Das Zuhörproblem

Nachdem sich die größte Aufregung um Panzerlieferungen wieder gelegt hat, lohnt ein Blick auf die begleitende Debatte. Während viele Medienvertreter:innen mit seinem Kommunikationsstil hadern, versteht das Volk Olaf Scholz scheinbar recht gut. Im Vergleich zu Biden, Macron oder Sunak liegt der Kanzler bezüglich der Zustimmungsraten in der Bevölkerung vorne. Woher kommt die Entfremdung zwischen Bevölkerung und Medien?

Die Worte, die Olaf Scholz im allgemeinen wählt, sind weder kryptisch, noch banal, noch von  überbordenden Emotionen geprägt, sondern meist klar, knapp und verständlich. Auch wenn er gerade nichts sagen kann, ist das nicht schwer zu verstehen. Er sagt dann nichts.

Weite Teile der Bevölkerung kommen mit diesem Stil offenbar ganz gut klar, notiert Scholz doch schon seit vielen Jahre in den Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen beständig im oberen Drittel der beliebtesten und wichtigsten Politiker:innen Deutschlands (aktuell auf Rang 3). 55% bescheinigen dem Kanzler zu Ende Januar 2023, einen guten Job zu machen. Angesichts der vielfältigen Krisen unserer Tage ein passabler Wert – und einer der höchsten in vergleichbaren Demokratien. Joe Biden kommt auf 42,3%, Macron auf 36% und Sunak auf 40% Zustimmung (Quellen siehe Grafik).

Nur einer notiert im positiven Bereich.

Woher aber kommen nun diese Unterschiede zwischen dem kritischen, häufig auch in drastischer Sprache geäußerten Missfallen zahlreicher Medien und dem stabilen Eindruck, den der Bundeskanzler bei den meisten Menschen hinterlässt?

Schon lange beobachten wir in der Kommunikationsbranche eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen einer recht überschaubaren intensiven Kommunikationselite und breiten Bevölkerungsschichten. Der massive Medienwandel, vor allem im vergangenen Jahrzehnt, hat zu einer Kluft bezüglich der Tiefe von Wissen und auch der Geschwindigkeit im Konsum von allgemeinen, politischen und gesellschaftlichen Informationen zwischen diesen ungleich verteilten Polen geführt, die auch weiter wächst. 

Die Schlüsselbegriffe, um in breiten Bevölkerungsschichten heute zu reüssieren lauten Stabilität und Berechenbarkeit. Am Ende zählt die lange Linie und nicht die hektische Kurzatmigkeit. Das erklärt auch die zunehmende Entfremdung zwischen Medien und Bevölkerung.

Medienvertreter:innen kämpfen seit Jahren mit abnehmender Bedeutung und nicht selten um das eigene wirtschaftliche Überleben. Selbst große Medienhäuser wie Axel Springer stemmen sich mit immer schrilleren Tönen und zweifelhaften wirtschaftlichen Investitionen (BILD TV) vergeblich dem Verfall ihrer einstigen Macht entgegen. Immer mehr Journalist:innen suchen ihre Rettung im Aufbau eigener Medienmarken, die sich im Zweifel auch ohne das aktuelle Verlagshaus monetarisieren lassen. Dafür benötigt werden Follower auf den sozialen Kanälen, hohe Abrufzahlen, Klickraten und möglichst häufige Auftritte in TV-Formaten, reichweitenstarken Podcasts und Newslettern.

Eine solche Reichweite innerhalb einer überschaubaren aber wiederum wichtigen und zahlungskräftigen Zielgruppe, erreicht man am einfachsten über Lautstärke, Polarisierung, Geschwindigkeit und natürlich auch Polemik. Ob das besser oder schlechter ist als „früher“ ist dabei irrelevant. Politik ist keine nostalgische Veranstaltung sondern findet in den Räumen statt, die aktuell zur Verfügung stehen.

Dieser Kampf um Aufmerksamkeit – nicht der Politik, sondern der Medien – führt zu kuriosen Wettrennen um exklusive Erstmeldungen. Nicht selten geht es um Minuten oder gar Sekunden. Zuletzt zu verfolgen bei dem bizarren Nachrichtenzyklus rund um den Rücktritt der Verteidigungsministerin und der Ernennung ihres Nachfolgers. Frau Lambrecht war am Montag, den 16.1. zurückgetreten, am Dienstag wurde ihr Nachfolger, Herr Pistorius, benannt und am Donnerstag vereidigt. 

