Die Flanken weit offen.

Die Tranquilizer-Strategie der CDU ist eine völlig unnötige Einladung an ihre Gegner – und eine zweite Chance für Merkels Herausforderer.

„Gut & Gerne“ – oder eher „Gutes von Gestern“ – man weiß nicht, was die CDU geritten hat, ihre erwiesenermaßen für andere Kunden brillant arbeitende Agentur so zu quälen, dass am Ende der reine Biedermeier regiert.

Aber da eine gute Agentur auch immer nur so gut sein kann, wie ihr Kunde es zulässt, darf man vermuten, dass es um mehr als um Slogans und Plakate geht. Es geht um eine Wahlkampf-Strategie. Es geht darum, was die CDU und ihre Kanzlerin einem Land und einer Welt im Umbruch in diesem Wahlkampf anbieten wollen. Diese Antwort ist jetzt klar: Nichts. Zumindest nichts Neues.

Die CDU spekuliert darauf, dass alle zukünftigen Ideen, Innovationen und Vorhaben einer 4. Amtszeit Merkels von den potentiellen Zulieferparteien entwickelt werden. Also von der SPD, den Grünen oder der FDP. So wie VW vermutlich darauf spekuliert hat, dass ihre Zulieferer ein Elektroauto entwickeln, das dann nur noch in Wolfsburg zusammengeschraubt werden muss. Hat nicht funktioniert.

teaser_hoellenritt_wahlkampf_2017Wenn man hinter der CDU-Kampagne etwas wie eine Koalitions-Strategie vermuten will, dann kann es nur eine Einladung an Christian Lindner und seine Start-Up-FDP sein. Indem die CDU jeden Schwung, jeden Esprit, jeden neuen Gedanken outsourct macht sie die Flanke weit auf für die runderneuerten Liberalen.

Mit macronesker Attitude und trudeaueskem Look ist Lindner auf dem besten Wege, im Endspurt des Superwahljahres so massiv merkelmüde Wähler abzugreifen, dass die 35% für die Union wieder wahrscheinlicher sind als die 40 und die Zweistelligkeit der FDP wahrscheinlicher als die Einstelligkeit.

Mit Unterstützung der sich auflösenden, zerstrittenen und nur noch von regelrecht abstoßenden Akteuren getragenen AfD, kann die Union evtl. dort noch 2-3 Prozent reumütige Bieder-Deutschtümler abholen – aber auf der anderen Seite wird sie viele verprellen, die doch noch ein Mindestmaß an Gestaltungsanspruch an ihre Regierung stellen. Ja, Schwarz-Gelb ist wahrscheinlicher geworden – aber dann mit einer schwächeren Union und einer deutlich stärkeren FDP. Das ist die eine Möglichkeit.

Die CDU gibt einem weiteren Akteur wieder viel Raum, den er sich gar nicht hätte träumen lassen können: Martin Schulz.

„Wenn Dein Gegner am Ertrinken ist, werfe ihm Blei zu“, war ein Satz, den ich in der Clinton/Gore Kampagne lernte. Übersetzt in die heutige Zeit heißt das: Wenn Dein Herausforderer von 30% wieder auf 24% abgesunken ist, dann unternimm alles, damit er nicht wieder hochkommt.

Nichts ist gefährlicher als ein Comeback-Kid. Ein Gegner, der schon totgesagt war, aber wieder kommt und dadurch sogar noch mehr Momentum entfachen kann, als beim ersten Anlauf. Weil die Menschen sehen, dass er kämpft, dass er nicht aufgibt, dass er seine Haltung und Überzeugung bewahrt und unbeirrt seinen Weg geht. Für sie – nicht für sich selbst. Und weil er den Menschen auch inhaltlich eine Alternative bietet, die am Ende für sie vielleicht doch besser ist, als nur die Verlängerung des Staus Quo.

Aus Sicht der CDU hätte dies bedeutet, Schulz und die SPD inhaltlich zu fordern, zu treiben, selbst Ideen zu entwickeln und die SPD damit noch deutlicher in die Defensive zu drängen. Das Gegenteil ist der Fall. Die CDU lässt sich treiben. In der Steuerpolitik, in der Familienpolitik, in der Sozialpolitik sowieso aber auch in der Wirtschaftspolitik. Natürlich liegt das auch daran, dass die Brüche in der Union so massiv sind, dass man sich untereinander kaum auf Substantielles verständigen kann. Aber man hat es vermutlich noch nicht einmal versucht.

