Lasst sie gehen.

Vor vier Jahren gab es sehr gute Gründe für einen Einstieg in die Große Koalition und das Mitgliedervotum der SPD unterstützte diesen Kurs. Heute gibt es sehr gute Gründe, andere regieren zu lassen und auf Macht, Einfluss und Gestaltungsspielraum zu verzichten.

Nein, es war kein Automatismus, dass die SPD zwingend so geschwächt aus einer Großen Koalition gehen würde. Dazu gehörten schon auch eine gehörige Portion Gabrielscher Zick-Zack-Kurs mit dem wiederholt verantwortungslosen Umgang bei der Vorbereitung von Kanzlerkandidatur und Wahlkampfstrategie, sowie der immer noch herumspukende Irrglaube, man könne die SPD mit den Rezepten von gestern und vorgestern neu aufstellen.

Wie schwach Merkel und die Union tatsächlich aufgestellt waren, zeigte sich nicht nur im Aufglimmen der SPD nach der Nominierung von Martin Schulz – sondern eben auch am Wahltag selbst. Merkel war schlagbar, doch ein Wahlkampf der verpassten Chancen ließ sie noch einmal davonkommen.

Noch schlimmer verlief allerdings der Wahlkampf der Union. Ende Juni noch bei 40% in den Umfragen – und erst dann begann ja die heiße Phase – verlor die Union satte 7% durch die wohl bräsigste, arroganteste und selbstgefälligste Bundestagswahlkampagne der Neuzeit. „Für ein Deutschland in dem wir gut und gerne leben“ eignet sich vielleicht als Motto für das Dr. Oetker Kochstudio, aber mit Sicherheit nicht als Guideline für die Kanzlerpartei in einer massiven Zeitenwende. Die Wähler fühlten sich zu recht veräppelt und flüchteten sich – nicht vordringlich zur AfD – sondern vor allem zur FDP oder in die Nichtwählerschaft.

Das Versagen aller drei Regierungsparteien – und auch die intellektuelle Unterforderung der progressiven Wählerinnen und Wähler im Wahlkampf – machte das Ausfransen an den Rändern erst möglich. An manchen Tagen fühlte ich mich wie ein Telefonseelsorger und beantwortete Fragen wie: „Ich möchte nicht, dass die SPD untergeht, aber ich möchte auch nicht, dass sie weiter regiert – was soll ich tun?“ Antwort: Wähl sie trotzdem, es wird schon schlimm genug werden. Oder: „Ich kann das Grünen-Duo nicht leiden, bei der Linken stören mich die Putin-Lover und die SPD soll nicht mehr regieren – wen soll ich wählen?  Antwort: „Dann wähl halt die Grünen, wenn es sonst passt, es ist ja kein Sympathiewettbewerb.“ Und dann kamen natürlich auch einige, die Frau Merkel unterstützen wollten, aber nicht auf die Gefahr hin, damit Herrn Seehofer zu stärken. Tja. Eine Antwort auf die Schizophrenie der Union hatte ich nicht. Die FDP kam natürlich auch vor, weil sie im Gegensatz zu allen anderen auch einen Grafiker bezahlt hatte. Dort störte wiederum die legere Haltung zum Umweltschutz (Motto: Nur nicht einmischen, das wächst von alleine nach).

Beim Wahl-O-Mat siegten bei mir erstmals in meiner persönlichen Geschichte die Grünen. Ich nehme an, es war die Braunkohle. Aber am Ende lasse ich mir von einem schnöden Programm meine Fehlentscheidungen nicht verbieten. Die Grünen landen dann auch ohne mich – nach 13% in den Umfragen im November letzten Jahres – auf einem sehr mageren letzten Platz mit einem Ergebnis von 8,9%, für das Jürgen Trittin vor vier Jahren sofort zurücktreten musste (8,4%). Sie feiern sich dusselig.

Es war ein Trauerspiel.