Man muss keine Meinungsforschung betreiben um zu wissen, dass von den 84 Millionen Einwohner:innen Deutschlands gute 83,99 Millionen mit diesen zeitlichen Abläufen ganz gut klarkamen. Vorausgesetzt, sie haben den Vorgang in der Kürze der Zeit überhaupt mitbekommen. Für zahlreiche Medienvertreter:innen war es andererseits ein absolutes Unding, dass „in Kriegszeiten in Europa der Chefsessel im Verteidigungsministerium unbesetzt“ blieb. Was noch nicht einmal der Fall war, den Lambrecht war ja noch im Amt.

Die unüberschaubare heutige Medienvielfalt und die mit ihr verbundenen Zerstreuungs- oder Eskapismusoptionen führen dazu, dass eine Gleichzeitigkeit des Informationsflusses nicht mehr vorhanden ist. Viele Menschen bekommen immer mehr Informationen entweder gar nicht oder zeitlich stark versetzt mit.

Um Durchzudringen wird daher die lange Linie – also Berechenbarkeit, Verlässlichkeit, Unaufgeregtheit und am Ende vor allem ein erfolgreiches Management multipler Krisen – immer wichtiger.

In hektischen Zeiten gewinnt die Orientierungsfunktion von Politik immer weiter an Bedeutung. Die Menschen wollen wissen, wofür eine Person, eine Partei, eine Regierung steht. Nicht in jeder Sekunde – sondern langfristig. Heutige Medienmechanismen und seriöse Politikvermittlung stehen immer mehr im Gegensatz zu einander.

Politik läuft Gefahr, sich in der selben Blase zu bewegen wie viele Medienvertreter:innen heute. Das Ergebnis sind hektische, fehlerhafte, unberechenbare und nicht zu Ende gedachte Entscheidungen. Dies führt zu großen Irritationen in der Bevölkerung, die in diesen Zeiten vor allem eines nicht will: eine irritierende Regierung – wie sie etwa Großbritannien über die letzten Jahre erlebte.

Die Gratwanderung seriöser Politik besteht nun darin, Druck auszuhalten, lange Linien zu verfolgen und nicht dem täglichen medialen Irrsinn zu erliegen. Die Gefahr besteht, genau mit diesem Verhalten den Zorn der hyperaktiven Medien auf sich zu ziehen, die immer schneller immer neues Futter brauchen.

Wie die vergangenen Wochen zeigten. Bezüglich der Unterstützung der Ukraine haben die zentralen Akteure Biden, Sunak, Scholz und Macron ein abgestimmtes Vorgehen verabredet und halten sich daran. Das führt zu der beispiellosen Unterstützung einer Nation, die kein offizieller Verbündeter ist – bei gleichzeitiger gegenseitiger Absicherung. Dass Scholz in der Leopard-Frage beständig daran gearbeitet hat, mit den USA im Gleichschritt zu gehen (und diesen im Zweifel auch einzufordern), hat zu einem engeren Schulterschluss gegen den Aggressor Russland geführt. Exakt dieses Vorgehen hat Scholz immer wieder angekündigt und auch begründet.

Das Problem war nicht, dass Scholz nicht sprach – sondern dass er nicht sagte, was viele Journalist:innen hören wollten. Das ist aber ein gewaltiger Unterschied.

Das für die Ukraine positive Verhandlungsergebnis war nur möglich, weil er sich nicht hat treiben lassen. Genau darin besteht ja Führungsstärke – die im übrigen von den entscheidenden Partnern in der Welt exakt so wahrgenommen wird.

Die letzten Monate bieten ausreichend Anlass, Deutschlands Debattenkultur zu hinterfragen. Der Kanzler agiert dabei kommunikativ sicher nicht fehlerfrei. Aber offensichtlich deutlich näher an der Erwartungshaltung der Bevölkerung, als die mediale Stimmung es vermuten ließe.