Merkel erschien zum Ende des Jahres 2016 müde und ideenlos. Heute wirkt sie nur nicht mehr müde. Die CDU hat sich für die vermeintlich sichere Bank entschieden. Nicht anecken, nichts wollen, demobilisieren, beruhigen. Aber 2017 ist nicht 2013.

In einem völlig sinnfreien Timing präsentiert die CDU ihre Tranquilizer-Kampagne ausgerechnet vor dem entscheidenden SPD-Parteitag, von dem man jetzt schon weiß, dass dort viel kluge Programmatik verabschiedet werden wird: Steuerreform, Rentenreform, Familienförderung, Wohneigentumförderung, gesellschaftliche Reformen, Gleichberechtigung und mehr. Und man darf vermuten, dass Martin Schulz seine zweite Chance nutzen wird.

Der Ball liegt jetzt wieder im Feld der SPD. Ein völlig unnötiger Ballverlust der CDU. Das Rennen um die besten Ideen für Deutschland ist wieder offen. Vielleicht sogar das Rennen um das Kanzleramt.

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Zum gleichen Thema: Sechzehn Jahre Merkel?

Endlich mal wieder was los hier.

Die ersten Zahlen nach der Verkündung des Wechsels an der SPD-Spitze zeigen, was man sich als überzeugter Demokrat für diesen Wahlkampf nur erhoffen konnte: Es kommt Bewegung in die Sache.

Die Bundestagswahl 2017 war ja im Prinzip schon gelaufen und die einzige Frage im Raum lautete: Wie schlimm wird es für die SPD? Jetzt lautet die Frage: Wie stark wird die SPD? Das ist ja schon mal ein Unterschied. Von dieser veränderten Fragestellung kann noch wesentlich mehr ausgehen. Es gibt tatsächlich die Chance auf Momentum zugunsten der SPD, das, wenn es denn eintritt, zwangsläufig alle anderen Akteure schwächer werden lässt. Denn in den vergangenen Monaten ernährte sich die Konkurrenz, also Grüne, Linke, FDP, CDU/CSU und zu einem geringen Teil auch die AfD, wie die Geier am Aas der scheinbar verstorbenen SPD. Wenn man in alle Richtungen blinkt, bekommt man eben nicht mehr Zustimmung, sondern verliert in alle Richtungen. Aber Totgesagte leben länger und es besteht nun begründete Hoffnung auf Besserung.

Schauen wir also auf die ersten sich abzeichnenden zarten Bewegungen. In der politischen Stimmung, welche die Forschungsgruppe Wahlen dankenswerterweise zusammen mit ihren gewichteten Daten veröffentlicht, schnellt die SPD von 21% auf 29%. Gewichtet fällt der Anstieg dann moderater aus, nämlich um 3%. Aber immerhin. Das deckt sich mit den ersten Zahlen von Infratest.

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Nach der ersten Blitzumfrage von Infratest für die ARD wünschen sich 41% Angela Merkel als zukünftige Kanzlerin und 41% Martin Schulz. Das ist eine Momentaufnahme an der mich vor allem eines interessiert: 82% der Befragten wollen entweder von Martin Schulz oder Angela Merkel regiert werden. Ein beeindruckendes Votum für die beiden Akteure und für die Volksparteien CDU/CSU und SPD. Denn nur 11% der Befragten antworten mit „keinen von beiden.“ Und wer in den 11% hauptsächlich steckt, ahnen wir ja schon.

Doch nochmal zurück zur politischen Stimmung: Dort bleibt die Union bei beeindruckenden 40% (gewichtet 36), die Grünen verlieren klar von 10 auf 7%, die FDP von 8 auf 6, die AfD deutlich von 10 auf 7. Die Linke gewinnt einen Punkt von 8 auf 9. Gewichtet kommen die Volksparteien damit wieder auf 60% (36+24), Grüne 8, FDP 6, Linke 10, AfD 11.

Nun haben in den vergangenen Tagen einige weitere Entwicklungen Anlass zu Veränderungen im Wahlverhalten geboten. Die Grünen haben ihre Spitzenkandidatur mit einem klaren Signal für Schwarz-Grün entschieden, die AfD streitet mal wieder über die Relevanz des Holocaust und Donald Trump hat erkennbar keine zweite Persönlichkeitsebene. All dies spielt  auch mit in die Zahlen rein und lässt Raum für Spekulationen. Zum Beispiel, ob die Linke ansteigt, weil die Grünen rechts blinken, oder ob die AfD wegen Höcke verliert oder doch eher an Schulz. Time will tell. Dafür ist es tatsächlich noch zu früh.

