Lasst sie gehen.

Vor vier Jahren gab es sehr gute Gründe für einen Einstieg in die Große Koalition und das Mitgliedervotum der SPD unterstützte diesen Kurs. Heute gibt es sehr gute Gründe, andere regieren zu lassen und auf Macht, Einfluss und Gestaltungsspielraum zu verzichten.

Nein, es war kein Automatismus, dass die SPD zwingend so geschwächt aus einer Großen Koalition gehen würde. Dazu gehörten schon auch eine gehörige Portion Gabrielscher Zick-Zack-Kurs mit dem wiederholt verantwortungslosen Umgang bei der Vorbereitung von Kanzlerkandidatur und Wahlkampfstrategie, sowie der immer noch herumspukende Irrglaube, man könne die SPD mit den Rezepten von gestern und vorgestern neu aufstellen.

Wie schwach Merkel und die Union tatsächlich aufgestellt waren, zeigte sich nicht nur im Aufglimmen der SPD nach der Nominierung von Martin Schulz – sondern eben auch am Wahltag selbst. Merkel war schlagbar, doch ein Wahlkampf der verpassten Chancen ließ sie noch einmal davonkommen.

Noch schlimmer verlief allerdings der Wahlkampf der Union. Ende Juni noch bei 40% in den Umfragen – und erst dann begann ja die heiße Phase – verlor die Union satte 7% durch die wohl bräsigste, arroganteste und selbstgefälligste Bundestagswahlkampagne der Neuzeit. „Für ein Deutschland in dem wir gut und gerne leben“ eignet sich vielleicht als Motto für das Dr. Oetker Kochstudio, aber mit Sicherheit nicht als Guideline für die Kanzlerpartei in einer massiven Zeitenwende. Die Wähler fühlten sich zu recht veräppelt und flüchteten sich – nicht vordringlich zur AfD – sondern vor allem zur FDP oder in die Nichtwählerschaft.

Das Versagen aller drei Regierungsparteien – und auch die intellektuelle Unterforderung der progressiven Wählerinnen und Wähler im Wahlkampf – machte das Ausfransen an den Rändern erst möglich. An manchen Tagen fühlte ich mich wie ein Telefonseelsorger und beantwortete Fragen wie: „Ich möchte nicht, dass die SPD untergeht, aber ich möchte auch nicht, dass sie weiter regiert – was soll ich tun?“ Antwort: Wähl sie trotzdem, es wird schon schlimm genug werden. Oder: „Ich kann das Grünen-Duo nicht leiden, bei der Linken stören mich die Putin-Lover und die SPD soll nicht mehr regieren – wen soll ich wählen?  Antwort: „Dann wähl halt die Grünen, wenn es sonst passt, es ist ja kein Sympathiewettbewerb.“ Und dann kamen natürlich auch einige, die Frau Merkel unterstützen wollten, aber nicht auf die Gefahr hin, damit Herrn Seehofer zu stärken. Tja. Eine Antwort auf die Schizophrenie der Union hatte ich nicht. Die FDP kam natürlich auch vor, weil sie im Gegensatz zu allen anderen auch einen Grafiker bezahlt hatte. Dort störte wiederum die legere Haltung zum Umweltschutz (Motto: Nur nicht einmischen, das wächst von alleine nach).

Beim Wahl-O-Mat siegten bei mir erstmals in meiner persönlichen Geschichte die Grünen. Ich nehme an, es war die Braunkohle. Aber am Ende lasse ich mir von einem schnöden Programm meine Fehlentscheidungen nicht verbieten. Die Grünen landen dann auch ohne mich – nach 13% in den Umfragen im November letzten Jahres – auf einem sehr mageren letzten Platz mit einem Ergebnis von 8,9%, für das Jürgen Trittin vor vier Jahren sofort zurücktreten musste (8,4%). Sie feiern sich dusselig.

Es war ein Trauerspiel.

Ein völlig unnötiges Trauerspiel. Spannende Themen lagen zu Hauf auf der Straße, wurden aber ignoriert. Auch von den mindestens ebenso denkfaulen Fragestellern in den meisten Talkrunden und dort vor allem in dem unsäglichen „DUELL“. Ein in den ersten 40 Minuten lupenreines AfD-Förderprogramm (Maischberger: „Man hat uns versprochen, dass nur gut ausgebildete Akademiker kommen“ Wer? Wann? Quelle?), bei dem ich zum ersten Mal im Leben ernsthaft Zweifel an meinen Gebühren für die Öffentlich-Rechtlichen bekam. Man nimmt ja vieles an Volksberieselung in Kauf in der Annahme, dafür Qualitätsjournalismus zu bekommen. In diesem Wahlkampf leider Fehlanzeige bis hin zur Elefantenrunde danach. Bei der ich erstmals Sympathie für Frau Kipping empfand, die auch dort einmal auf ein paar wirkliche Themen zu sprechen kommen wollte. Der Moderator verhinderte dies erneut mit aller Kraft.