Dieser Text sollte als Gastbeitrag in einer Tageszeitung zu dem „Kommunikationsproblem des Bundeskanzlers“ erscheinen. Als der Autor darauf hinwies, dass dieses Problem nicht so eindeutig und einseitig bestünde, wurde die Anfrage zurückgezogen. QED

Im deutschen Interesse.

In Kriegszeiten ist Naivität gepaart mit Unerfahrenheit nicht nur falsch und teuer, sondern gefährlich. Und in Kriegszeiten dient Geschwätzigkeit nur dem Gegner – und der heißt Putin. Dass der Bundeskanzler nicht jeden Tag oder gar stündlich Einblicke in sein strategisches Vorgehen gewährt, hat wohl mit der nicht ganz falschen Grundannahme zu tun, dass eine Strategie sich nur dann entfalten kann, wenn sie nicht öffentlich ist. Und auch nur dann aufgehen kann.

Olaf Scholz sagt, was er tut und tut, was er sagt. In den letzten Wochen wurde ich häufiger gefragt, was Scholz eigentlich vorhabe und meine Antwort war immer die gleiche: Es ist aus meiner Sicht kein Geheimnis, was er prinzipiell vorhat. Es ist das, was er immer gesagt hat: Eine effektive Unterstützung der Ukraine in enger Abstimmung – und auch im Einklang mit den Partnern bei Erhaltung des Grundsatzes, dass Deutschland zwar Partei nimmt, aber keine Kriegspartei wird.

Er fördert die Unterstützung der Ukraine und fordert von den Partnern ebenfalls diese Unterstützung ein. Klar, beständig und im Zweifel auch hart. Scholz ist zwar ein neuer Bundeskanzler, aber eben auch ein alter Hase, der weiß, dass man manchmal Druck aushalten muss – und zwar im Interesse aller. 

Internationale Verhandlungen sind kein Kaffeekränzchen und es geht auch nicht darum, von allen immer geliebt zu werden. Everybody’s Darling is everybody’s Depp und wird im Zweifelsfall ausgenommen wie eine fette Weihnachtsgans. Deutschland weckt als starkes Land viele Begehrlichkeiten, die es auch aus Selbstschutz nicht immer erfüllen kann. Hinzu kommen knallharte auch finanzielle Interessen anderer Länder, die mit dem Wohl der Ukraine nur bedingt zu tun haben. Was Deutschland zahlt und liefert, müssen andere nicht liefern und zahlen. Je defensiver Deutschland in Verhandlungen gehen muss, desto besser für alle anderen.

Einige PolitikerInnen und MedienvertreterInnen haben in den letzten Wochen vielleicht aus guten Beweggründen aber mit dem völlig falschen Ergebnis eher die Interessen anderer Länder vertreten als die Interessen Deutschlands. Sie haben – ohne deren Beweggründe zu hinterfragen – anonym geäußerte „Verstimmungen“ oder „Kopfschütteln über den Bundeskanzler“ aus Regierungskreisen anderer Länder verbreitet und sich nicht selten auch zu eigen gemacht. Das ist aber nicht relevant. Wir schütteln ja auch häufiger mal den Kopf über zum Teil sogar  demokratiefeindliche Tendenzen in Nachbarländern.

Ein schwacher Kanzler hätte dem medialen Druck und auch dem ein oder anderen Versuch aus dem Ausland, zusätzlichen Druck aufzubauen, nicht standgehalten. Zum Nachteil Deutschlands und der Ukraine. Denn was wäre denn gewonnen gewesen, wenn Deutschland gleich eine handvoll Panzer geliefert hätte – ohne die USA, Frankreich und andere ebenso für weitere Maßnahmen zu gewinnen? Reine Symbolpolitik. Twitterfähig, instagrammable, talkshowgeeignet und weitgehend nutzlos, wenn nicht sogar gefährlich.

Die Naivität – manchmal gepaart mit durchaus glaubwürdiger emotionaler Überwältigung – der schärfsten KritikerInnen des Bundeskanzlers, hatte das Potential, die Verhandlungsposition Deutschlands bereits im Vorfeld der Ramstein-Konferenz deutlich zu schwächen. Andere hätten diesem Druck nachgegeben. Der Bundeskanzler hat ihn zu recht ignoriert.