Wichtig ist aber, immer vor Augen zu haben, wer denn die Wahl am Ende entscheiden wird und in welcher grundsätzlichen Verfasstheit die Menschen im September wählen werden.

Die Forschungsgruppe Wahlen hat im ersten ZDF-Politbarometer des Jahres 2017 (im Feld 10.1.-12.1.2017) den höchsten Zufriedenheitswert bezüglich der persönlichen und der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in Deutschland gemessen, der je in der Geschichte des Politbarometers gemessen wurde. 66% der Deutschen empfinden ihre eigene wirtschaftliche Lage als gut. Gerade einmal 6% als schlecht. 28% teils/teils.

Erfahrungsgemäß gehen die 66% mit wesentlich höherer Wahrscheinlichkeit wählen als die 6%, was sie in einer realen Wählergewichtung vermutlich auf etwa 75% der Wählerschaft bei der Bundestagswahl im September 2017 bringen wird. Die Wahl wird also von Menschen entschieden, denen es nach eigenem Bekunden gut geht.

Hinzu kommt, dass die AfD ihr Potential weitgehend ausgeschöpft hat und trotz des ersten größeren Anschlags auf deutschem Boden nicht weiter anwächst. Geht man von 10-14% Potential aus (es kann auch noch bis September deutlich runter gehen), wird sie keinen größeren Raum im Wahlkampf einnehmen können – es sei denn man gibt ihn ihr von Seiten der anderen Akteure. Die AfD selbst ist kein programmatischer Akteur sondern lediglich Resonanzboden für die Reaktionen Dritter. Dafür muss sie aber immer schriller werden, da man sich an ihre Provokationen weitgehend gewöhnt hat. Und mal im Ernst: Wer interessiert sich für die Provokationen der AfD, wenn der größte Provokateur unserer Zeit im Weißen Haus sitzt? Aktuell müssen die Rechten bereits die ganz harten Nummern auffahren, was sie jedoch immer weiter ins Abseits führt.

In ihrer Untersuchung zum Jahresauftakt hat die Forschungsgruppe erhoben, dass sich die Positionierung der AfD aus Sicht der Deutschen immer weiter nach rechts außen verschoben hat. Lag sie zu ihrer Gründungsphase mit Repräsentanten wie Lucke und Henkel noch zwischen CDU und FDP bei einem Wert von ca. 6,5 auf der Skala von 1 (ganz links) bis 11 (ganz rechts), so liegt sie jetzt bei 9. Zum Vergleich: Linke (3), Grüne (4,5), SPD (5), FDP (5,8), CDU (6,5), CSU (7,2). Das bedeutet auch, dass die Radikalisierung der AfD ihr Wachstum deutlich hemmt und sie für immer größere Bevölkerungsteile unwählbar wird.

Der nun wieder erstarkende Wettbewerb zwischen den Volksparteien und die personelle Konfrontation zwischen Merkel und einem Herausforderer, der nicht am Kabinettstisch sitzt, ist Gift für die kleineren Parteien im Wettstreit um Aufmerksamkeit. Das werden sie auch zu spüren bekommen. Ein Duell Merkel vs. Schulz ist auch ein Kampf um die Meinungsführerschaft innerhalb der 75% plus X der Bevölkerung, die für die Volksparteien grundsätzlich erreichbar sind. Und in diesem Potential wird mancher schon einen vorsichtigen Blick auf die Union nach Merkel werfen. Eine Union nach Merkel wird jedenfalls deutlich nach rechts rücken und das gefällt nicht allen.

Die SPD hat in den letzten Jahren ihre Wähler vor allem im ständig wachsenden, modernen Mittelstand an die Merkel-CDU aber auch an die Grünen, die Nichtwähler und zuletzt sogar wieder an die FDP verloren. Dieses Milieu will durchaus, dass es fair zugeht, möchte keine Armut im Land und keine sozialen Verwerfungen. Aber dieses Milieu steht auch für Fortschritt, Aufstieg, Europa, Gleichberechtigung, Minderheitenschutz, Umweltschutz, Freiheit und das Streben nach persönlichem Wohlstand. Wählerinnen und Wähler aus diesem Milieu haben die Merkel-Union von 33,8% im Jahre 2009 auf 41,5% im Jahr 2013 katapultiert. Grundsätzlich sind sie aber bereit, wieder zu gehen – wenn man ihnen ein attraktives Angebot macht.

