann nur noch durch ein Wunder gerettet werden.
Dieses Wunder heißt Armin Laschet. Denn auch wenn er einige wenige Jahre als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen auf dem Buckel hat, ist auch er in den Augen der meisten Wählerinnen und Wähler ein eher unbekannter Kandidat. Wir sprechen hier von einem weitgehend undefinierten Bewerber, der erst im Laufe dieses Wahlkampfes aus Sicht der meisten Menschen im Land Gestalt annehmen wird. Laschet ist ein Kandidat, den niemand gerufen hat, der keinerlei Begeisterung weckt und den bis vor ein paar Monaten auch niemand auf der Rechnung hatte. Gleichzeitig ist das im Prinzip sein Lebenslauf. Er kam immer dorthin, wo er hinwollte, weil er völlig schmerzbefreit auf die Fehler der anderen wartet und die eigenen aussitzt. Unfreiwillig räumte er in NRW das Feld für den Spitzenkandidaten Röttgen, nur um nach dessen krachender Niederlage selbst Ministerpräsident zu werden. Und selbst im Jahre vier seiner Amtszeit in NRW sucht man dort vergebens nach wirklichen Fans. Im Mai 2021 notiert seine Partei dort bei 25 % – unter dem Wahlergebnis von Röttgen 2012.
Laschet hat den Kampf gegen Söder nicht nur aus persönlicher Abneigung aufgenommen – er wusste auch, dass die Kanzlerkandidatur für die Union schon mehr als nur die halbe Miete auf dem Weg ins Kanzleramt ist. Das liegt mehr an dem Zustand der anderen als an dem Zustand der Union. Denn Hand aufs Herz: Die Union ist der eigentliche Bremsklotz Deutschlands auf dem Weg in die Zukunft. Herrschte wirklich Wechselwille im Land, dann müsste man als erstes die Union in die Opposition schicken. Die Union bremst auf allen wichtigen Politikfeldern und wirkt auf Bundesebene auch noch mit einer Ministerriege, die jede Pannenstatistik anführt. Von Scheuer zu Spahn, von Seehofer zu Kramp-Karrenbauer, von Klöckner zu Karliczek und Altmaier. Die bekommen alle durch die Bank weg nichts auf die Reihe, bremsen aber, wo sie können, alle zwingend notwendigen Transformationsprozesse in Wirtschaft, Sozialem, Umwelt, Bildung, Tierschutz … you name it, they failed it.
Aber die Union ist trotz sinkender Anteile der unbestrittene Marktführer auf dem bundesdeutschen Parteienmarkt. Sie lebt von einer alles in allem doch recht treuen und dadurch am Ende auch stabilen Wählerklientel. Die Union muss sich sehr, sehr anstrengen, um in Deutschland eine Bundestagswahl zu verlieren – und die anderen müssen sich sehr, sehr anstrengen, um sie zu gewinnen.
Das Problem von SPD und Grünen: Laschet weiß um seine Schwächen. Er hat sie mehr als einmal schmerzhaft vor Augen geführt bekommen. Er weiß, dass er sich nicht verausgaben muss auf dem Weg ins Kanzleramt – er darf nur keine groben Fehler machen. Dass er aus einer Position des Marktführers und wahrscheinlichsten Gewinners der nächsten Wahl Hilfe sucht und in der Person von Tanit Koch auch gefunden hat, unterstreicht seine Stärke. Eine Kommentierung nach dem Motto „Laschet traut es sich und seinem Generalsekretär alleine nicht zu“ war ihm zu Recht egal. Denn am Ende zählt nur der Erfolg.
Wir werden also einen Laschet erleben, der auf seiner Habenseite durchaus eine stringente und daher vertrauenswürdige Vita vorweisen kann, die ihn in sozialen, gesellschaftlichen und migrationspolitischen Fragen im Merkel-Lager verortet – während er wirtschaftspolitisch vom Grundvertrauen der Deutschen in die Union profitieren kann. Er wird sich nicht in unnötige Manöver (wie Merkel mit „dem Professor aus Heidelberg“ 2005) stürzen, sondern möglichst ruhig seiner strategischen Mehrheit entgegen segeln.