Olaf Scholz, das wurde hier bereits an anderer Stelle erwähnt, war zum Zeitpunkt seines Amtsantrittes einer der erfahrensten und qualifiziertesten Politiker, die Deutschland zu bieten hatte. Vor seiner Wahl zum Bundeskanzler war er ein auf internationaler Bühne geschätzter Bundesfinanzminister und Vizekanzler, zuvor zweifach gewählter Ministerpräsident und davor Bundesminister für Arbeit und Soziales. Viel mehr Erfahrung kann man nicht sammeln, um dieses Amt zu übernehmen. 

Ihm gegenüber steht ein Oppositionsführer, der sich zuvor eineinhalb Jahrzehnte Auszeit aus der Politik gegönnt hatte und bis heute über keinerlei Exekutiverfahrung verfügt. Aber auch in den die Regierung Scholz tragenden Koalitionsparteien finden sich einige AutodidaktInnen der internationalen Politik, die über keinerlei Regierungsexpertise verfügen – dafür aber über eine vermeintliche Medienkompetenz mit Dauerpräsenz. Sie haben sich und ihrem Anliegen in den letzten Tagen einen Bärendienst erwiesen.

Was Scholz prinzipiell will sagt er seit nunmehr gut einem Jahr immer wieder. Aber offenbar gibt es große Defizite im Zuhörvermögen anderer.

Auf der Strecke und vor allem im Ergebnis unterscheidet sich der Profi vom Amateur.

Der Führungsstärke des Bundeskanzlers ist es zu verdanken, dass die internationale Gemeinschaft sich zu einer wesentlich effektiveren Unterstützung der Ukraine bekannt hat, als es selbst seine lautstärksten KritikerInnen erträumt haben.

Olaf Scholz hat sich bereits über viele Jahre aber ganz besonders in diesen Tagen auf der Weltbühne etwas erarbeitet, was unserem Land noch weiteren Nutzen bringen wird: Respekt.

Neuland.

Deutschland hat seit acht Wochen einen neuen Bundeskanzler. Aber nachdem der letzte Wechsel im Kanzleramt sechzehn Jahre zurückliegt, haben viele – auch in den Medien – offenbar verlernt, was das tatsächlich bedeutet.

Olaf Scholz wurde am 8. Dezember 2021 im Deutschen Bundestag vereidigt. Heute ist der 8. Februar 2022. Dazwischen lagen noch Weihnachten und Neujahr. Zwischen der Wahl am 26. September 2021 und der Vereidigung lagen außerdem noch relativ kurze Koalitionsverhandlungen an deren Ende erst die genaue Aufteilung der Ministerien und die Bestellung der MinisterInnen-Riege lag. Es folgte die Konstituierung einer neuen Regierung in einer bisher auf Bundesebene noch nie dagewesenen Konstellation. Ministerien wurden neu zugeschnitten, eines komplett neu gegründet. StaatssekretärInnen aber auch hunderte von MitarbeiterInnen wurden bestellt, wechselten zum Teil die Resorts oder begannen ihre Arbeit ganz von vorne. Zum Teil wurden Stellen noch gar nicht besetzt, weil man noch auf begehrte MitarbeiterInnen wartet, bis diese aus ihrem bisherigen Arbeitsverhältnis wechseln dürfen. Das alles geschieht gerade.

In den 16 Jahren zuvor blieb nach dem Amtsantritt 2005 zumindest im Kanzleramt alles beim Alten, viele Ministerien blieben ebenfalls in der gleichen Hand, CDU/CSU regierten durch und nur der Koalitionspartner wechselte mal von SPD zu FDP und wieder zurück.
Heute regiert zwar die SPD weiter, allerdings wurden die Häuser komplett neu zugeschnitten und zum ersten Mal seit 2005 gibt es zum Beispiel wieder sozialdemokratisch geführte Innen- und Verteidigungsministerien. Die FDP regiert erstmals seit 2013 wieder auf Bundesebene, die Grünen erstmals seit 2005.

2005 übrigens, nur zur Einordnung, war das Jahr in dem Johannes Paul der II. starb, George W. Bush seine zweite Amtszeit antrat, das iPhone noch nicht auf dem Markt war, Facebook gerade ein paar Monate zuvor gegründet wurde und die Welt weder von Twitter noch von Uber, Airbnb und Co. je gehört hatte. Weil es sie noch nicht gab.

