Sunday, bloody Sunday.

Kanzlerinnendämmerung, drohender Rechtsruck der Union, SPD-Dauerkrise, neue Vorhaben, mögliche Ultimaten. Nach Merkels angekündigtem Rückzug sollte man sich Größerem widmen als einem „störungsfreien“ Abarbeiten des Koalitionsvertrages. Oder es einfach sein lassen. Einordnungen und Anregungen.

Bei der Bundestagswahl im September 2017 verloren die GroKo-Parteien zusammen 13,8 Punkte. Von 67,2% auf 53,3%. Man dachte, das sei viel. Nach der Neuauflage im März 2018 verloren sie in Bayern gemeinsam 21,4% und schließlich in Hessen erneut 22,2 Prozent. Die Wahl in Niedersachsen passt nicht als Gegenbeispiel, da diese bereits drei Wochen nach der Bundestagswahl stattfand, als die SPD eine Neuauflage der GroKo noch ausgeschlossen hatte. Nach diesem dritten blutigen GroKo Wahlabend in Hessen sollte allen klar sein, dass es so nicht weitergehen kann. In aktuellen Umfragen kommen die drei Koalitionspartner zurzeit noch auf 39-41%. Aber was ist zu tun?

Die Antwort für die größte Leidtragende der zwei Oktoberwahlen, die SPD, fällt nicht so einfach aus, wie man es sich in einer solchen Situation wünschen mag. Denn wenn die Partei ehrlich zu sich selbst ist, löst ein Groxit keines ihrer inhaltlichen oder auch personellen Probleme. Die Grünen haben sich in den langen Jahren der Opposition inhaltlich wie personell deutlich verändert. Dafür haben sie 13 Jahre benötigt. Und sind immer noch Opposition. Dreizehn Jahre, in denen sie erst nach links, dann deutlich in die Mitte gewandert sind und auch erst vor einem Jahr die klare personelle Erneuerung gewagt haben. Dazwischen lagen sehr lange Durststrecken bis in den Oktober des Jahres 2017, als sie als kleinste Fraktion in den neugewählten Bundestag einzogen. Das war gerade einmal vor einem Jahr.

Heute erntet die Partei die Früchte dieser Erneuerung und hat sich zur moderneren, klareren und dynamischeren Antwort für die moderne Mitte in Deutschland gemausert als es SPD und Linke sind. Sie profitieren auch von dem Unions-Fallout, der bei Weitem nicht so hoch ausfallen würde, wenn große Teile der CSU und kleinere der CDU nicht so scharf rechts blinken würden. Die Grünen entfalten heute eine Dynamik, wie sie die SPD mit Martin Schulz für sehr kurze Zeit Anfang 2017 entfachen konnte. Und zwar so lange, bis Kandidat und Partei in eine inhaltliche und angstgetriebene Schwurbelei zurückverfallen sind, die jede Illusion eines progressiven Aufbruchs zerplatzen ließ.

Diese angstgetriebene Schwurbelei – über viele Jahre seit 2005 praktiziert – wird die SPD auch in die Opposition begleiten. Dazu zählen heute besonders die ungeklärten Positionen in der Sozialpolitik, der Umweltpolitik und der Europa- und Friedenspolitik. Wem das zu abstrakt ist, hier ein paar Stichworte: Braunkohle, Diesel, Hartz IV, Putin, Trump, Europäische Integration und Waffenexporte. Eine SPD in der bundespolitischen Opposition kann diese Fragen dann mit Landesverbänden klären, die sich politisch verantwortlich für Arbeitsplätze in der Braunkohle und/oder der Automobilindustrie fühlen. Das ist lösbar. Aber weder so schnell noch so radikal wie sich das einige vorstellen.