Der einzige, der Laschet noch gefährlich werden kann, ist Olaf Scholz. Ja, jener Olaf Scholz, den alle schon wieder einmal fröhlich ab- oder in Grund- und Boden geschrieben haben. Seinem Standing in der Bevölkerung hat das nicht wirklich geschadet. Er bleibt weiter im oberen Drittel der Beliebtheitsskalen und führt bei einigen Instituten auch in der Kanzlerfrage. Nicht weltbewegend weit, aber immerhin.
Scholz hat kein Kompetenzproblem, das hat dafür seine Partei. Die Werte bezüglich der Zukunftskompetenz der SPD sind durch die Bank weg niederschmetternd. Sachlich ist das nicht zwingend immer nachvollziehbar, aber wir reden hier ja auch über eine Wahl. Und da gesellt sich schon automatisch zu jedem Argument das passende Gegenargument. Wenn Scholz garantiert, dass die Rente mit 68 nicht kommen wird, dann verweisen die anderen darauf, dass mit der SPD schließlich die Rente mit 67 bereits kam. Die dringende Notwendigkeit, auf vielen Ebenen die Transformationsprozesse voranzubringen, ist richtig, aber auch hier ist es eben so, dass die SPD ja nicht nur mit einer Unterbrechung seit 1998 im Bund regiert, sondern in vielen Ländern ebenso. Und so geht das immer weiter. Dennoch: Scholz genießt durchaus weit über das eigene Lager hinaus Anerkennung und Respekt, weshalb er trotz allem vom Grünen-Fallout profitieren kann.
Das Hauptziel der Scholz-Kampagne über die letzten Wochen war es, wieder zu den Grünen aufzuschließen und im Rennen um Platz zwei überhaupt erst wieder vorzukommen. Im April hieß es bei uns: Die SPD kann aus eigener Kraft nicht mehr gewinnen, sie muss auf die Fehler der anderen zählen. Und diese Fehler wurden gemacht. Vor allem bei den Grünen – aber zum Teil eben auch bei der Union. Denn auch diese könnte natürlich in den Umfragen schon weiter sein als sie es heute ist.
Die Grünen, aber auch die Union, haben die SPD und Scholz wieder ins Spiel gebracht. Das Rennen um Platz zwei ist wieder offen. Die Grünen stehen bei der Bundestagswahl, aber auch bei den zeitgleichen Landtagswahlen unter enormem Druck und das Leben lehrt, dass sie diesen nicht aushalten.
Wird die SPD aber stärker als die Grünen, dann ist sowieso vieles drin. Denn auch Laschet hat bei allen selbst erkannten Schwächen eben immer noch seine selbst erkannten Schwächen. Er ist ein Kandidat, der zu groben Fehlern fähig ist. Merkels schlechtestes Ergebnis lag übrigens bei 32,9 % – vor vier Jahren. Die Chance, dass Laschet deutlich darunter notiert, ist da. Zwischen dem 07.07. und dem 11.08.2017 lag die Union stabil bei 40 % in den Umfragen. Am 24.09.2017 bekam sie dann 7,1 Prozentpunkte weniger.
Executive Summary:
Scholz rauf.
Baerbock runter.
Laschet vorn.
Ausgang offen.
Die Würfel fallen noch.
Dieser Beitrag erschien erstmals auf richelstauss.de
Die Unvergleichbare.
Es gibt in der bundesrepublikanischen Demokratiegeschichte keinen wirklich passenden Vergleich zu dieser bevorstehenden Bundestagswahl. Mal ganz abgesehen davon, dass vergangene Wahlkämpfe sowieso mehr für Historiker taugen als für Wahlkämpfer. Aber ein paar Parallelen zeigen sich doch bei einem Rückblick auf die bis dato spektakulärste Kampagne der letzten Jahrzehnte.