Das ist also alles recht lange her. Wer zum Beispiel 2005 in einem Medienhaus mit 25 Jahren nach der Uni anfing ist heute 41 und hat bisher nur in anderen Ländern erleben können, was ein Machtwechsel bedeutet. Eine Transition-Phase – also eine Übergangsphase zur Vorbereitung auf die Regierung, wie es sie in den USA sinnigerweise zwischen dem Wahltag in der ersten Novemberwoche und der Amtseinführung am 20. Januar des Folgejahres gibt – kennt unsere Verfassung nicht. Obwohl es natürlich großen Sinn ergäbe, wenn zwischen dem harten Wahlkampfende und den nicht minder harten Koalitionsverhandlungen noch Zeit wäre, Personal zu rekrutieren und einzuarbeiten. Und auch mal auszuschlafen.

Aber selbst mit Transition-Phase beginnen neue Administrationen häufig rumpelig und es muss sich vieles erst einmal „zurechtruckeln“ (A. Nahles).

Grundsätzlich nicht einfacher machen den Start einer neuen Regierung eine Pandemie, ein durchgeknallter russischer Präsident und eine Öffentlichkeit, die nach einer Pressekonferenz des Bundeskanzlers am 25. Januar nur wenige Tage später eine „Wo ist Scholz?“-Kampagne startet.

Und was die schon sehr lange andauernde „Ukraine-Krise“ – die in Wahrheit ja ausschließlich dem monströsen Minderwertigkeitskomplex Putins entsprungen ist – und die wichtige Rolle Merkels 2014 in den Gesprächen angeht: Zu diesem Zeitpunkt war Merkel bereits neun Jahre Bundeskanzlerin. Nicht neun Wochen. Ich persönlich begrüße es daher, wenn ein neuer Kanzler nicht in den ersten Tagen meint, die Welt retten oder Waffen in ein Krisengebiet schicken zu müssen. Kann man das vielleicht etwas klarer formulieren? Da geht wohl noch was.

Ansonsten drücken aktuell noch das Wetter, die ebenso notwendigen wie nervigen Masken, die gestiegenen Energiepreise, die Inflation und die nicht enden wollende Irrenparade der Querdenker aufs Gemüt. Aber das wäre unter keinem Kanzler anders.

Kann man daher grundsätzlich auch sagen, dass wir in der Beurteilung der Herausforderungen einer Regierungsübernahme in dieser Zeit auch etwas mehr Geduld von uns selbst verlangen dürften? Ich denke, da geht noch was.

Aus Fehlern gelernt.

Warum die Wahlkampagnen von Union, SPD und Grünen 2021 so unterschiedlich verliefen. Eine Analyse aus Sicht der 2017 vom SPD Parteivorstand einberufenen Expertenkommission zur Aufarbeitung der Fehler in den Wahlkampagnen 2013/2017.

von Jana Faus, Horand Knaup, Michael Rüter, Yvonne Schroth, Frank Stauss

Die Bundestagswahl 2021 fand in einem Umfeld statt, das es so noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat: Es gab keine*n Amtsinhaber*in, an der*m sich die Menschen im positiven wie im negativen Sinne hätten abarbeiten können. Entsprechend gab es auch keine Daten darüber, wem die Menschen nun ihr Vertrauen schenken würden. Umso wichtiger war es daher, die drei Kandidat*innen selbst glaubwürdig, überzeugend, konzentriert und kompetent auftreten zu lassen. Dafür benötigen sie üblicherweise ein Kampagnenumfeld, in dem sie sich voll entfalten können – aber das ihnen zugleich auch Sicherheit bietet.

In den letzten Wochen vor der Wahl wurde auch den letzten Wähler*innen klar, dass sie sich neu orientieren mussten. Merkel würde gehen. Jemand Neues würde ins Kanzleramt ziehen. Baerbock, Scholz und Laschet wurden nun ganz genau beobachtet und getestet. Nur Scholz hat diesen Test bestanden und zog in der Endphase seine Partei mit nach oben. Am Ende fuhr die SPD, auch profitierend von den Fehlern der anderen, ein Ergebnis weit über den Erwartungen ein, CDU/CSU und Grüne blieben weit darunter.