Jetzt will die SPD nicht mehr und ich kann sie verstehen. Wenn mir jetzt wieder einer damit kommt, dass die SPD Verantwortung übernehmen müsse, dann wäre hier meine Antwort: Deutschland ist nicht im Krisenmodus und es steht auch nicht der Untergang vor der Türe. 87% der Deutschen haben nicht AfD gewählt, dafür die Union zur stärksten Kraft gemacht und zwei kleinere, demokratische Parteien ins Parlament gewählt, die in einem Bundesland bereits miteinander koalieren.

Sowohl die Grünen als auch die FDP haben die Regierung in diesem Wahlkampf hart angegriffen – was ja ihr Job ist – und haben jetzt die Gelegenheit, mit ihren Konzepten zu liefern. Diese Chance haben sie sich redlich verdient. Die Grünen wollten ja eh mit Frau Merkel regieren, die FDP auch, dann wird ja auch einem flotten Dreier nichts im Wege stehen. Frau Merkel jedenfalls nicht.

Die SPD wurde nach allgemein anerkannten politischen Erfolgen in der Regierung mit dem schlechtesten Ergebnis in der Geschichte nach Hause geschickt. Man kann beim besten Willen von ihr nicht verlangen, diesen Wählerwillen zu ignorieren und weiter zu regieren.

Sie stand nun vor der Frage, der AfD die Position der stärksten Oppositionspartei zukommen zu lassen, oder selbst diese Rolle zu übernehmen. Sie verzichtet auf entscheidende Häuser: Das Arbeits- und Sozialministerium, das Wirtschaftsministerium, Justiz-, Familien-, Umweltministerien mit all den politischen Einflussmöglichkeiten und auch den entsprechenden Posten. Das ist ein bisher einmaliger Vorgang.

Die SPD leistet mit ihrem Gang in die Opposition einen wichtigen Beitrag für die Demokratie. Es ist dabei trotz allem ein mutiger Schritt. Denn Opposition alleine bedeutet noch keine Rekonvaleszenz, wie die Jahre 2009-2013 – und vor allem auch dort mal wieder die versemmelte K-Frage gezeigt haben.

Diesmal aber geht es um alles – auch um die Existenz. Die SPD befindet sich seit 2002 in einem permanenten Niedergang. Sie wird daher auch einen langen Weg gehen müssen, um wieder stark zu werden. Sie wird ihre Programmatik aktualisieren müssen – und das bei einer alternden Mitgliedschaft- und Gesellschaft. Sie wird intensiv junge Talente suchen und fördern müssen. Sie wird sich in den Ländern organisatorisch neu aufstellen – und vermutlich auch den finanziellen Kahlschlag der letzten Jahre verarbeiten müssen.

Und dann muss sie eine überzeugende Oppositionsarbeit leisten, die nicht nur die neue Regierung herausfordert, sondern auch die Feinde der Demokratie rechts von ihr.

Das wird ein hartes Stück Arbeit. Dafür braucht die SPD alle verfügbaren Kräfte. Und unsere Hochachtung für diesen Dienst an der Demokratie. Lasst sie gehen.

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Die SPD steht vor der Existenzfrage.

Mit Jana Hannemann führte ich am Montag nach der Wahl ein Gespräch, das in der Berliner Morgenpost erschien. So ganz bin ich mir noch nicht sicher, ob wirklich alle Akteure verstanden haben, wie ernst die Lage ist.

Sie gelten als krisengestählter Wahlkämpfer, haben über 20 Kampagnen für die SPD geprägt. Die Genossen hatten sie fest für den Wahlkampf eingeplant. Doch sie sagten ab. Fühlen Sie sich durch das Bundestagswahlergebnis in Ihrer Entscheidung bestätigt?

Frank Stauss: Zum Teil leider ja, obwohl ich mir ein deutlich besseres Ergebnis für die SPD erwünscht hätte. Leider hat dieses Ergebnis einiges von dem gezeigt, was wir im Herbst des vergangenen Jahres bei uns im Team befürchtet hatten.

Nämlich?