Kann die SPD sich also trotz allem auch in der Regierung erneuern? Das zu glauben fällt schwerer denn je. Und das hat nichts mit dem sehr sozialdemokratischen Koalitionsvertrag zu tun, sondern maßgeblich mit einem schlimmen Tripple: Grenzzurückweisungen, Maaßen und Diesel. Denn nichts davon hatte mit Regieren zu tun, auch nicht mit einem zwar guten, wenn auch nicht wirklich „großen“ Koalitionsvertrag. Man kann den „Dieselkompromiss“, als dritten und vorläufigen Gro-Gau-Höhepunkt gar nicht ernst genug nehmen bei der Beurteilung der gegenwärtigen Ergebnisse für die Parteien der Großen Koalition. Man sollte auf jeden Fall schon einmal beherzigen, dass, wenn drei sich treffen und bis zum Morgengrauen zusammensitzen, nichts Gutes entstehen kann. Eine Formel, die generell für das Leben anzuwenden ist. Klar, man kann und muss die Hauptschuld bei allen missglückten Ergebnissen vor allem bei der CSU suchen und finden, aber das hilft ja am Ende nichts. Schließlich hat diese auch stark verloren. Doch wer an hessischen Infoständen unterwegs war, der hat erlebt, dass es in den letzten 14 Tagen um nichts anderes mehr ging als um Diesel, Diesel, Diesel. Die nicht umsetzbare Quatschformel, die in dieser unglücklichen Nacht entstanden ist, hat es geschafft, alle unglücklich zu machen: Dieselfahrer, Dieselgeschädigte und alle dazwischen.

Der „Dieselkompromiss“ hat den Eindruck verschärft, dass die Regierung nicht auf der Seite der Verbraucher, sondern der Bosse steht. Verkannt wird dabei, dass beiden – Regierung und Bossen – bei dem Blick in die Zukunft der deutschen Automobil- und Zulieferindustrie der nackte Angstschweiß auf der Stirn steht. Wir stehen hier vor einem möglichen Fiasko, wogegen sich die große Stahlkrise der 80er und 90er Jahre wie ein leises Rumpeln ausmachen könnte. Die eigentlichen Opfer von Dieselgate sind die Kunden, aber eben auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren gute und gut bezahlte Arbeitsplätze von der unglückseligen Allianz aus Vorständen, einigen mächtigen Betriebsräten, Lobbyisten und handzahmen Politikern massiv gefährdet werden.

Die Dieselstrategie der deutschen Industrie ist weltweit so krachend gescheitert, wie kaum eine andere wirtschaftliche Strategie dieser Größenordnung zuvor. Und auch wenn die Politik durch lasche und dehnbare gesetzliche Rahmenbedingungen eine Mitschuld trägt, liegt die Hauptschuld dort, wo sie auch hingehört: bei megabezahlten Vorständen, die nicht nur ein unverschämt vielfaches ihrer Angestellten verdienen – sondern auch das mehrfache Gehalt von Abgeordneten, Ministern oder auch der Kanzlerin. Warum so ein großer Schlenker zur Automobilindustrie? Weil sie symptomatisch ist für das gegenwärtige Ungleichgewicht, das viele wahrnehmen. Die Mitarbeiter wissen doch längst, dass ihre Bosse den Karren breitbeinig und verantwortungslos in den Dreck gefahren haben. Und die Mitarbeiter sind nicht stolz darauf, Dreckschleudern oder gar betrügerische Produkte zu produzieren. Sie würden auch lieber fortschrittliche, saubere und kundenfreundliche Produkte herstellen, da auch sie Kinder haben und diese in einer gesunden Umgebung aufwachsen sehen wollen. Sie sehen nur keinen Ausweg. Diesen Ausweg zu zeigen, den Struktur- und Mentalitätswechsel in dieser Krisenindustrie zu fördern, das ist jetzt die Aufgabe von Politik und einer Arbeitnehmerpartei. Nicht die Zementierung des Status Quo, die am Ende nur zu der Frage führen wird: „Papa, was war denn ein Volkswagen?“ „Ein Auto.“ „Lustiger Name.“

Gleiches gilt natürlich für die Braunkohle, die kein Mensch mehr braucht, außer denen, die unmittelbar davon ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dass der Staat es nicht schafft, Hand in Hand mit der Industrie in Boomzeiten den Betroffenen eine vernünftige Alternative anzubieten, ist ein Armutszeugnis. Vor allem bringt es die Arbeiter in eine schreckliche Situation. Einige von ihnen meinen nun, dass sie ein paar Aktivisten bekämpfen müssten, um ihre Arbeit zu behalten, während absolut jeder Verantwortliche in den betroffenen Unternehmen und der Regierung weiß, dass dieses Kapitel endgültig geschlossen wird – und auch früher als erwartet. Hier ist die Arbeiterpartei gefragt, die erneut nicht den Status Quo erhalten darf. Denn der ist Mist für alle.