Deutschlands modernes bürgerliche Milieu wird auch eher von jenen geprägt, die zum Höhepunkt der Flüchtlingswelle in den Keller oder auf den Dachboden gegangen sind, um Spielzeug, Mäntel, Decken zu greifen und damit zum nächsten Flüchtlingsheim zu fahren. Ja, auch diese Leute sind heute zum großen Teil froh, dass nicht mehr so viele Flüchtlinge bei uns ankommen wie 2015 – aber sie wären dennoch niemals auf die Idee gekommen, deshalb nach rechts zu driften. Eine Union ohne Merkel, dafür aber mit mit einem Haufen erzkonservativer Männer, ist für diese Wähler schwer erträglich. Das aber ist die Zukunft der Union.

Natürlich sind die Deutschen auch verunsichert durch Trump, Brexit, Putin, Erdogan, Krieg, Gewalt und Terror. Doch sie reagieren völlig anders als andere Gesellschaften in Europa. Die Deutschen reagieren anti-nationalistisch. 88% der Deutschen wünschen sich im aktuellen Politbarometer eine stärkere Zusammenarbeit in Europa als Reaktion auf Donald Trump. Auch das spricht für Schulz.

Eine SPD mit Martin Schulz ist also eine attraktive Alternative im progressiven aber auch im bürgerlich-modernen Milieu. Und bevor jetzt wieder jemand fragt, was denn mit den Arbeitern und dem kleinen Mann auf der Strasse ist, dem sei geantwortet: Es gibt jede Menge Arbeiter und „kleine Männer von der Strasse“, die pro-europäisch, nicht ausländerfeindlich, dafür sozial und demokratisch eingestellt sind. Dafür gibt es auch Faschos mit Abitur, Geld und Haaren. Wahlverhalten lässt sich schon länger nicht mehr alleine von soziodemographischen Daten ableiten, sondern von Grundeinstellungen. Aber das ist ein weites Feld und ein anderes Thema. Wichtig ist: Schulz kann Menschen ähnlicher Einstellung erreichen, denn er bietet den Menschen wieder politische Orientierung und alleine schon durch sein Temperament eine klare Alternative zur ewigen Kanzlerin. Und Schulz kann Nichtwähler mobilisieren, denen die SPD im Bund zuletzt nicht klar und sichtbar genug war, die aber auch sonst keine politische Heimat fanden. In Rheinland-Pfalz konnte im März 2016 eine sehr klare und fortschrittliche SPD wesentlich mehr Wählerinnen und Wähler aus dem Lager der Nichtwähler gewinnen, als sie zum Beispiel an die AfD abgeben musste. Auch im Bund kann man hier Potentiale heben.

Untermauern kann die Regierungspartei SPD ihren Anspruch durch eine gute Bilanz. Ihre Wahlversprechen haben die Sozialdemokraten Punkt für Punkt abgearbeitet und eingelöst. Mindestlohn, Rente ab 45 Beitragsjahren, Entgeltgleichheit, Frauenquote auf Führungsebene, Mietpreisbremse und so weiter und so fort. Millionen Menschen in Deutschland profitieren direkt von dieser Politik. Das alleine hätte nicht gereicht, aber in Kombination mit einem attraktiven Kandidaten ist das ein klares Plus für die Glaubwürdigkeit der Partei.

Vieles ist noch im Entstehen und vieles wird sich noch verändern in den kommenden Monaten. Mit der Kandidatur von Martin Schulz wird die SPD auch nicht umgehend eine dauerhafte Sofortrendite einfahren können. Dafür braucht sie Nerven, Beständigkeit und ein überzeugendes Programm mit frischen Impulsen. Aber sie ist wieder ein relevanter Akteur im Bundestagswahlkampf.

Kurz zusammengefasst:

Die SPD mit Schulz ist wieder spannend, hat aber noch ordentlich zu tun.
Die Union mit Merkel ist verlässlich abgestanden, es droht aber eine Rechtsdrift.
Die Grünen starten belanglos und gähnend langweilig ins Wahljahr.
Die AfD verblasst im Schatten von Donald Trump.
Die FDP muss wieder zittern.
Und die Linke ist auch irgendwie noch da.

Insofern war das eine gute Woche für eine lebendige Demokratie in Deutschland. Endlich mal wieder was los hier.

PS: Am 10. Februar erscheint die deutlich erweiterte und aktualisierte 3. Auflage von „Höllenritt Wahlkampf“ bei dtv. Mit ein paar schönen neuen Kapiteln (siehe den vorherigen Blogbeitrag).

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