Das eine ist: Wenn man eine Kanzlerin wie Angela Merkel schlagen will, die seit zwölf Jahren im Amt ist und auch gute persönliche Werte hat, muss man das mit einer langfristigen Strategie angehen. Es war klar, dass sie nach zwölf Jahren – und das hat das CDU-Ergebnis am Ende auch gezeigt – nicht unschlagbar war. Sie war schlagbar. Es gab eine Art Merkel-Müdigkeit. Dafür hätte die SPD aber auch eine moderne Programmatik entwickeln müssen, mit der sie, neben dem Markenkern sozialer Gerechtigkeit, auch ein zweites Standbein gehabt hätte.

Und womit?

Mit Themen wie Modernität, Innovation, Fortschritt. Das war bis zum Herbst aber nicht geschehen. Und dann ist zweitens natürlich die Frage der Kanzlerkandidatur wichtig. Wir haben 2013 erlebt, wie die SPD mit Peer Steinbrück eine Kanzlerkandidatur aus der Hüfte geschossen hat. Wir haben es 2009 erlebt, als Kurt Beck zurücktrat und Frank-Walter Steinmeier Kandidat wurde. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Frage der Kanzlerkandidatur früher hätte entschieden werden müssen und nicht erst acht Monate vor der Wahl.

Sehen Sie noch weitere Punkte, die zu diesem schlechten Ergebnis geführt haben?

Stauss: Tatsächlich ist es so, dass manche in der SPD, aber auch in ihrem Umfeld, noch der Meinung sind, dass die SPD mit den Rezepten von 1998, manchmal sogar von 1968, heutzutage Wahlen gewinnen kann. Das ist aber falsch. Wir können uns nicht mehr nach dem traditionellen Wahlverhalten orientieren nach dem Motto „Die Arbeiter wählen dieses, die Jungen dieses, die Rentner wählen so, auf dem Land wählt man so und in der Stadt so“.

Um was geht es dann?

Heutzutage bestimmt eine kulturelle Haltung das Wahlverhalten – also sind die Leute pro-europäisch eingestellt, sind sie weltoffen, liberal, sehen sie in der Digitalisierung eher eine Chance als eine Gefahr. Und wenn sie in einigen Teilen der Bevölkerung ein eher traditionelles Weltbild haben – etwa Ausländerfeindlichkeit, Homophobie, Europafeindlichkeit – und das für die Menschen wahlentscheidend ist, dann können sie dort als SPD nicht punkten. Deswegen kann man nicht mehr sagen, dass Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger von der SPD aufgrund ihrer Geschichte erreichbar sein müssen. Diese Personen können trotzdem nicht erreichbar sein, eben weil ihnen andere Dinge wichtiger sind.

Im Januar wurde Martin Schulz noch als „Gottkanzler“ gefeiert und gehypt. Woran liegt es, dass die SPD dieses Stimmungshoch nicht halten konnte?

Stauss: Das liegt daran, dass die Partei in den vergangenen vier Jahren unter Sigmar Gabriel diese eben angesprochene Programmatik nicht entwickelt hat. Die SPD muss sich neue moderne, junge Wählerschichten erschließen und gleichzeitig muss sie denen, die am skeptischsten sind, einen Weg zeigen, wie ein modernes und erfolgreiche Deutschland gerade durch die Veränderungen in der Arbeitswelt, auch ein sicheres Deutschland sein kann, was die Arbeitsplätze angeht. Diese Themen haben im SPD-Wahlkampf aber überhaupt keine Rolle gespielt. Und der Unterschied zum Angebot der Union war nicht groß genug.

Was kann die SPD jetzt aus der Schlappe lernen? Welche Fehler muss die Partei künftig vermeiden?

Stauss: Die SPD muss wieder zu sich selbst finden, sie muss an ihrer Programmatik arbeiten, klarer werden, deutlicher werden, die Unterschiede benennen. Es wird eine harte Aufgabe sein in der Opposition gegen die AfD zu reüssieren. Die AfD ist, wie man jetzt ja schon miterlebt, ein chaotischer Haufen, der jedoch mit den Mechanismen der modernen Medienlandschaft umzugehen weiß. Die SPD hat aber die Chance, als eine glaubwürdige und beständige Kraft zu reüssieren.

Und sonst?

Ein anderer Punkt ist: Die CDU/CSU ist extrem angeschlagen. Wir werden jetzt erleben, dass dort Nachfolgedebatten und Richtungskämpfe entstehen. Die beginnen ja jetzt schon. Gleichzeitig wird die Partei in eine Koalition mit den Grünen getrieben, wobei es dann natürlich schwer fällt, sich weiter rechts zu platzieren. Das sind alles Chancen für die SPD.

Die SPD will jetzt in die Opposition. Die richtige Entscheidung?