Die dritte bedeutende Baustelle ist die Frage einer solidarischen EU, die angesichts neuer ökonomischer wie militaristischer Bedrohungen aus dem Osten wie dem Westen die einzige Antwort sein kann. Auch hier tritt allen Beteiligten der Angstschweiß auf die Stirn. Mehr EU ohne mehr Solidarität geht nämlich nicht. Und mehr Solidarität bedeutet natürlich auch engere Kooperation und Verantwortung. Die Bundesregierung hat sich bisher entschlossen, die Initiativen von Macron weitgehend zu ignorieren. Man kann diese in Teilen gut oder schlecht finden, aber die Frage bleibt dann, welche Initiativen denn von dieser Großen Koalition ausgehen, damit sie den Namen „Groß“ verdient.

Dies waren nur einige Beispiele die zeigen, dass sehr, sehr große Herausforderungen vor dieser Regierung liegen. Dies kann eine Chance sein, wenn man sie jetzt angstfrei angeht. Hat man aber Angst davor, zu regieren, dann sollte man es einfach sein lassen. Nur mit Trippelschritten ist diese Regierung jedenfalls nicht zu retten – und man wüsste auch nicht, weshalb man sie retten sollte.

Deutschland steht nicht vor einem Rechtsruck. Auch das haben die letzten Wahlen gezeigt und die Umfragen ebenso. Die große friedliche und demokratische deutsche Mitte – rund 75-85%, sortiert sich zwischen CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP und in manchen Bundesländern, wie etwa Thüringen, zähle ich die Linke mit zur demokratischen Mitte. Das Pendel schlägt zurzeit eindeutig in Richtung des modernen Deutschlands. Dafür muss die Politik die Zukunft der Arbeit mit der Zukunft der Welt, in der wir leben und der Art, wie wir in dieser Welt zusammenleben wollen, verbinden. Welche progressive Partei sich hierfür am besten aufstellt, wird die Zukunft gewinnen. Eine tolle Aufgabe. Man sollte irgendwas mit Politik machen.

Dieser Beitrag erschien erstmalig auf richelstauss.de

 

Der Fisch. Der Kopf. Und der Gestank.