Ein völlig unnötiges Trauerspiel. Spannende Themen lagen zu Hauf auf der Straße, wurden aber ignoriert. Auch von den mindestens ebenso denkfaulen Fragestellern in den meisten Talkrunden und dort vor allem in dem unsäglichen „DUELL“. Ein in den ersten 40 Minuten lupenreines AfD-Förderprogramm (Maischberger: „Man hat uns versprochen, dass nur gut ausgebildete Akademiker kommen“ Wer? Wann? Quelle?), bei dem ich zum ersten Mal im Leben ernsthaft Zweifel an meinen Gebühren für die Öffentlich-Rechtlichen bekam. Man nimmt ja vieles an Volksberieselung in Kauf in der Annahme, dafür Qualitätsjournalismus zu bekommen. In diesem Wahlkampf leider Fehlanzeige bis hin zur Elefantenrunde danach. Bei der ich erstmals Sympathie für Frau Kipping empfand, die auch dort einmal auf ein paar wirkliche Themen zu sprechen kommen wollte. Der Moderator verhinderte dies erneut mit aller Kraft.

Jetzt will die SPD nicht mehr und ich kann sie verstehen. Wenn mir jetzt wieder einer damit kommt, dass die SPD Verantwortung übernehmen müsse, dann wäre hier meine Antwort: Deutschland ist nicht im Krisenmodus und es steht auch nicht der Untergang vor der Türe. 87% der Deutschen haben nicht AfD gewählt, dafür die Union zur stärksten Kraft gemacht und zwei kleinere, demokratische Parteien ins Parlament gewählt, die in einem Bundesland bereits miteinander koalieren.

Sowohl die Grünen als auch die FDP haben die Regierung in diesem Wahlkampf hart angegriffen – was ja ihr Job ist – und haben jetzt die Gelegenheit, mit ihren Konzepten zu liefern. Diese Chance haben sie sich redlich verdient. Die Grünen wollten ja eh mit Frau Merkel regieren, die FDP auch, dann wird ja auch einem flotten Dreier nichts im Wege stehen. Frau Merkel jedenfalls nicht.

Die SPD wurde nach allgemein anerkannten politischen Erfolgen in der Regierung mit dem schlechtesten Ergebnis in der Geschichte nach Hause geschickt. Man kann beim besten Willen von ihr nicht verlangen, diesen Wählerwillen zu ignorieren und weiter zu regieren.

Sie stand nun vor der Frage, der AfD die Position der stärksten Oppositionspartei zukommen zu lassen, oder selbst diese Rolle zu übernehmen. Sie verzichtet auf entscheidende Häuser: Das Arbeits- und Sozialministerium, das Wirtschaftsministerium, Justiz-, Familien-, Umweltministerien mit all den politischen Einflussmöglichkeiten und auch den entsprechenden Posten. Das ist ein bisher einmaliger Vorgang.

Die SPD leistet mit ihrem Gang in die Opposition einen wichtigen Beitrag für die Demokratie. Es ist dabei trotz allem ein mutiger Schritt. Denn Opposition alleine bedeutet noch keine Rekonvaleszenz, wie die Jahre 2009-2013 – und vor allem auch dort mal wieder die versemmelte K-Frage gezeigt haben.

Diesmal aber geht es um alles – auch um die Existenz. Die SPD befindet sich seit 2002 in einem permanenten Niedergang. Sie wird daher auch einen langen Weg gehen müssen, um wieder stark zu werden. Sie wird ihre Programmatik aktualisieren müssen – und das bei einer alternden Mitgliedschaft- und Gesellschaft. Sie wird intensiv junge Talente suchen und fördern müssen. Sie wird sich in den Ländern organisatorisch neu aufstellen – und vermutlich auch den finanziellen Kahlschlag der letzten Jahre verarbeiten müssen.

Und dann muss sie eine überzeugende Oppositionsarbeit leisten, die nicht nur die neue Regierung herausfordert, sondern auch die Feinde der Demokratie rechts von ihr.

Das wird ein hartes Stück Arbeit. Dafür braucht die SPD alle verfügbaren Kräfte. Und unsere Hochachtung für diesen Dienst an der Demokratie. Lasst sie gehen.

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Die SPD steht vor der Existenzfrage.

Mit Jana Hannemann führte ich am Montag nach der Wahl ein Gespräch, das in der Berliner Morgenpost erschien. So ganz bin ich mir noch nicht sicher, ob wirklich alle Akteure verstanden haben, wie ernst die Lage ist.