Stauss: Es bleibt ihr ja nichts anderes übrig, wenn von ihr noch etwas übrig bleiben soll. Die große Koalition hat eine riesige Watsche bekommen. Die SPD hat in dieser Koalition wichtige Teile ihrer Programmatik umsetzen können und geht trotzdem mit dem schlechtesten Ergebnis nach Hause. Da muss man den Wählerwillen auch mal respektieren. Und der ist eindeutig: Wir wollen nicht, dass ihr regiert.

Droht der Partei womöglich das Ende?

Die SPD steht vor der Existenzfrage. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Deswegen ist der Gang in die Opposition der richtige Schritt. Sie muss sich nun darauf konzentrieren, sich selbst zu erneuern, sich zu finden und die Positionen klar herauszuarbeiten. Das geht nicht, wenn sie gleichzeitig noch fünf Ministerien besetzen muss. Die SPD leistet der Demokratie einen Beitrag, wenn sie diesen harten Weg in die Opposition geht. Das ist ja ein Rückzug aus Ämtern, von Posten und Einfluss, der mir einen hohen Respekt abnötigt.

Ist das mit Martin Schulz als Parteichef und Andrea Nahles möglich?

Stauss: Martin Schulz ist nicht verbrannt, die Menschen finden ihn nach wie vor sympathisch und glaubwürdig. Er will sich nun auf den Wiederaufbau der Partei konzentrieren. Bei Frau Nahles muss man sehen, dass ein Teil dieser wichtigen Programmatik, also die Zukunft der Arbeitswelt, in ihrem Haus hervorragend vorbereitet worden ist. Sie hat da ein umfassendes Wissen. Damit ist aber noch keine Entscheidung darüber gefällt, wer in vier Jahren die SPD in den Wahlkampf führt, aber auf diese beiden Personen ist Verlass.

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Guten Morgen, heute ist Wahltag.

Wer gerne einmal einen spannenden Wahltag erleben möchte, dem schenke ich heute einen Text aus meinem Buch „Höllenritt Wahlkampf“. Viele Spaß, Freude, Nostalgie, Melancholie…

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Sonntag, 18. September 2005, Berlin. Wahltag

Guten Morgen, heute ist Wahltag.

Der Höllentag. Ein Tag, an dem man in allem ein Zeichen sieht. Regnet es? Dann bleiben die eigenen Leute bestimmt zu Hause. Scheint die Sonne? Dann gehen die eigenen Leute bestimmt ins Freibad oder an den See und kommen erst gegen 18:09 nach Hause, wo Vati dann die Wahlkarte auf dem Sideboard findet und sagt: „Mensch, Schatz, haben wir vergessen wählen zu gehen … Na ja egal, auf uns wird es nicht ankommen.“

DOCH, DU IDIOT.

Ich telefoniere ein bisschen rum. Ein Freund erzählt mir, dass seine Oma gestern gestorben sei. Ich kann mir gerade noch verkneifen zu fragen, was sie üblicherweise gewählt hat … Der Wahnsinn regiert mich.

Ab etwa 16:00 kann man mit ersten Infos aus den Instituten rechnen. Aber es ist erst 11 Uhr.

Das Gefühl, das mich plagt, kenne ich aus der Schulzeit nach einer Mathearbeit. Ich weiß, dass ich versagt habe, bete irrational für eine vier, erwarte eine fünf und bekomme eine sechs. Es geht immer noch schlechter. Dieses Gefühl, das einen das Atmen vergessen lässt vor dem drohenden Unheil. Der Moment, in dem man einer Frau, die man länger nicht gesehen hat zur Schwangerschaft gratuliert und man in ihren Augen ablesen kann, dass sie gar nicht schwanger ist … dieser Moment, noch bevor sie antwortet – das ist das Gefühl des Wahltages – aber den ganzen verdammten Tag lang. Und ich stehe nicht mal zur Wahl. Ich gehe joggen. Was machen die Leute hier? Waren sie schon wählen, gehen sie noch wählen, haben sie Briefwahl gemacht – wen haben sie gewählt oder wollen sie wählen?

13:00 stehe ich vor dem Hotel Stuttgarter Hof und putze mein Fahrrad. Irgendwas, um mir die Zeit zu vertreiben. Eine schwarze Limousine fährt vorbei – im Fond sitzt Kajo Wasserhövel und telefoniert hoch konzentriert. Irgendwas lese ich in seinem Gesicht und es ist keine Resignation. Wenn es keine Resignation ist, bedeutet es: über 30 Prozent. Aber ich kann mich täuschen – er sieht mich nicht.