Es ist offensichtlich, dass Deutschland sich einen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz leistet, der den Schutz der Verfassung nicht zu seinen Aufgaben zählt.
Die AfD regiert Deutschland schon seit einiger Zeit mit, das ist kein Geheimnis. Ihr Gedankengut frisst sich in die Köpfe von Staatsschützern, Polizisten, Politikern, Richtern, Redaktionen und weiteren für die Teilung der Gewalten Zuständigen dieser Republik. Der braune Sumpf breitet sich immer weiter aus und ist längst kein ostdeutsches Problem mehr. Wir finden ihn im (ehemaligen) Freundeskreis, im Streifenpolizisten, im KFZ-Meldeamt, in feinsten Hamburger Redaktionsstuben und in Horst Seehofer sowieso.
Viel zu lange wurde der Verrohung der Sprache einerseits und der Verharmlosung der faschistischen Tendenzen in und um die AfD andererseits zugesehen, ohne zu handeln. Es gab Zeiten in diesem Land, da trat ein Bundestagspräsident oder eine Justizministerin wegen unglücklicher Vergleiche zurück – obwohl man von beiden wusste, dass es wirklich nur unglückliche Vergleiche waren und niemand an ihrer demokratischen Integrität zweifelte. Das war viele, viele Jahre, bevor sich alte Männer in der immer reaktionäreren ZEIT über etwas wie politische Korrektheit aufregten. Die hatte damals noch keinen Namen, man hatte sie einfach.
Nach den vielen Fehlern des Präsidenten des Verfassungsschutzes, nach seinen schon bisher mehr als zweifelhaften Ein- und Auslassungen zu faschistoiden Tendenzen in der Republik war sein völlig anlassfreies BILD-Interview die Krönung der rechten Selbstverortung. Schon fast wieder in den Hintergrund gerückt ist seine offensichtlich kostenfreie (das heißt auf Steuerzahlerkosten) Rechtsberatung der AfD-Spitze, wie man am besten dem Verfassungsschutz entgeht. Und wer wüsste das besser als er.
Animiert zu seinen schlampigen und schlecht recherchierten Statements wurde Herr Maaßen direkt oder indirekt von seinem Vorgesetzten Horst Seehofer, der seit 2015 ununterbrochen die Bundesregierung destabilisiert – erst von außen, dann von innen. Wenn der eigene Chef die Kontrolle über seine Sprache verliert, darf man sich nicht wundern, wenn Untergeben das als Freibrief verstehen.
Es ist offensichtlich, dass die AfD in dem Präsidenten des Verfassungsschutzes einen Mann an einer der Schlüsselstellen der demokratischen Republik sitzen hat, der dort nicht einen Tag länger sitzen darf. Und wenn der Bundesinnenminister ihn nicht entlässt, muss der Bundesinnenminister mit ihm gehen. Das ist jetzt die wichtigste Aufgabe dieser Regierung, will sie ihre rechtsstaatliche Integrität erhalten.
Das ist jetzt alles kein Spiel mehr. Es ist nicht mehr die Zeit, zu taktieren, nach dem Motto: „Wir warten mal die Bayern-Wahl ab, denn löst sich das von selbst.“ Jetzt ist die Zeit, gerade für die Bundeskanzlerin, von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen. Und wenn sie dazu nicht in der Lage ist, muss sie gehen. Jetzt ist die Zeit, dass sich alle Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung noch einmal die Geschichte dieses Landes vor Augen halten sollten. Den Anfängen zu wehren ist jetzt. Laut, klar, unmissverständlich und im Zweifel auch mit letzter Konsequenz.
Der Fisch stinkt vom Kopfe her. Und wer sich zu lange in der Nähe eines toten Fisches aufhält, beginnt selbst zu stinken.
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Die Stagnatikerin

Was Bundeskanzlerin Merkel in ihrer vierten Amtszeit anstrebt, hat mit Pragmatismus absolut nichts mehr zu tun. Es ist plumpes Taktieren, pure Stagnation und besorgniserregende Realitätsverweigerung.
Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass diese Kanzlerin absolut nichts mehr antreibt als das eigene Überleben im Amt, dann sollte man sich einfach nur ihr völlig missglücktes Sommerinterview ansehen. Im Vorfeld hatte sie mit Erzfeind Seehofer ein paar Wordings abstimmen lassen, damit wenigstens diese Front nicht schon wieder aufreißt. Ihr Ziel war es, Seehofer zu befrieden, und nicht das Land zu regieren. Um dieses Zieles willen, ließ sie ihren (eigentlichen) Parteifreund, den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein (go, google him) eiskalt auflaufen.

Das Argument, gut ausgebildete Flüchtlinge, müsse man trotz Fachkräftemangels zurückschicken, weil sie sonst nur noch mehr Flüchtlinge anlocken würden, ist mit nichts einfacher zu widerlegen, als mit einer Stichtagsregelung. Von mir aus mit dem 31.12.2016. Denn in 2015 und 2016 hat die Politik an viele Mittelständler und die Wirtschaft dringend appelliert, Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Asylbewerber zu schaffen, um die Integration zu erleichtern. Heute lässt Merkel diese Leute im Regen stehen. Mittelständler und Unternehmer, die nichts anderes gemacht haben, als dem Appell der Bundesregierung und der Kanzlerin zu folgen, können heute zusehen, wie ihre Kolleginnen und Kollegen, in die sie viel Herzblut, Einsatz und auch Geld investiert haben, die Koffer packen müssen.