Sie gelten als krisengestählter Wahlkämpfer, haben über 20 Kampagnen für die SPD geprägt. Die Genossen hatten sie fest für den Wahlkampf eingeplant. Doch sie sagten ab. Fühlen Sie sich durch das Bundestagswahlergebnis in Ihrer Entscheidung bestätigt?

Frank Stauss: Zum Teil leider ja, obwohl ich mir ein deutlich besseres Ergebnis für die SPD erwünscht hätte. Leider hat dieses Ergebnis einiges von dem gezeigt, was wir im Herbst des vergangenen Jahres bei uns im Team befürchtet hatten.

Nämlich?

Das eine ist: Wenn man eine Kanzlerin wie Angela Merkel schlagen will, die seit zwölf Jahren im Amt ist und auch gute persönliche Werte hat, muss man das mit einer langfristigen Strategie angehen. Es war klar, dass sie nach zwölf Jahren – und das hat das CDU-Ergebnis am Ende auch gezeigt – nicht unschlagbar war. Sie war schlagbar. Es gab eine Art Merkel-Müdigkeit. Dafür hätte die SPD aber auch eine moderne Programmatik entwickeln müssen, mit der sie, neben dem Markenkern sozialer Gerechtigkeit, auch ein zweites Standbein gehabt hätte.

Und womit?

Mit Themen wie Modernität, Innovation, Fortschritt. Das war bis zum Herbst aber nicht geschehen. Und dann ist zweitens natürlich die Frage der Kanzlerkandidatur wichtig. Wir haben 2013 erlebt, wie die SPD mit Peer Steinbrück eine Kanzlerkandidatur aus der Hüfte geschossen hat. Wir haben es 2009 erlebt, als Kurt Beck zurücktrat und Frank-Walter Steinmeier Kandidat wurde. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Frage der Kanzlerkandidatur früher hätte entschieden werden müssen und nicht erst acht Monate vor der Wahl.

Sehen Sie noch weitere Punkte, die zu diesem schlechten Ergebnis geführt haben?

Stauss: Tatsächlich ist es so, dass manche in der SPD, aber auch in ihrem Umfeld, noch der Meinung sind, dass die SPD mit den Rezepten von 1998, manchmal sogar von 1968, heutzutage Wahlen gewinnen kann. Das ist aber falsch. Wir können uns nicht mehr nach dem traditionellen Wahlverhalten orientieren nach dem Motto „Die Arbeiter wählen dieses, die Jungen dieses, die Rentner wählen so, auf dem Land wählt man so und in der Stadt so“.

Um was geht es dann?

Heutzutage bestimmt eine kulturelle Haltung das Wahlverhalten – also sind die Leute pro-europäisch eingestellt, sind sie weltoffen, liberal, sehen sie in der Digitalisierung eher eine Chance als eine Gefahr. Und wenn sie in einigen Teilen der Bevölkerung ein eher traditionelles Weltbild haben – etwa Ausländerfeindlichkeit, Homophobie, Europafeindlichkeit – und das für die Menschen wahlentscheidend ist, dann können sie dort als SPD nicht punkten. Deswegen kann man nicht mehr sagen, dass Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger von der SPD aufgrund ihrer Geschichte erreichbar sein müssen. Diese Personen können trotzdem nicht erreichbar sein, eben weil ihnen andere Dinge wichtiger sind.

Im Januar wurde Martin Schulz noch als „Gottkanzler“ gefeiert und gehypt. Woran liegt es, dass die SPD dieses Stimmungshoch nicht halten konnte?

Stauss: Das liegt daran, dass die Partei in den vergangenen vier Jahren unter Sigmar Gabriel diese eben angesprochene Programmatik nicht entwickelt hat. Die SPD muss sich neue moderne, junge Wählerschichten erschließen und gleichzeitig muss sie denen, die am skeptischsten sind, einen Weg zeigen, wie ein modernes und erfolgreiche Deutschland gerade durch die Veränderungen in der Arbeitswelt, auch ein sicheres Deutschland sein kann, was die Arbeitsplätze angeht. Diese Themen haben im SPD-Wahlkampf aber überhaupt keine Rolle gespielt. Und der Unterschied zum Angebot der Union war nicht groß genug.