14:30 Tegel. Daniel kommt mit der Maschine aus Frankfurt. Kurz zuvor landet der Düsseldorf-Flieger mit Oliver Schumacher, dem ehemaligen Staatsminister von Peer Steinbrück. Das ist erst vier Monate her. Eine Ewigkeit. Ich packe ihn mit ins Auto. Mit Daniels Flieger kommt auch Roland Koch, Ministerpräsident von Hessen. Er sieht ziemlich ernst aus. Aber in seinem Fall kann das alles bedeuten. Er würde es hassen, wenn die CDU verliert, aber auch, wenn Merkel gewinnt.

Auf dem Weg von Tegel Richtung WBH bekommen Oliver und ich ständig Sms-en. Wir denken jedes Mal, es sei ein erster Trend. Pustekuchen. Es ist jedes Mal jemand, der den ersten Trend von uns haben will.

15:30. Jetzt kommt wirklich was: CDU/CSU unter 40. Unter 40? Niemand hatte die Union unter 40 Prozent Niemand. Forsa, Emnid, Allensbach, Infratest, FGW: Der Korridor ging von 41:43 Prozent.

Kein einziges Institut hatte die Union unter 40.

Die Begründung für das Gerücht: Zur Mittagszeit lag die CSU in Bayern unter 55 Prozent. Und das bedeutet, wenn die traditionell nach dem Kirchgang wählenden gläubigen Katholiken nur für 55 Prozent gut sind, dann landet die CSU bei Schließung der Wahllokale unter 50. Denn die Sozen gehen erst später wählen und die Müslis nach dem zweiter Brunch am späten Nachmittag. Landet die CSU aber unter 40, kommt die Union insgesamt im Bund nicht über 40.

Also CDU/CSU unter 40. Aber wo sind wir? Und reicht es noch für Schwarz/Gelb?

15:40 Am Hotel angekommen werfen wir Daniels Koffer in die Lobby und rufen zwei dort sitzenden Kollegen zu: Union unter 40! Und konsternieren damit eine ältere Reisegruppe aus dem Schwabenland, die a) nicht wissen, worüber wir sprechen, oder b) es wissen, aber nicht wissen, woher wir das jetzt schon wissen wollen, oder c) es nicht glauben wollen, weil „Union unter 40“ in Baden-Württemberg nicht zum Wortschatz gehört. Bei dieser Gelegenheit frage ich mich wie schon seit Wochen, warum Schwaben, die in Berlin Urlaub machen, ausgerechnet im „Stuttgarter Hof“ absteigen. Geht es nicht mal zwei bis drei Tage ohne? Egal. Werde ich heute nicht mehr beantwortet bekommen.

Jetzt schnell ins WBH.

16:00 Aufgekratzte Stimmung in der Kampa. Überall piepsen Handys, ständig fragen Journalistenfreunde an, ob man schon was weiß. Es schwirren ungewichtete Daten durch die Luft, die keinen weiterbringen.

16:25 möglicher Weise keine Mehrheit für Schwarz/Gelb.

16:30. Wir über 30, CDU/CSU um die 38, FDP um die 9, Grüne 8, Linke 8. Das würde für Schwarz/Gelb noch reichen, wenn wir nicht über 32 kommen.

16:35: 38/32/10/8/8. Das wären 48:46 für Schwarz/Gelb.

Ein großartiger Erfolg, aber wenn es so eng ist, wollen wir alle mehr.

16:50. Die 18 Uhr Prognosen trudeln ein. Sehr unterschiedlich – aber eines ist klar: CDU/CSU und die Umfrageinstitute erleben eine Katastrophe und wir erleben die Wiederauferstehung.

ZDF: 37/33/10,5/8/8; ARD: 35,5/34/10,5/8,5/7,5

Bei der ARD trennen uns nur 1,5 Prozent von CDU/CSU.

Das ist eine Sensation. In der Kampa herrscht fiebrige Fassungslosigkeit. Unten bei Willy im Foyer und vor dem Haus trudeln die Gäste ein. Alle fassungslos. Wie ist das möglich – und was bedeutet das? Wer regiert dann eigentlich?

Wir sitzen in unseren verglasten Großraumbüros. Das WBH ist voll verkabelt. Kamerateams und kleine Sendestudios innen, Übertragungswagen an Übertragungswagen außen. Überall wuselige Geschäftigkeit. Die Journalisten kennen die Zahlen ebenso wie wir. Eine Sensation liegt in der Luft. Sie waren hierhergekommen, um betroffene Gesichter in der SPD-Zentrale aufzunehmen – aber diesmal nicht. Diesmal nicht.

17:30. Die Sender gehen nach und nach auf Wahlsendung. Zwischen den Zeilen kann man Andeutungen heraushören, dass es heute nicht so ausgehen wird, wie die meisten Zuschauer es erwarten mussten.