Es ist wie bei der Ehe für Alle, die Merkel erst verbal einführen wollte, um dann tatsächlich im deutschen Bundestag mit Nein zu stimmen. Man kann das Taktik nennen, Strategie, Unverschämtheit oder das, was es ist: Verlogenheit und ein Förderprogramm für Politikverdrossenheit.

Als Höhepunkt ihres Auftakts ins Nichts, wurde von Merkel in ihrem Sommerinterview jede Initiative, die Renten über das Jahr 2025 hinaus zu sichern, als verantwortungslose Panikmache gebrandmarkt. 2025. Das ist übermorgen. Die Unsicherheit ist längst da und kriecht durch die gewaltig große Generation der Babyboomer, die noch vor der Pille auf die Welt kamen, aber nach der Pille nicht mehr unkontrolliert Kinder in die Welt setzten. Es ist die Generation der 50-55-Jährigen. Und überraschenderweise exakt die Generation, in der wir seit Jahren den höchsten Grad an Verunsicherung messen – unabhängig vom gegenwärtigen Wohlstand.

Und das überrascht nicht. Verunsichert sind nämlich nicht die heutigen Rentner und auch nicht die, die in den nächsten 10 Jahren in Rente gehen. Verunsichert sind vor allem die, die in den nächsten 20-25 Jahren in Rente gehen. Denn sie bewegen mehrere Faktoren:

1. Die Frage, wie weit ihr Arbeitsplatz in Zeiten der Digitalisierung weiter Bestand haben wird.
2. Die Frage, wie sie sich um ihre immer älter werdenden Eltern und ihre Kinder im Teenage-Alter kümmern sollen, während gleichzeitig die Anforderungen im Beruf weiter wachsen.
3. Die Frage, wie steigende Mieten in den Ballungsräumen oder auch Werteverfall von Eigentum auf dem Land in Zukunft zu bewältigen sind.

Warum die Jüngeren nicht so beunruhigt sind, obwohl sie mitten in diesem Umbruch in die Arbeitswelt vorstoßen? Nun, weil sie jung sind. Weil sie gefragt sind und in einer Phase aufwachsen, in der sich viele von ihnen die Arbeit aussuchen können und nicht umgekehrt. Außerdem sehen junge Menschen noch jede Menge Chancen, ihr Leben frei gestalten zu können, während sich diese Freiheit und auch Unbekümmertheit ab einem gewissen Alter legt. Auch, weil man mit 50 meist erkennen muss, doch nicht mehr Superstar, Tenor, InfluencerIn, AbteilungsleiterIn oder Ballerina werden zu können.

Nicht jede der Sorgen der Babyboomer ist begründet. Und jeder von uns hat sich an vielen Stellen auch schon unbegründet Sorgen gemacht. Aber gleichzeitig waren die Umbrüche der Arbeitswelt, der globalen Vernetzung und des demografischen Wandels in den vergangenen 50 Jahren noch nie so massiv wie heute – zumindest für den Westen Deutschlands. Der Osten erfährt wiederum die zweite Phase massiver Veränderung innerhalb von 30 Jahren. Was auch dortige noch stärkere Populismustendenzen erklärt, wenn auch nicht entschuldigt.

Es ehrt daher den Koalitionspartner, wenn er dieses Thema jetzt massiver in die jetzige Regierung einbringt. Wenn es der Anspruch dieser Regierung sein sollte, nach dem späten Start (wir erinnern uns an die Arbeitsverweigerung der FDP), jetzt Lösungen über den Tag hinaus auf den Weg zu bringen, dann sollte das auch das Ziel der Kanzlerin sein.

Es ist aber nicht ihr Ziel. Für unsere Kanzlerin ist das Nachdenken über eine der zentralen Säulen unseres sozialen Zusammenhalts über die nächsten 6 Jahre hinaus, das Schüren von Ängsten. Zumindest bis zur Bayernwahl. Und dann bis zur Europawahl und dann bis zur nächsten Landtagswahl und der übernächsten. Ab wann will Merkel eigentlich regieren?

Eine Kanzlerin der Stagnation ist der eigentliche Anlass, besorgt zu sein.

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Merkel erklärt die deutsche Automobilwirtschaft zum Problemfall – und wir reden über den Islam.