Was kann die SPD jetzt aus der Schlappe lernen? Welche Fehler muss die Partei künftig vermeiden?

Stauss: Die SPD muss wieder zu sich selbst finden, sie muss an ihrer Programmatik arbeiten, klarer werden, deutlicher werden, die Unterschiede benennen. Es wird eine harte Aufgabe sein in der Opposition gegen die AfD zu reüssieren. Die AfD ist, wie man jetzt ja schon miterlebt, ein chaotischer Haufen, der jedoch mit den Mechanismen der modernen Medienlandschaft umzugehen weiß. Die SPD hat aber die Chance, als eine glaubwürdige und beständige Kraft zu reüssieren.

Und sonst?

Ein anderer Punkt ist: Die CDU/CSU ist extrem angeschlagen. Wir werden jetzt erleben, dass dort Nachfolgedebatten und Richtungskämpfe entstehen. Die beginnen ja jetzt schon. Gleichzeitig wird die Partei in eine Koalition mit den Grünen getrieben, wobei es dann natürlich schwer fällt, sich weiter rechts zu platzieren. Das sind alles Chancen für die SPD.

Die SPD will jetzt in die Opposition. Die richtige Entscheidung?

Stauss: Es bleibt ihr ja nichts anderes übrig, wenn von ihr noch etwas übrig bleiben soll. Die große Koalition hat eine riesige Watsche bekommen. Die SPD hat in dieser Koalition wichtige Teile ihrer Programmatik umsetzen können und geht trotzdem mit dem schlechtesten Ergebnis nach Hause. Da muss man den Wählerwillen auch mal respektieren. Und der ist eindeutig: Wir wollen nicht, dass ihr regiert.

Droht der Partei womöglich das Ende?

Die SPD steht vor der Existenzfrage. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Deswegen ist der Gang in die Opposition der richtige Schritt. Sie muss sich nun darauf konzentrieren, sich selbst zu erneuern, sich zu finden und die Positionen klar herauszuarbeiten. Das geht nicht, wenn sie gleichzeitig noch fünf Ministerien besetzen muss. Die SPD leistet der Demokratie einen Beitrag, wenn sie diesen harten Weg in die Opposition geht. Das ist ja ein Rückzug aus Ämtern, von Posten und Einfluss, der mir einen hohen Respekt abnötigt.

Ist das mit Martin Schulz als Parteichef und Andrea Nahles möglich?

Stauss: Martin Schulz ist nicht verbrannt, die Menschen finden ihn nach wie vor sympathisch und glaubwürdig. Er will sich nun auf den Wiederaufbau der Partei konzentrieren. Bei Frau Nahles muss man sehen, dass ein Teil dieser wichtigen Programmatik, also die Zukunft der Arbeitswelt, in ihrem Haus hervorragend vorbereitet worden ist. Sie hat da ein umfassendes Wissen. Damit ist aber noch keine Entscheidung darüber gefällt, wer in vier Jahren die SPD in den Wahlkampf führt, aber auf diese beiden Personen ist Verlass.

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Der erste Wahlkampf für das vergreisende Deutschland.

Mit Lisa Caspari sprach ich eine Woche vor der Wahl für ZEIT ONLINE über die Gründe für den schleppenden Wahlkampf. Um es vorweg zu nehmen: Das Problem sind weniger „Die Alten“, also die über 65ff, es sind eher die jung vergreisten ab 45, die zu einem nicht unerheblichen Anteil jetzt schon so auf Sicherheit bedacht sind, als wären sie bereits 70.

ZEIT ONLINE: Zehn Tage sind es bis zur Bundestagswahl, doch es gibt immer noch kein zündendes Wahlkampfthema. Wieso ist das so?

Frank Stauss: Wir erleben den ersten Wahlkampf für das vergreisende Deutschland. Jeder zweite Wahlberechtigte ist über 52, die Wähler sind so alt wie nie zuvor. Viele Politiker und auch Journalisten und Leitartikler sind ebenfalls in diesem Alter. Dieser Wahlkampf ist auf den Status quo ausgerichtet. Das Land ist regelrecht verstopft von Besitzstandswahrern, digitalen Angsthasen, analogen Nostalgikern und rechten Heulsusen. Und die Politik durchbricht den Kreislauf nicht, sondern gibt dem Affen auch noch Zucker. Wichtige Zukunftsthemen spielen keine Rolle.

