Donald Henkel und der entschlossene Herr Müller.

In jeder Kampagne gibt es den entscheidenden Wendepunkt. Der Moment, an dem man weiß: Jetzt liegen alle Karten auf dem Tisch. Jetzt sind alle Katzen aus dem Sack. Jetzt hat der Wähler klare Alternativen vor sich. Jetzt geht es richtig los.

Und in jedem Wahlkampf gibt es Momente, an denen klar wird, mit wem man es am Ende wirklich zu tun hat. Für mich war ein solcher Moment der 4. Februar 2016, als sich Michael Müller in einer Sondersendung des RBB den Fragen der Bürger zur Flüchtlingsthematik stellte. Zunächst einmal hat er das überhaupt getan und sich nicht wie manche andere Ministerpräsidenten versteckt. Er war klar, er war offen. Aber vor allem hat er sofort gegengehalten, wenn er bei dem Fragesteller plumpe Vorurteile oder den typischen AfD-Pegida-Jargon heraushörte. Müller hat dann nicht laviert, sondern Haltung bewiesen.

Der andere Wendepunkt kam am 9. August, als erste Eckpunkte einer „Berliner Erklärung“ der (wenigen) CDU-Länder-Innenminister bekannt wurde. Frank Henkel stürzte sich sofort auf die Erklärung und dabei vor allem auf zwei Punkte: Die Abschaffung der Doppelten Staatsbürgerschaft und ein Burka Verbot. Reine AfD-Symbolthemen also, ohne irgendeine Relevanz für die Sicherheitslage in Deutschland.

Postwendend kam die Antwort von Michael Müller: „Eine solche Position hat im Berliner Senat keinen Platz.“ Wer wollte, konnte da schon erkennen: Diese Koalition wird es nicht noch einmal geben, wenn Henkel weiter ins Horn der Populisten bläst. Das hat Herr Henkel wohl nicht ganz richtig verstanden, denn er machte weiter in seiner Rolle als „Little Donald von der Spree“.

Aber wenn Michael Müller AfD-Positionen nur aus der Ferne riecht, reagiert er allergisch. Wenn es irgendetwas gibt, das diesen besonnenen Mann auf die Palme bringen kann, dann billiger Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass.

Nun. Seit dem 9. August riecht Frank Henkel sehr streng nach AfD. Denn wenn man sich so weit in die braune Soße setzt, wird man den Geruch auch nicht mehr los.

Frank Henkel (CDU) schafft es, den Bundespräsidenten, den Bundesinnenminister (CDU), die Bundeskanzlerin (CDU) und seinen Koalitionspartner gegen sich in Stellung zu bringen. Innenminister de Maiziere zum Henkelschen Burka-Verbot: „Mit so einem dahingeworfenen Satz kann man das nicht regeln.“ Und: „Man kann nicht alles verbieten, was einem nicht gefällt.“ De Maiziere zum Henkelschen Angriff auf die Doppelte Staatsbürgerschaft: „Ich halte es nicht für sinnvoll, die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft neu zu eröffnen.“ Bundespräsident Joachim Gauck zu de Maiziere: „Da kann ich doch gut mit leben.“

Alle reden gegen Henkel und über Henkel aber keiner mit Henkel. Er spricht wohl auch mit keinem, sonst wäre er kaum in das offene Messer gelaufen. Einen solch gravierenden innenpolitischen Vorstoß stimmt man mit dem Bundesinnenminister der eigenen Partei ab. Es sei denn, man ist bereits komplett isoliert.

Jetzt steht die CDU wieder zerstritten da und der mühsam zugeschüttete Graben wurde vom eigenen Spitzenkandidaten aufgerissen. Der klassische Konflikt: Alt-CDU (Berlin) gegen Neu-CDU (Merkel) steht wieder auf der Tagesordnung.

Die Henkel-Strategie macht weder in Bezug auf Wählerpotentiale Sinn – noch in Bezug auf Koalitionsoptionen. Ihm bleibt nur noch die AfD.

Welche Strategie verfolgt Henkel?

Wen also wollte Frank Henkel mit dem alten Julia Klöckner Flop „The Burka Rap“ erreichen?  Julia Klöckner, der ja das Kunststück gelang, aus einem 11%-Vorsprung in nur 12 Wochen eine 4,4% Niederlage zu basteln, hatte jedenfalls in ihrem Wahlkampf die AfD fest im Blick. Sie kämpfte mit Horst Seehofer tapfer gegen die Burka-Trägerinnen in Rheinland Pfalz- obwohl die Wahrscheinlichkeit vermutlich größer ist, an der Loreley einem Grizzlybären zu begegnen, als einer Burka. Das sahen die Wähler am Ende auch so und bescherten der CDU das schlechteste Wahlergebnis in der Geschichte von Rheinland-Pfalz.

Die Henkel-Strategie bleibt angesichts möglicher Potentiale in Berlin ebenfalls ein Rätsel. Hier lohnt ein Blick auf die vergangenen drei Wahlen mit ihren recht stabilen Lagerergebnissen.