In Folge der Bundestagswahl 2017 hatte der damalige SPD Parteivorsitzende Martin Schulz eine Studie in Auftrag gegeben, die Lehren aus den vergangenen Niederlagen der SPD ziehen und die Partei besser auf zukünftige Wahlkämpfe vorbereiten sollte. Die Expert*innen setzten sich aus den Bereichen Wahlforschung, Journalismus/Medien und Wahlkampfmanagement zusammen. Sie hatten freie Hand und der SPD Parteivorstand stellte die Analyse „Aus Fehlern lernen“ in einem außergewöhnlichen Schritt der breiten Öffentlichkeit als Download zur Verfügung.

Betrachtet man die Kernpunkte der Analyse, wird deutlich, weshalb die Wahlkämpfe der SPD, CDU/CSU und der Grünen über die entscheidenden Jahre 2020/2021 so unterschiedlich verliefen.

Als wichtigste Kriterien für die Niederlagen der SPD 2017 aber auch 2013 identifizierten die Autor*innen folgende Kriterien:

  1. Zeitlicher Vorlauf/Organisatorischer Aufbau

Kampagnen in der heutigen Medienwelt brauchen ein eingespieltes Team, das Zeit hat, sich aufeinander einzuspielen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und eine klare Strategie zu entwickeln. Hinzu kommen klare Verantwortlichkeiten, kurze Abstimmungsprozesse und verlässliche Strukturen für das Krisenmanagement (das in jeder Kampagne gebraucht wird).

  1. Policyentwicklung.

Eine Bundestagswahlkampagne braucht eine klare Fokussierung auf Inhalte. Sonst geht ihr mit Sicherheit auf der Strecke die Luft aus. Diese Inhalte und die dazugehörigen Botschaften müssen entwickelt, finanziell durchgerechnet und auf Plausibilität bezüglich der späteren Umsetzung geprüft werden. Auch das benötigt Zeit. Vor allem aber ist es wichtig, die unterschiedlichen Strömungen der Partei in den Policyprozess zu integrieren. In der heißen Phase des Wahlkampfes darf es nicht zu inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei kommen. Die Themen werden dann auch auf ihre Vermittelbarkeit geprüft und für unterschiedliche Kanäle (social Media, Print etc.) aufbereitet.

  1. Geschlossene Führung.

Wir leben in unruhigen, für viele stressintensiven Zeiten. In diesen Zeiten darf eine Partei nicht irritieren. Im Gegenteil, sie muss Leuchtturm sein, an dem die Menschen sich orientieren können. Konflikte zwischen den Spitzenpoliter*innen einer Partei verstören die Menschen.

  1. Kampagnenentwicklung und Sprache.

Eine erfolgreiche Kampagne basiert auf einer klaren Strategie, einer klaren Umsetzung und einer klaren Sprache. Für diese Kampagnenentwicklung braucht es Zeit. Partei, Programm und Person müssen eine Einheit bilden. Die Images der Person und der Kampagne müssen harmonieren, sonst erzeugt das wieder Irritationen. Hier hilft auch die strategische Wahlforschung – für die es wiederum Zeit braucht.

  1. Spitzenkandidatur

Ein Spitzenkandidat mit guten bis sehr guten Werten in der persönlichen Beurteilung darf nicht abseits der Kampagne laufen. Kampagnen müssen zwingend mit dem*r Kandidat*in harmonieren und mit ihm*r gemeinsam entwickelt werden. Nur dann ist die Kampagne glaubwürdig. In Zeiten der medialen Überreizung werden Spitzenkandidat*innen noch wichtiger, als sie es ohnehin schon waren. Menschen orientieren sich an Menschen. Politker*innen sind Transmissionsriemen zwischen einer immer komplizierteren politischen Welt und den Wähler*innen, die gleichzeitig der Politik immer weniger Aufmerksamkeit schenken.

Betrachten wir nun der Verlauf der Kampagnen der Parteien, die in der Bundestagswahl 2021 einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin nominierten, so zeigt sich sehr deutlich, warum insbesondere die SPD eine erfolgreiche Kampagne bestritten hat.