ZEIT ONLINE: Wirklich? Die Grünen zum Beispiel fordern das Ende des Verbrennungsmotors im Jahr 2030. Das wurde anfangs belächelt, kam aber genau zur richtigen Zeit.

Stauss: Das ist ja schon Regierungspolitik in einigen unserer Nachbarländer, und was Herr Kretschmann davon hält, ist auch bekannt. Keiner Partei ist es gelungen, eine stimmige Zukunftsvision zu präsentieren. Einen großen Wurf, der über die Aneinanderreihung von Einzelthemen hinausgegangen wäre. Wenn die Parteien alle die gleiche sicherheitsfixierte Politik machen und sich von links bis rechts nichts trauen, dann haben wir eben die viel beschworene Alternativlosigkeit. Aufgabe der Politik wäre es doch, die Gesellschaft aus der gefährlichen Erstarrung herauszuführen: Wir sind inmitten zweier epochaler Umbrüche: der weltweiten Digitalisierung unserer Wirtschaft, unseres Alltags, unseres ganzen Lebens, und in Deutschland kommt der demografische Wandel noch obendrauf. Die Leute sehen doch, dass die großen Innovationen derzeit aus anderen Ländern kommen.

ZEIT ONLINE: Und was wäre hier die Erzählung? Doch ein Sorgenwahlkampf?

Stauss: Nein, im Gegenteil: ein Mutwahlkampf! Die Politik muss einen Weg aufzeigen, wie Deutschland die nächsten 20 bis 30 Jahre gut bestehen kann. Ja, wir sind auf einigen wichtigen Feldern nicht auf der Höhe der Zeit, aber dennoch: Wir haben nach wie vor hervorragend ausgebildete, tolle und innovative Leute. Wir sind ein Land mit weltweit nahezu einzigartigen sozialen Standards und ein Magnet für viele hervorragend ausgebildete Menschen in aller Welt. Wir müssen einiges nachholen und besser machen, aber auch viel offener sein für Ideen, wie unsere Gesellschaft in diesem Umbruch der Arbeitswelt gerechter organisiert werden kann.

ZEIT ONLINE: Und warum passiert das nicht?

Stauss: Weil alle Politiker die gleichen Umfragen lesen und sich denken: „Oh, die Leute haben Angst, dann muss ich ihnen Sicherheit bieten.“

ZEIT ONLINE: Ihr Szenario ist für junge Menschen sehr ernüchternd. Wenn die Abstiegsängste der Älteren die politische Agenda bestimmen, wie soll dann je eine zukunftsgerichtete Politik gemacht werden?

Stauss: Ich bin nun auch schon 52 Jahre alt, ich glaube, auch meine Generation ist zu begeistern für neue Vorschläge. Jetzt braucht es Führung, Optimismus und Mut, um das Beste in uns zu wecken. Die Erfolge von Justin Trudeau in Kanada und Emmanuel Macron in Frankreich haben bei allen Unterschieden gezeigt: Es gibt ein politisches Vakuum, das man mit einer modernen, demokratischen und sozialen Alternative füllen kann, und nicht nur mit einer reaktionären Alternative. Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sind die weitaus linkeren Beispiele mit Achtungserfolgen. Wir haben bei der Nominierung von Martin Schulz erlebt, dass die Menschen sich etwas Neues wünschen, dass sie hingucken, wenn es eine Option des Wandels gibt.

ZEIT ONLINE:  Warum hat Schulz die Aufbruchsstimmung nicht halten können?

Stauss: Solch ein politisches Szenario muss über Jahre vorbereitet werden. Als Martin Schulz im Januar nominiert wurde, blieb ihm zu wenig Zeit. Die SPD-Kampagne hatte in diesem Sommer eher das Problem, dass sie zu viele Themen auf einmal vorgebracht hat. Schulz hat wichtige Themen gesetzt, zum Beispiel mit seiner nationalen Bildungsinitiative, bei Europa, mit der Investitionspflicht –  aber die Kontinuität in der Argumentation hat ebenso gefehlt wie eine attraktive Zukunftserzählung. Aber das gilt nicht nur für die SPD.