Während unsere Leitmedien die intellektuell wirklich sehr unterfordernde „Islam – Debatte“ zum Headliner der Regierungserklärung wählten (vermutlich, um sich möglichst viele Clicks der AfD-Trolle abzuholen), ließ Merkel einen Hammerschlag nach dem anderen auf die deutsche Wirtschaft nieder.

Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen, dieses Zitat: „Fehler in einzelnen Branchen können sich sehr schnell zu systemischen Problemen entwickeln.“ Systemische Probleme kennen wir spätestens seit dem Zusammenbruch der Finanzmärkte und den Bankenrettungsbemühungen, um eben diesen Kollaps einzudämmen. Aber die Kanzlerin sagte diesen Satz nicht im Zusammenhang mit Banken und Finanzmärkten. Sie sprach ihn im Zusammenhang mit dem Dieselskandal: „Wie schnell das gehen kann, sehen wir beim Dieselthema“ Und sie machte noch eines deutlich: „Es ist nicht garantiert, dass wir in 5 oder 10 Jahren noch so erfolgreich sind wie heute.“ In fünf Jahren ist 2023. Das ist bald.

Merkel betonte auch, dass die Welt sich „epochal“ verändere. Und nannte Nokia als beeindruckendes Fail-Beispiel. Von 50% Marktanteil bei Mobiltelefonen auf 1% in zehn Jahren. Die Kanzlerin sprach über Künstliche Intelligenz, den technologischen Rückstand unserer Wirtschaft, die Anforderungen an die Politik, Datensouveränität gegen Datenausbeutung zu setzen und benannte, was so wenige Menschen wahrhaben wollen: „Was immer digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden.“

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Den Anschluss nicht zu verlieren, gegenüber den USA, Indien, China sieht sie nicht nur als wichtigste Aufgabe Europas, sondern eben auch als „Bewährungsprobe für die soziale Marktwirtschaft.“ Wie sozial ist digital?  – Das ist tatsächlich eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Schade nur, dass sie in der deutschen Debatte keine Rolle spielt.

Deutschlands größte Herausforderungen sind nicht die Rente, das Kindergeld und schon gar nicht die Religionsfreiheit. Deutschlands größte Herausforderungen heißen Diesel, Digitalisierung und Demographie. Und das erschütternde ist, dass wir nicht nur einen tattrigen Heimatschutzminister haben und die CDU sich von Merkel in dem Augenblick abwendet, in dem sie ihre beste Stunde hat. Das schlimmste ist, dass unsere Medien die wichtigsten Herausforderungen überhaupt nicht wahr genommen haben.

Ein Land, das sich so mit Nebensächlichkeiten beschäftigt wie Deutschland, wird die Zukunft nicht gewinnen können. Wir sollten daher jegliche Scheindebatten beenden und uns den wirklichen Herausforderungen der Gegenwart stellen. Folgt man Merkel, so heißen die drei größten Probleme Deutschlands Volkswagen, BMW und Mercedes. Denn „Fehler in einzelnen Branchen können sich sehr schnell zu systemischen Problemen entwickeln“ heißt nichts weniger, als dass der Zusammenbruch der deutschen Automobilindustrie den Zusammenbruch der Zulieferindustrie und damit den Zusammenbruch eines Großteils der deutschen Wirtschaft nach sich ziehen wird.

Natürlich hat Merkel in diesen klaren Worten auch ihr eigenes Scheitern, das der Autobosse, der Autolobby und vor allem das ihrer CSU-Verkehrsminister beschrieben. Denn alle haben so lange auf den Diesel gesetzt, bis er ihnen unterm Hintern explodiert ist. Aber dennoch: Sie hat für ihre Verhältnisse jetzt so klar und deutlich die Probleme benannt, wie selten zuvor. Es wollte nur keiner hinhören.

In diesem Sinne: lasst uns über Islam, Flüchtlinge und weitere drittrangige Themen sprechen, während die deutsche Bundeskanzlerin in einem beispiellosen Vorgang gerade in ihrer Regierungserklärung die deutsche Schlüsselindustrie zur gefährdeten Spezies erklärt hat.

Glück auf!