SPD:

Nach der Niederlage des Teams Geywitz/Scholz gegen Esken/Walter-Borjans Ende November 2019 begann die Parteiführung zügig mit dem innerparteilichen „Heilungsprozess“. Angesichts der über ein Jahrzehnt anhaltenden und zum Teil existentiellen Krise der Bundespartei kamen offenbar alle Beteiligten zu der Einsicht, dass sie nur gemeinsam eine Chance hätten, die SPD zu retten. Bereits im Frühjahr 2020 verdichteten sich die Gerüchte, dass am Ende Olaf Scholz die Kandidatur übernehmen würde. Faktisch nominiert wurde er dann im August 2020 – mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl. Generalsekretär Lars Klingbeil (den keiner der Parteiflügel in seinem Amt in Frage stellte) konnte sowohl Teamaufstellung, Agenturauswahl, Kampagnenentwicklung als auch die Organisation der Policy-Entwicklung vorantreiben. Und er tat es auch. Im August 2020 wussten alle Beteiligten, dass sie – wenn überhaupt – nur dann eine Chance im September 2021 haben würden, wenn sie den handwerklichen Teil der Kampagne perfekt vorbereiteten. Und das taten sie.

Maßgebliche Elemente der in der Analyse aufgeführten und erfolgreich umgesetzten Empfehlungen waren:

— Die frühe Nominierung des Kandidaten. Er war weithin bekannt und medial quasi ausdefiniert, als die Konkurrenz ihre Kanzlerkandidat*innen benannten.

— Die ebenso ungewöhnliche wie anhaltende Geschlossenheit der Partei – trotz monatelang schlechter Umfragezahlen.

— Die Fokussierung auf wenige, aber zentrale Anliegen. Mit Mindestlohn, Bürgergeld und Wohnungsbau rückte Olaf Scholz sozialdemokratische Kernthemen in den Mittelpunkt seiner Kampagne.

— Erfolgreiches Regierungshandeln: Ob der Arbeitsminister, die Familien-, die Umweltministerin oder der Finanzminister selbst – sie lieferten ungleich bessere Arbeitsnachweise und konkret und im Alltag erfahrbare Verbesserungen ab als die Kolleg*innen von der CDU/CSU.

CDU/CSU:

Nach der Wahl in Hessen vom Oktober 2018, bei der die dortige CDU 11,3 Prozentpunkte im Vergleich zu 2013 verloren hatte, kam Angela Merkel den Angriffen aus den eigenen Reihen zuvor. Sie verkündete nur 24 Stunden später ihren Verzicht auf den Parteivorsitz und kündigte ihren Rückzug aus der Politik mit der Bundestagswahl 2021 an. Nun wurde auch sichtbar, dass die Kanzlerin die lange Zeit an der Parteispitze nicht genutzt hatte, geeignete Nachfolger*innen aufzubauen. Eine Führungsreserve für die Parteiführung war (und ist) nicht erkennbar.

Für den Parteivorsitz kandidierten Jens Spahn, Friedrich Merz und Annegret Kramp-Karrenbauer, die am 7. Dezember 2018 erst im zweiten Wahlgang gewählt wurde. Zermürbt von anhaltender innerparteilicher Kritik kündigte Kramp-Karrenbauer bereits am im Februar 2020 ihren Rücktritt an. Kurz darauf kam es zum coronabedingten Lockdown in Deutschland und die Parteivorsitzende musste fast ein weiteres Jahr als machtlose Übergangsverwalterin im Amt ausharren. Erst am 16. Januar 2021 wurde Armin Laschet – wieder im zweiten Wahlgang – zum neuen Parteivorsitzenden gewählt. Angetreten waren neben ihm Norbert Röttgen und natürlich, wie immer, Friedrich Merz. Die CDU hatte die Menschen über zwei Jahre lang mit Kampfabstimmungen irritiert – die natürlich auch innerparteilich Spuren hinterlassen hatten.

Nun zögerte Laschet aber, gleich auch nach der Kanzlerkandidatur zu greifen, um nicht mit den drohenden Niederlagen der CDU im März 2021 in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg identifiziert zu werden. Dieses erneute Machtvakuum nutzte Markus Söder, um seinen Hut in den Ring zu werfen. Nach erneuten harten Auseinandersetzungen hatte die Union erst am 20. April 2021 auch einen Kanzlerkandidaten – und der war beschädigt.