ZEIT ONLINE: Erklärt sich der Wiederaufstieg der FDP also durch die Jugend Christian Lindners und die Tatsache, dass er bei Themen wie der Digitalisierung einfach glaubwürdiger wirkt?

Stauss: Vielleicht, allerdings macht er sonst klassische FDP-Politik. Da wäre noch mehr gegangen. Alle Parteien gehen auf Nummer sicher. Dass die Kanzlerin das tut, ist nicht verwunderlich, von ihr erwartet man auch nicht mehr viel. Aber selbst die Grünen machen einen sehr traditionellen Kernthemenwahlkampf, die SPD hat mit dem Thema Gerechtigkeit ihr Standardrepertoire abgerufen, die AfD lebt von klassischem Rassismus und Rechtsnationalismus. Und die Linkspartei ist gerade zu stumm in diesem Wahlkampf. Weil auch sie denkt, sie müsse auf Sicherheit spielen und den Ball flach halten. Wenn das so weitergeht, dann wird Deutschland innovationsfeindlich und rückwärtsgewandt.

ZEIT ONLINE: Es ist die Rede von einer neuen großen Koalition nach der Wahl.

Stauss: Da kann man ja gleich ins Grab hüpfen, da ist ja noch mehr los. Das ist die Sehnsucht nach Harmonie. Aber Harmonie gehört in Rosamunde-Pilcher-Romane und nicht in einen demokratischen Wettstreit der Ideen. Für Union und SPD kann ein solcher neuerlicher GroKo-Verdacht sehr gefährlich werden am Wahltag. Die CDU-Wähler werden demobilisiert, weil sie glauben, das Ding ist gelaufen. Und die SPD kann keine Option zum Wechsel anbieten. Das kann dann ausfransen und am Wahlabend noch zu Überraschungen führen.

ZEIT ONLINE: Was soll künftig anders werden?

Stauss: Das ist zwar der erste Wahlkampf für das vergreisende Deutschland – aber es sollte auch der letzte sein. Wir dürfen nicht in Angststarre verfallen und Lösungen im Gestern suchen. Gestern war ja schon.

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Die FDP ist wie ein Glückskeks

Mit Christian Rothenberg von n-tv hatte ich das Vergnügen, ein ausführliches Interview zur Bundestagswahl 2017 zu führen. Das Interview in voller Länge finden Sie hier auf n.tv:

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Hier einige Ausschnitte.

Welche Partei hat die beste Kampagne? Warum läuft es für die SPD so mies? Der erfahrene Politikberater und Werber Frank Stauss analysiert im Interview mit n-tv.de den Bundestagswahlkampf.

n-tv.de: Kommt Ihnen der Wahlkampf gerade ziemlich lahm vor?

Frank Stauss: Ja, aber ich glaube da bin ich nicht der Einzige, dem das so geht. Das liegt auch an den zeitlichen Umständen. Viele Menschen sind im Urlaub, in manchen Bundesländern gehen die Ferien bis zum 10. September. Da sind die Leute einfach nicht politisiert und denken eher dran, wie sie gut entspannen können, als sich von Politik belästigen zu lassen. Ich gehe davon aus, dass der Wahlkampf noch an Fahrt gewinnt.

Welches Thema wäre dazu geeignet, in den letzten Wochen richtig Dynamik reinzubringen?

Aus Sicht aller Herausforderer von Frau Merkel muss das eine Debatte darüber sein, wie gut Deutschland für die Zukunft aufgestellt ist. Wir haben die großen Metathemen wie Terrorismus, Donald Trump und den Brexit. Letztendlich bewegt aber viele Menschen die Frage, wie gut wir für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre aufgestellt sind. Kaum jemand rechnet damit, dass seine Arbeit dann noch genauso aussieht wie heute.

Sie haben mit Ihrer Werbeagentur schon viele Wahlkämpfe begleitet. Welche Partei macht aus Ihrer Sicht die beste Wahlkampagne?