Zählt man die Grünen zum progressiven Lager, was angesichts ihres gluten-, laktose-, meinungs- und inhaltsfreien Gänseblümchen-Wahlkampfes zumindest diskussionswürdig ist, sieht das so aus:

Wahlergebnisse 2001 – 2011:
SPD, Linke, Grüne: Im Mittel: 58,7%

Aktuelle Umfragen (Infratest, INSA, Forsa) Stand 17.8.16:
SPD, Linke, Grüne: Im Mittel: 57,6

Über 15 Jahre gesehen würde ich sagen: Punktlandung.

Wen man auf der anderen Seite verorten soll, weiß man nicht so recht. Ich versuche es einmal mit dem Klassiker:

Wahlergebnisse 2001 – 2011:
CDU, FDP: Im Mittel 29,6
Aktuelle Umfragen CDU, FDP: Im Mittel 23,6%

Neben diesen schon fast klassischen Lagern gab es dann noch immer viele bunte, mal kleinere, mal größere Pillepalleparteien, die in Berlin immer für locker 15% gut sind. Ob sie jetzt Piraten, Graue, AfD oder Gedönspartei heißen ist dabei relativ wurscht. Denn die meisten der Wähler dieser Parteien wählen einfach gerne „irgendwas mit Protest“.

Henkel blieben nur zwei Optionen.

1. Option: Als der „stabile“ Anker einer modernen großen Koalition anzutreten und auf das höhere CDU-Potential zu setzen, das die CDU in Berlin bei Bundestagswahlen erreicht (2013 waren das 28,4%). Kurz vor dem Wechsel von Wowereit auf Müller war dieses Potential auch auf Landesebene sichtbar, als die CDU im August 2014 bei 29% und damit 5% vor der SPD lag.

Die Merkel-CDU ist für viele Berliner attraktiver, da sie wesentlich liberaler daherkommt als die Hauptstadt CDU. Henkel hätte also genau diesen Weg einschlagen und seine piefige Partei modernisieren müssen. Dann wäre sie auch für die gut bürgerliche Grünen-Klientel wählbar gewesen, so wie das bereits bei der Bundestagswahl geschehen war. Ebenso hätte man Zuckungen der Zombie-FDP vermeiden können, die nun aus der liberalkonservativen Ecke angreift.

Henkel hat die Modernisierung der Berliner CDU nie vorangetrieben. An den entscheidenden Wendepunkten – etwa der CDU Mitgliederbefragung – hat er gekniffen, statt zu kämpfen. Er hat nicht an einem einzigen entscheidenden Punkt Haltung gezeigt und sich gegen die alten Männer durchgesetzt. Entscheidende Wendepunkte hat er verschlafen oder ausgesessen. Auch die Phase des Übergangs zwischen Wowereit und Müller, als die SPD noch ohne Kandidaten dastand. Er hat die Chance seines Lebens einfach vorbeiziehen lassen. Später hat er beim Czaja-Desaster seinem überforderten Senator weder eine helfende Hand gereicht, noch ihn ersetzt. Er hat einfach nichts gemacht.

Nach so vielen verpassten Chancen sehen er und seine Berater nur noch einen Ausweg: Populismus der ganz billigen Kategorie.

2. Option: Die Stahlhelm CDU. Ja, sie ist wieder da! Als ob seit dem Mauerfall kein Vierteljahrhundert vergangen wäre. Als ob die ganze Stadt nicht bereits zehn volle Jahre von Rot/Rot regiert worden wäre. Also ob es keine Bezirksbürgermeister der Linken oder der Grünen gäbe: Die CDU setzt den Stahlhelm auf, rückt die Scheuklappen zurecht, zieht die roten Socken an und galoppiert direkt in das tiefe Tal der Isolation. Nur die ganz Rechten klatschen Beifall, weil sie genau wissen, dass die Prozente am Ende auf ihrem Konto landen.

Mit seinem AfD-Kurs zur Inneren Sicherheit, seinem plumpen Populismus und seiner groben Spaltung der Gesellschaft hat sich Frank Henkel jede Koalitionsoption verbaut. Schlimmer noch: Um seinen eigenen Hintern zu retten, schickte er mit fragwürdigen Argumenten Polizeibeamte in sinnlose Einsätze. Ein trauriger Höhepunkt des bisherigen Wahlkampfes.

Ein neuer Anfang.

Mit Frank Henkel und der Berliner Stahlhelm-CDU können weder die Grünen noch die SPD nach dem 18. September eine Koalition eingehen. Henkel hat damit keine Machtoption. Das bedeutet: er wird in Panik weiter um sich schlagen und noch mehr Schaden in der Gesellschaft anrichten. Das ist nicht gut für das Zusammenleben in unserer Stadt.