Ein Wahlkampf ist immer eine Vorwärtsbewegung. Die Fehler oder verpassten Chancen vom Vortag zählen nicht mehr auf dem Weg zum Wahltag, weil zum Wundenlecken keine Zeit bleibt. Der Wahltag nimmt keine Rücksicht auf Nostalgiker – und dieser bevorstehende Wahltag noch weniger als jeder zuvor, da die Briefwahl bisher ungekannte Ausmaße annehmen wird und damit wochenlang Wahltag ist. Mit dem Showdown am 26.09.2021.
Jeder Wahlkampf ist ein Unikat. Aber natürlich sucht man bei den vielen Umwälzungen der letzten Wochen und Monate dennoch nach Erfahrungswerten, die vielleicht doch etwas bedeuten könnten. Und da kommt die Bundestagswahl 2005 ins Spiel.
2005 / 2021. Die Parallelen.
1. Krise, Unruhe, mediales Trommelfeuer.
Deutschland steckte inmitten einer großen Wirtschaftskrise mit fünf Millionen Arbeitslosen zum Jahreswechsel 2004/2005. Die Verunsicherung in der Bevölkerung war groß, Medien und CDU-CSU-FDP-Opposition trommelten ohne Unterlass und forderten nahezu unisono weitergehende neoliberale Reformen, den Abbau von Arbeitnehmerrechten, die Anpassung an die globale Wirtschaftsordnung, Steuersenkungen für Konzerne und Unternehmen, einen Niedriglohnsektor und dass jetzt alle den Gürtel enger schnallen etc. pp. Man wollte die bereits eingeführte Agenda 2010 also noch viel härter fortschreiben als das unter Rot-Grün bereits geschehen war. Die Verunsicherung in der Bevölkerung war hoch.
2. Ein Kanzler, der zwar wieder antrat, aber eigentlich auch wieder nicht.
Am 22.05.2005 – dem Abend der NRW-Landtagswahl – kündigte Gerhard Schröder an, dass er Neuwahlen anstrebe. Das taugt ein bisschen zur Parallele, da Schröder es fertigbrachte, seine Regierung und seine Partei für die Neuwahlen verantwortlich zu machen (zu wenig Rückhalt) – dann aber dennoch wieder antrat. Das nahm aber niemand ernst. Schröder war in den Augen der Betrachter abgewählt, bevor er wieder antrat. Merkel tritt nun erst gar nicht mehr an – und das aus freien Stücken. Aber de facto war auch Schröder 2005 ein Dead Man Walking, Lame Duck, Auslaufmodell, ….
3. Volatile Umfragen – versus klares Medienbild.
Medial war der Wahlkampf gelaufen, bevor er begonnen hatte. Die Umfragen bestätigten dies. Emnid am 01.06.2005: CDU/CSU 48 %. Forsa am 22.06.2005: CDU/CSU 49 %. Also jeweils die absolute Mehrheit der Sitze für die Union ohne Koalitionspartner. Bei Forsa sprechen wir über einen Abstand von drei Monaten zur Wahl am 18.09.2005.
4. Siegeszuversicht bei allen anderen – Überraschung am Wahltag.
CDU/CSU fühlten sich so sicher, dass sie zu Scherzen aufgelegt waren und seltsame Personalentscheidungen (für Kenner: „Den Professor aus Heidelberg“) ankündigten, während der FDP-Vorsitzende Westerwelle mit der sicheren Siegerin Merkel zu einer fröhlichen Cabriofahrt mit Fototermin aufbrach. Danach schmolzen die Werte der Union zwar wie ein Magnum in der Sonne, aber wie der sichere Sieger sah die Union bis zum Wahltag aus.
Die letzte Allensbach-Umfrage zwei Tage vor der Wahl sah die Union bei 42,5 %, FGW und Emnid hatten sie zuvor auf 42 % taxiert, die SPD 8 bis 9 Prozentpunkte dahinter.