Was Christian Lindner und die FDP machen, ist sicherlich das, vor dem man die meiste Achtung haben muss. Sie hat das Beste aus der außerparlamentarischen Opposition gemacht und sich als Startup-Partei neu erfunden mit einem jungen dynamischen Mann an der Spitze. Die Partei arbeitet intensiv daran, dass niemand auf die Idee kommt, dass die FDP von heute etwas mit der zu tun hat, die vor vier Jahren aus dem Bundestag herausgeflogen ist.

Die Spots und Plakate finden viel Lob. Dennoch wird Lindner und der FDP vorgeworfen, zu viel Wert auf die Verpackung zu legen, statt auf Inhalte. Man weiß nicht so recht, für was die neue FDP eigentlich steht.

(lacht) Ja, aber genau das ist die Idee dahinter. Die FDP ist Projektionsfläche für eigene Wünsche, weil sie alles offen lässt. Wenn man sich das Programm anschaut, unterscheidet es sich im Prinzip nicht sehr von dem vor der Wahl 2013. Die FDP ist wie ein Glückskeks. Die Leute freuen sich erst einmal darüber. Wenn sie ihn aufmachen, stellen sie fest, dass nicht viel drinsteckt. Das ist aber erst einmal egal. In den letzten Landtagswahlkämpfen war die Partei mit dieser Strategie erfolgreich. Die FDP bietet eine moderne Alternative für Leute, die sich gar nicht so sehr dafür interessieren, was das jetzt eigentlich heißt. Beim Umweltschutz ist die FDP eigentlich die totale Retro-Partei, die von dem Thema gar nichts hält. Das kriegen aber viele Menschen gar nicht mit. Die denken: Die FDP ist modern und sieht gut aus, da wirken die anderen Parteien langweilig.

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Wie bewerten Sie den CDU-Wahlkampfslogan „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“?

Die CDU spielt auf Sicherheit, es ist eine extrem klassische bis bräsige Kampagne. Sie will nichts falsch machen oder anecken, spielt auf die Verlässlichkeit durch die Kanzlerin, setzt hin und wieder ein paar Innovationsplacebos mit Youtuber-Interviews oder einem Gamescom-Besuch. Das ist eine klassische Amtsinhaber-Kampagne. Bei dem Claim denk ich immer an Gutes von gestern, da ist keine Zukunftsidee drin.

Die Parteien machen in diesem Wahlkampf keine Koalitionsaussagen mehr. Für die Wähler macht das die Wahlentscheidung schwieriger. Ist es dennoch richtig?

In der Bundesrepublik gibt es ja inzwischen fast alle Konstellationen, die man sich vorstellen kann. In Rheinland-Pfalz regiert eine Ampel, in Schleswig-Holstein Jamaika, in Brandenburg Rot-Rot, in Nordrhein-Westfalen Schwarz-Gelb. Das ist eine neue Unübersichtlichkeit für die Wähler, die sie aber auch selbst herbeigeführt haben. Im nächsten Bundestag wird es einschließlich der CSU sieben Parteien geben. Da gibt es viele denkbare Optionen, ausgeschlossen ist nur die AfD. Da traut sich keiner, vorher Koalitionsaussagen zu treffen. Am Ende könnten die Parteien von ihrer Ausschließeritis nur eingeholt werden, wenn ihnen dann doch nichts anderes übrig bleibt als ein ganz bestimmtes Bündnis.

Sie haben 2016 erklärt, nicht den SPD-Bundestagswahlkampf betreuen zu wollen. Damals sah es noch danach aus, als ob Sigmar Gabriel Kanzlerkandidat würde. Dennoch wurde im Januar Martin Schulz nominiert. Bereuen Sie Ihre Entscheidung?