17:40 Überall in der Kampa umarmen sich die Kampagneros. Wir haben eine große Schlacht geschlagen – und wir sind wahnsinnig erleichtert. Auf jedem von uns lastete ein wenig das Schicksal der großen, geschichtsträchtigen SPD. Und wenn wir es so empfanden, was mussten erst Schröder und Müntefering empfunden haben, als sie am 22. Mai die Verantwortung der Neuwahlen auf sich nahmen. Und jetzt hat Schröder fast noch Recht bekommen. Wäre Oskar mit seiner Truppe nicht quergeritten, würde es sogar für ihn reichen. Aber egal – Oskars Bäume wachsen heute auch nicht in den Himmel.

Diese unglaubliche Erleichterung. Und diese Wut. Die Wut auf viele Journalisten, die uns schon Monate vor der Wahl abgeschrieben hatten und nicht einmal mehr den demokratischen Prozess einer Wahl abwarten wollten. Die Wut auf die Forschungsinstitute, die sogar die richtige Stimmung messen konnten, aber ihren eigenen Zahlen nicht geglaubt haben. Die Wut über die Demütigungen der letzten Jahre.

Und der Stolz darüber, dass Springer, Bild aber diesmal auch Stern und Spiegel am Ende doch keine Wahl entscheiden, sondern die Wähler.

Denn nach deren Trommelfeuer hätte die Union die absolute Mehrheit bekommen müssen.

Wir sind stolz. Wahnsinnig stolz auf Schröder, das ultimative Frontschwein. Was hat der Mann ausgehalten, wie hat er gekämpft. Gestern noch 20.000 in Frankfurt und ein 8-9 Prozent-Vorsprung für Merkel. Und heute fast Gleichstand. Was für ein Wahlkämpfer.

17:59 Jetzt stehen wir alle unten im WBH. Schöneborn in der ARD sagt noch was von „Überraschung“, der Rest geht unter in einem Urschrei, den man in ganz Deutschland hören muss. Das Willy-Brandt-Haus bebt. An diesem Ort, an dem heute niemand eine Party erwartet hatte, steigt die geilste Wahlparty der Republik. Wir schreien uns die Seele aus dem Leib. Und schreien und schreien und schreien.

18:05 Die Spekulationen beginnen. Wer mit wem? Und kann sich Merkel bei so einem Ergebnis überhaupt halten? Wird sie von ihrer eigenen Partei fallen gelassen? Ein 23-Prozent-Vorsprung ist in drei Monaten auf jetzt 2-3 Prozent geschmolzen.

18:11 ZDF Erste Hochrechnung. CDU/CSU weiter runter auf 36,6, wir auf 33,2, bei der ARD sieht es noch besser für uns aus.

18:34 Die Institute gleichen sich weiter an. ZDF korrigiert die Union weiter nach unten auf 35,9.

18:40. Union jetzt bei 35,2, wir bei 34.

19:23: Union 35,2 wir 34,1

19:27: Schröder kommt. Der Saal kocht. Und überschlägt sich, als er von einem „klaren Regierungsauftrag“ spricht. Den sieht man nicht auf den ersten Blick und auch nicht auf den zweiten … aber egal jetzt. „Ich bin stolz auf die Menschen in diesem Land“ ist ein weiterer Jubelsatz. Wir sind schon heiser und zunehmend besoffen. Es ist unerträglich heiß unter den Kamerascheinwerfern und die Menschen drängen sich dicht an dicht in das schon viel zu volle Willy-Brandt-Haus und immer mehr kommen hier her – an diesen Ort, der heute der Ort ist, where it all happens …

19:45 Die ersten Gerüchte über Überhangmandate machen die Runde. Kann es sein, dass die SPD sogar mehr Mandate holt als CDU/CSU? Damit wäre sie stärkste Partei. Andere Gerüchte: Fällt Westerwelle um? Gibt es eine Ampel? Kann er damit leben, zum zweiten Mal nach 2002 wieder nicht Außenminister zu werden? Oder springt er lieber?

19:59: RTL: 34,8 : 34,2. 0,6 Prozent. Fuck. Noch 0,6 Prozent. Nullkommasechs.

20:00 Tagesschau. Wir sehen Bilder von jubelnden Massen im WBH – also von uns. Und von betroffenen Gesichtern bei CDU/CSU.