Dies hatte natürlich Auswirkungen auf die technische Führung des Wahlkampfes. Generalsekretär Paul Ziemiak – der mit Kramp-Karrenbauer im Dezember 2018 sein Amt angetreten hatte – musste sich im Januar 2021 zunächst mit einem neuen Parteivorsitzenden arrangieren und hatte erst vier Monate später einen Kanzlerkandidaten. Das ist sehr spät – eigentlich zu spät. Zu diesem Zeitpunkt warten die Kandidatinnen und Kandidaten vor Ort schon seit Wochen auf überzeugende Argumente und ihre Werbemittel. Die Kampagne musste jetzt in Windeseile aus dem Boden gestampft werden, beziehungsweise – und das ist der wahrscheinlichere Fall – die Kampagne war schon vorbereitet und musste nun auf Armin Laschet zugeschnitten werden.

Wichtiger aber ist: In dieser kurzen Zeit baut man kein Team auf, das sich blind vertraut. Für die Außenkommunikation wurde die ehemalige BILD- Chefredakteurin Tanit Koch engagiert – es fehlte aber die Zeit, sie auch zu integrieren. Viele Beobachter*innen nahmen wahr, dass in der Kampagne Verantwortlichkeiten nicht klar zugeordnet waren, der Kandidat häufig schlecht oder gar nicht vorbereitet zu Terminen erschien. Die handwerklichen Fehler häuften sich. So entstand kein Vertrauen in den Kandidaten und die Kampagne. Im Konrad-Adenauer-Haus fand über die letzten Jahre zudem ein Generationswechsel statt, sodass im Haus selbst keine Erfahrung mehr vorhanden ist. Für Policyentwicklung blieb ebenfalls keine Zeit. Alle Pannen aufzuzählen würde hier den Raum sprengen – aber die verunglückten Bilder des Kandidaten setzten sich in den Köpfen fest.

Die Grünen

Die Grünen nutzten zwar den relativ langen Zeitraum vor der Verkündung der Spitzenkandidatin, um sich organisatorisch und auch inhaltlich solide aufzustellen. Das neue Führungsteam Annalena Baerbock und Robert Habeck hatte die Vorlaufzeit in der Parteiführung gut genutzt, um mit einigen grünen Widersprüchlichkeiten aufzuräumen. Sie beendeten die Jahrzehnte dauernde Lähmung durch Strömungsauseinandersetzungen zwischen Fundis und Realos. Die Bundesgeschäftsstelle wurde professionalisiert, Strömungsscharmützel rückten in den Hintergrund. Das neue Duo konzentrierte sich auf die Policyentwicklung. Sie  erweiterten ihr Portfolio in der Sozialpolitik und besonders der Co-Vorsitzende Habeck beackerte zunehmend auch die Felder Finanz- und Wirtschaftspolitik.

Umso erstaunlicher ist es daher, dass die einsame Entscheidung um die Kanzler*innenkandidatur die scheinbar professionelle Maschinerie aus dem Takt brachte.  Baerbock und Habeck hatten intern offenbar zu wenig über die eigentliche Entscheidung kommuniziert und diese tatsächlich erst unmittelbar vor der Verkündung von Baerbock gefällt. Unabhängig davon hatte es die Kampagnenleitung zudem verpasst, beide Kandidierenden über diesen langen Zeitraum hinweg auf Herz und Nieren zu prüfen. In den notwendigen Prozess auch der innerparteilichen Heilung (viele Anhänger*innen hätten lieber Habeck gesehen) platzten dann die bekannten Vorwürfe gegen die Spitzenkandidatin und beschädigten sie nachhaltig. Selbst die Flutwelle – die eigentlich einen Boom für die Grünen hätte auslösen müssen – brachte keine Wende in der Kampagne. Etwa ab Juli spielte die Partei nur noch auf Platz.

Wahlkampf ist ein Handwerk. Eine perfekte Kampagne führt nicht automatisch zum Sieg – dafür gibt es zu viele äußere Umstände, die auf das Ergebnis Einfluss nehmen. Aber eine handwerklich schlechte Kampagne kann den sicher geglaubten Erfolg kosten.

Die SPD – die gesamte SPD – hat aus ihren Fehlern gelernt. Das kann man am Ende dieses Wahljahres definitiv sagen. Allen anderen empfehlen wir: „Aus Fehlern lernen“.