Erst am Wahltag selbst kam es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU/CSU und SPD bis in den späten Abend. Am Ende reichte es nicht mal mehr für Schwarz-Gelb – von den 49 % der Union im Juni blieben ihr im September 35,2 %, die SPD landete exakt 1 % dahinter. Im Vergleich zu ihren Alltime High/Low in der Kampagne verloren CDU/CSU fast 14 Prozentpunkte, die SPD gewann etwas über 8 innerhalb von etwas über drei Monaten.
2005, 2021 und die Kompetenz-Kompetenz.
Natürlich sprechen wir 2021 über eine veränderte Parteienlandschaft, mediale Umbrüche, deutlich veränderte Marktanteile der einzelnen Parteien und jetzt auch über ein völlig neues Personaltableau.
Was 2005 und 2021 aber in eine vergleichbare Liga pusht, sind die extremen äußeren Umstände, die volatilen Umfragen mit heute noch größeren Ausschlägen, die hohe Politisierung der Bevölkerung, die mediale Überaufgeregtheit und die außergewöhnliche Personalkonstellation.
In Richtung Wahltag ging es 2005 aber nicht nur mit der Union bergab, sondern auch mit Merkel. Das TV-Duell gewann nach allen Umfragen Schröder sehr deutlich (FGW: 28 % : 48 %). Und in der Bevölkerung machte sich in den turbulenten Tagen eine Stimmung breit, die Merkels Kompetenz deutlich hinterfragte. In der Direktwahlfrage zog Schröder wieder deutlich an ihr vorbei (35 % : 54 %)
Apropos Kompetenz: Merkel war zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren Bundesvorsitzende der CDU, zuvor 1998 bis 2000 CDU-Generalsekretärin, seit 15 Jahren Bundestagsabgeordnete, von 1991 bis 1994 Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesumweltministerin, seit 2002 Oppositionsführerin im Deutschen Bundestag. Am Ende hat sie ja auch gewonnen, aber sehr knapp.
In der Folge war Merkel dann die Amtsinhaberin, der die Deutschen die Kompetenz-Kompetenz zusprachen. Obwohl ihre Herausforderer – ein ehemaliger Außenminister, ein ehemaliger Ministerpräsident von NRW und Bundesfinanzminister und ein ehemaliger Präsident des Europäischen Parlamentes – nicht gerade unterqualifiziert für den Job waren. Aber die Deutschen neigen besonders auf Bundesebene zu keinen großen Experimenten und schätzen das Verlässliche mehr als die Veränderung.
Und 2021? Mehr qualifiziert als Merkel 2005 geht eigentlich kaum. Es sei denn, man war Innensenator von Hamburg, Bundesminister für Arbeit und Soziales, zweifach wiedergewählter Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg und ist Bundesminister der Finanzen und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Einen Amtsinhaber gibt es 2021 nicht, aber einen Vize-Amtsinhaber.
Es bedeutet 2021 natürlich nicht, dass auf außergewöhnliche Zeiten nicht auch außergewöhnliches Wahlverhalten folgt. Dafür ist alles zu volatil. Man kann allerdings attestieren, dass in der Geschichte der Bundesrepublik die Kanzlerkandidat*innen über umfangreiche Qualifikationen verfügten und die Amtsinhaber*innen sowieso. Auch diese unausgesprochene Regel wird 2021 durchbrochen. Man wird sehen, wie das endet. Bisher haben die Wähler*innen die Kompetenzfrage jedenfalls sehr ernst genommen.
Eine Lehre, die man auf jeden Fall aus 2005 ziehen kann:
It ain’t over ´til it’s over.
Heute stehen wir übrigens noch weiter entfernt vor der Wahl als die beschriebenen drei Monate 2005. Es wird noch sehr, sehr viel passieren in dieser unvergleichbaren Wahl.
Dieser Text erschien zunächst auf richelstauss.de