20:13. ZDF: 35,2 : 34,1. Die waren mal mit 37:33 gestartet …

20:15 ARD/ZDF Elefantenrunde. Das Willy-Brandt-Haus bebt immer noch. Überall laufen die Bilder über die Monitore, aber man versteht sein eigenes Wort nicht. Merkel sieht angegriffen aus, Stoiber kann wahrscheinlich damit leben, dass Merkel schlechter abschneidet als er (38,5 Prozent) – und das bei deutlich schlechterer Ausgangslage. Man munkelt von einem Putsch in der Union. Schröder wirkt aufgeputscht und liefert eine Breitseite zuallererst gegen die Moderatoren. Hier im WBH wird jeder Satz von ihm begeistert aufgenommen. Wir sind eh siegestrunken. Irgendwann sagt er: „Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel eingeht, in dem sie sagt, sie möchte Kanzlerin werden? Also ich meine, wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen.“

So schaukelt es noch ein bisschen weiter rauf. Der Rest geht im Gegröle unter.

20:59 ZDF: 35,0 : 34,2 Nullkommaacht

21:09 Bekomme erste sms, ob Schröder besoffen war. Scheint draußen vielleicht anders anzukommen als hier. Egal. Ist morgen eh vergessen.

21:20 SAT 1: CDU: 220 Mandate; SPD 223 Mandate.

Durch Überhangmandate hätte die SPD 3 Sitze mehr und würde damit in einer Großen Koalition den Kanzler stellen.

21:25 Die Gerüchteküche kocht. Stürzt die Union Merkel? Einigt sich Schröder mit Stoiber – er noch zwei Jahre, dann Stoiber? Reicht es doch noch für Schröder? Was ist mit dem Wahlkreis Dresden I? Kann der noch was drehen?

22:30. Die Institute pendeln sich ein. Wir werden nicht mehr an der Union vorbeiziehen. Auch die Mandatsverteilung pendelt sich ein. CDU/CSU werden gemeinsam mit 2-3 Mandaten Vorsprung stärker als die SPD werden. Aber was das für die Regierungsbildung bedeutet, das werden wir heute nicht mehr erfahren.

Heute werden wir eh nicht mehr viel erfahren. Heute wird gesoffen und gefeiert.

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Der erste Wahlkampf für das vergreisende Deutschland.

Mit Lisa Caspari sprach ich eine Woche vor der Wahl für ZEIT ONLINE über die Gründe für den schleppenden Wahlkampf. Um es vorweg zu nehmen: Das Problem sind weniger „Die Alten“, also die über 65ff, es sind eher die jung vergreisten ab 45, die zu einem nicht unerheblichen Anteil jetzt schon so auf Sicherheit bedacht sind, als wären sie bereits 70.

ZEIT ONLINE: Zehn Tage sind es bis zur Bundestagswahl, doch es gibt immer noch kein zündendes Wahlkampfthema. Wieso ist das so?

Frank Stauss: Wir erleben den ersten Wahlkampf für das vergreisende Deutschland. Jeder zweite Wahlberechtigte ist über 52, die Wähler sind so alt wie nie zuvor. Viele Politiker und auch Journalisten und Leitartikler sind ebenfalls in diesem Alter. Dieser Wahlkampf ist auf den Status quo ausgerichtet. Das Land ist regelrecht verstopft von Besitzstandswahrern, digitalen Angsthasen, analogen Nostalgikern und rechten Heulsusen. Und die Politik durchbricht den Kreislauf nicht, sondern gibt dem Affen auch noch Zucker. Wichtige Zukunftsthemen spielen keine Rolle.

ZEIT ONLINE: Wirklich? Die Grünen zum Beispiel fordern das Ende des Verbrennungsmotors im Jahr 2030. Das wurde anfangs belächelt, kam aber genau zur richtigen Zeit.

Stauss: Das ist ja schon Regierungspolitik in einigen unserer Nachbarländer, und was Herr Kretschmann davon hält, ist auch bekannt. Keiner Partei ist es gelungen, eine stimmige Zukunftsvision zu präsentieren. Einen großen Wurf, der über die Aneinanderreihung von Einzelthemen hinausgegangen wäre. Wenn die Parteien alle die gleiche sicherheitsfixierte Politik machen und sich von links bis rechts nichts trauen, dann haben wir eben die viel beschworene Alternativlosigkeit. Aufgabe der Politik wäre es doch, die Gesellschaft aus der gefährlichen Erstarrung herauszuführen: Wir sind inmitten zweier epochaler Umbrüche: der weltweiten Digitalisierung unserer Wirtschaft, unseres Alltags, unseres ganzen Lebens, und in Deutschland kommt der demografische Wandel noch obendrauf. Die Leute sehen doch, dass die großen Innovationen derzeit aus anderen Ländern kommen.

ZEIT ONLINE: Und was wäre hier die Erzählung? Doch ein Sorgenwahlkampf?