Wir als Agentur haben die Entscheidung nicht aufgrund der Person Gabriel getroffen, sondern aufgrund der sich immer weiter verzögernden Frage, wann die Kandidatur erklärt wird. Bei einer Herkulesaufgabe wie der, eine seit zwölf Jahren regierende Kanzlerin abzulösen, benötigt es eine hervorragend geplante Kampagne. In der Kampagne der Kanzlerin gibt es Elemente, die seit langem im Voraus geplant sind: wie man Termine und Besuche setzt und inszeniert, wie beispielsweise Merkels Auftritt auf der Gamescom. Sie müssen rechtzeitig klären: Wer ist ihr Kandidat? Wofür steht er? Was kann er? Was bringt er glaubwürdig rüber? Es ist unglaublich schwer, so etwas einfach adhoc in einem Wahljahr zu entscheiden. Darunter hat die Schulz-Kampagne lange gelitten. Eine solche Organisationsstruktur konnte nicht vorhanden sein. Nach den überhasteten Nominierungen von Steinmeier und Steinbrück ist es jetzt zum dritten Mal in Folge nicht professionell abgelaufen. Das darf der SPD nie wieder passieren. Das ändert jedoch nichts daran, dass ich Martin Schulz für einen hervorragenden Kandidaten halte, der ein guter Kanzler wäre.

Im Februar hätte man meinen können, die SPD hätte es genau richtig gemacht. Die Partei lag in Umfragen plötzlich gleichauf mit der Union.

Ja, das dachte ich auch. So etwas habe ich auch noch nie erlebt, obwohl ich seit 25 Jahren Wahlkämpfe mache. Dass in so kurzer Zeit solche Sehnsüchte in einen Menschen projiziert wurden, war unglaublich. Das hat gezeigt, wie angreifbar die Kanzlerin ist. Aber dann kam zu lange nichts, was dem Problem geschuldet war, dass die Kandidatur von Schulz nicht vorbereitet war.

Wieso kann Martin Schulz bisher nicht gegen die Kanzlerin punkten?

Deutschland geht es relativ gut, auch im Vergleich zu anderen Ländern haben wir einen hohen Wohlstand. Der Aufschwung hält seit Jahren an, die Kassen sind gefüllt. Daher gibt es keinen Handlungsdruck, jemanden abzuwählen. In einer solchen Situation hat es eine Zukunftsdebatte nicht so leicht. Dabei gibt es viele Untersuchungen, die zeigen, dass die Menschen verunsichert darüber sind, wie gut unsere Wirtschaft, Arbeitsplätze und Sozialsysteme in die Zukunft fortschreibbar sind. Der Herausforderer muss dieses schlummernde Thema wecken – nicht um den Menschen Angst zu machen, sondern weil wir nicht einfach davon ausgehen können, das alles gut bleibt. Es braucht jemanden, der die Wirtschaft nicht nur fördert, sondern auch fordert. Jemanden, der nicht nur Richtlinienkompetenz hat, sondern auch davon Gebrauch macht.

Bis 2005 fiel es der SPD nie schwer, bei Bundestagswahlen 35 bis 40 Prozent zu holen. Warum kommt sie heute nicht mehr über 25 Prozent?

Das liegt auch daran, dass eine Angela Merkel eine sehr liberale Bundeskanzlerin ist, die nicht polarisiert. Sie strahlt durch ihre Offenheit etwa in der Flüchtlingsdebatte stark in das Wählerspektrum von Grünen und SPD hinein. Viele Menschen sagen: Mit der CDU habe ich nicht viel am Hut, aber die Merkel ist doch ganz in Ordnung. Die SPD hat ein Potenzial, wieder deutlich über die 30 Prozent zu kommen, wenn die Union stärker auf einen Rechtskurs einschwenkt. Ob das unter Frau Merkel noch passiert, glaube ich weniger, aber da stehen ja schon einige potenzielle Nachfolger bereit, die mit ihrem Kurs überhaupt nicht zufrieden sind.

Was würden Sie Martin Schulz und der SPD für die Wochen vor der Wahl empfehlen?

Das eine große Thema, dass die Rettung bringt, gibt es nicht. Es geht um Konsistenz. Die Leute müssen das Gefühl kriegen: Martin Schulz hat mehr Power, Energie und Ehrgeiz. Dem reicht der Status Quo nicht, er kämpft dafür, dass Deutschland auch in Zukunft erfolgreich ist. Dann kommen die Wähler von alleine. Diese Botschaft muss vertreten werden, nicht einen halben Tag lang, sondern durchgehend bis zum Wahltag.

Mit Frank Stauss sprach Christian Rothenberg

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