Stauss: Nein, im Gegenteil: ein Mutwahlkampf! Die Politik muss einen Weg aufzeigen, wie Deutschland die nächsten 20 bis 30 Jahre gut bestehen kann. Ja, wir sind auf einigen wichtigen Feldern nicht auf der Höhe der Zeit, aber dennoch: Wir haben nach wie vor hervorragend ausgebildete, tolle und innovative Leute. Wir sind ein Land mit weltweit nahezu einzigartigen sozialen Standards und ein Magnet für viele hervorragend ausgebildete Menschen in aller Welt. Wir müssen einiges nachholen und besser machen, aber auch viel offener sein für Ideen, wie unsere Gesellschaft in diesem Umbruch der Arbeitswelt gerechter organisiert werden kann.

ZEIT ONLINE: Und warum passiert das nicht?

Stauss: Weil alle Politiker die gleichen Umfragen lesen und sich denken: „Oh, die Leute haben Angst, dann muss ich ihnen Sicherheit bieten.“

ZEIT ONLINE: Ihr Szenario ist für junge Menschen sehr ernüchternd. Wenn die Abstiegsängste der Älteren die politische Agenda bestimmen, wie soll dann je eine zukunftsgerichtete Politik gemacht werden?

Stauss: Ich bin nun auch schon 52 Jahre alt, ich glaube, auch meine Generation ist zu begeistern für neue Vorschläge. Jetzt braucht es Führung, Optimismus und Mut, um das Beste in uns zu wecken. Die Erfolge von Justin Trudeau in Kanada und Emmanuel Macron in Frankreich haben bei allen Unterschieden gezeigt: Es gibt ein politisches Vakuum, das man mit einer modernen, demokratischen und sozialen Alternative füllen kann, und nicht nur mit einer reaktionären Alternative. Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sind die weitaus linkeren Beispiele mit Achtungserfolgen. Wir haben bei der Nominierung von Martin Schulz erlebt, dass die Menschen sich etwas Neues wünschen, dass sie hingucken, wenn es eine Option des Wandels gibt.

ZEIT ONLINE:  Warum hat Schulz die Aufbruchsstimmung nicht halten können?

Stauss: Solch ein politisches Szenario muss über Jahre vorbereitet werden. Als Martin Schulz im Januar nominiert wurde, blieb ihm zu wenig Zeit. Die SPD-Kampagne hatte in diesem Sommer eher das Problem, dass sie zu viele Themen auf einmal vorgebracht hat. Schulz hat wichtige Themen gesetzt, zum Beispiel mit seiner nationalen Bildungsinitiative, bei Europa, mit der Investitionspflicht –  aber die Kontinuität in der Argumentation hat ebenso gefehlt wie eine attraktive Zukunftserzählung. Aber das gilt nicht nur für die SPD.

ZEIT ONLINE: Erklärt sich der Wiederaufstieg der FDP also durch die Jugend Christian Lindners und die Tatsache, dass er bei Themen wie der Digitalisierung einfach glaubwürdiger wirkt?

Stauss: Vielleicht, allerdings macht er sonst klassische FDP-Politik. Da wäre noch mehr gegangen. Alle Parteien gehen auf Nummer sicher. Dass die Kanzlerin das tut, ist nicht verwunderlich, von ihr erwartet man auch nicht mehr viel. Aber selbst die Grünen machen einen sehr traditionellen Kernthemenwahlkampf, die SPD hat mit dem Thema Gerechtigkeit ihr Standardrepertoire abgerufen, die AfD lebt von klassischem Rassismus und Rechtsnationalismus. Und die Linkspartei ist gerade zu stumm in diesem Wahlkampf. Weil auch sie denkt, sie müsse auf Sicherheit spielen und den Ball flach halten. Wenn das so weitergeht, dann wird Deutschland innovationsfeindlich und rückwärtsgewandt.

ZEIT ONLINE: Es ist die Rede von einer neuen großen Koalition nach der Wahl.

Stauss: Da kann man ja gleich ins Grab hüpfen, da ist ja noch mehr los. Das ist die Sehnsucht nach Harmonie. Aber Harmonie gehört in Rosamunde-Pilcher-Romane und nicht in einen demokratischen Wettstreit der Ideen. Für Union und SPD kann ein solcher neuerlicher GroKo-Verdacht sehr gefährlich werden am Wahltag. Die CDU-Wähler werden demobilisiert, weil sie glauben, das Ding ist gelaufen. Und die SPD kann keine Option zum Wechsel anbieten. Das kann dann ausfransen und am Wahlabend noch zu Überraschungen führen.

ZEIT ONLINE: Was soll künftig anders werden?

Stauss: Das ist zwar der erste Wahlkampf für das vergreisende Deutschland – aber es sollte auch der letzte sein. Wir dürfen nicht in Angststarre verfallen und Lösungen im Gestern suchen. Gestern war ja schon.

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