Die Grünen sollten daher auch langsam aus ihrer Schmollecke von 2011 heraus kommen und sich bekennen. Ja, die SPD ist damals eine Koalition mit der CDU eingegangen, aber daran waren die Grünen nicht schuldlos. Erst haben sie mit Künasts verbissenem Schwarz/Grün-Wahlkampf die sichere Rot/Grüne Mehrheit in den Sand gesetzt. Und danach waren sie so zerstritten, dass sie nicht einmal mit sich selbst hätten koalieren können. Das gehört auch zur Wahrheit.

Und die Linke kann weiter so tun, als hätte sie von 2001-2011 diese Stadt nicht über ein volles Jahrzehnt regiert und alle Beschlüsse mitgetragen oder gar vorangetrieben, die sie heute kritisiert. Sie hat ab 2011 nicht mehr regiert, weil sie mit 11,7 % von den Berlinerinnen und Berlinern abgewählt wurde und nicht wegen der bösen SPD.

Geschenkt. Das war gestern. Heute ist heute.
Und morgen ist wichtiger.

Wenn man aus den vergangenen Wahlkämpfen etwas lernen kann, dann das: Wenn das progressive Lager sich ständig selbst beschädigt, gibt es am Ende Ergebnisse, die keiner will. Ob es am Ende für eine 2er oder 3er Konstellation reicht, wird man sehen. Gezählt wird am 18. September und die letzten Wahlen im März haben gezeigt, wie viel Bewegung auf den letzten Metern möglich ist.

Immer mehr Berlinerinnen und Berliner beginnen so langsam, diese Wahl ernst zu nehmen. Das spürt man in den Gesprächen, das erlebt man im Wahlkampf. Und es stimmt ja auch. Es geht diesmal um mehr. Es geht darum, welches Zeichen Berlin in die Republik und die Welt sendet.

Will diese Stadt mit AfD und CDU ins Gestern, oder mit einer progressiven Koalition nach vorne? Jetzt ist es an der Zeit, Farbe zu bekennen.

Michael Müller hat sich in diesem Wahlkampf klar und mutig positioniert. Er hält gegen billigen Populismus. Er zeigt den piefigen AfD-Spießern die kalte Schulter. Er wirbt klar und deutlich für das Berlin der Freiheit, der Toleranz, des sozialen Friedens und der Weltoffenheit. Er kämpft für dieses freie Berlin, während andere sich wegducken oder anbiedern. Müller hält gegen die von Storchs, Henkels und Wagenknechts unserer Zeit. Er setzt auf Zusammenhalt gegen Spaltung und das billige Gift der Populisten.

Und wer das auch will, der sollte jetzt mal seinen Allerwertesten in Bewegung setzen.

Dieser Wahlkampf wird in den letzten Wochen entschieden. Tage, in denen allen Berlinerinnen und Berlinern die Bedeutung dieser Wahl für ihre Stadt, ihren Alltag aber auch für den Rest der Republik klar werden muss.

Die ist keine Wahl wie andere.

Es kann Gutes aus dieser Wahl entstehen.

Oder das Gegenteil.

Move your ass – and the rest will follow.

Die Frau. Der Kopf. Das Tuch. Und ich.

Ein Mann mittleren Alters fährt eine Rolltreppe hinauf. Es scheint ein warmer Tag zu sein, denn er hat sein Jacket ausgezogen und hält es mit der rechten Hand über seiner Schulter. Sein Blick fällt auf eine Frau, die ihm auf der Rolltreppe entgegenkommt. Der Gesichtsausdruck des Mannes wirkt offen und freundlich.

Die Frau trägt eine leichte, dunkelblaue Jacke und auf ihrem Kopf ein roséfarbenes, modisch geripptes Tuch, das sie über ihre linke Schulter geschwungen hat. Sie dreht sich leicht in Richtung des Mannes. Im Hintergrund sehen wir weitere Passanten in der Unschärfe. Die Rolltreppe könnte zu einer U-Bahn oder einem Einkaufszentrum gehören.

Es handelt sich also um eine typische Begegnung in einer Metropole, wie sie weltweit täglich millionenfach stattfindet.

Das einzige Überraschende an dem Bild ist, dass es sich bei dem Mann auf der Rolltreppe um den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, handelt.

spdIM6028_Dekade_1_18-1_sRGB_7ed1Die unbekannte Dame mit Kopftuch kann vieles sein.

Eine hier lebende Ausländerin.

Eine hier geborene Deutsche.

Eine der vielen tausend Touristinnen.

Eine Flüchtende.

Eine Gläubige, die andere Religionen und Weltauffassungen akzeptiert und toleriert.

Eine Gläubige, die andere Religionen und Weltauffassungen nicht toleriert.

Eine Frau, die von ihrem Mann unter Druck gesetzt wurde, ein Kopftuch zu tragen.

Eine Frau, die sich frei entschieden hat, ein Kopftuch zu tragen.

Aber eigentlich handelt es sich ja nur um einen Menschen auf einer Rolltreppe. Geht es am Ende gar nicht um die Frau?

Es geht um uns. Wie wir denken, was wir sehen, was wir sehen wollen und was nicht.

Wer weltoffen ist, akzeptiert und respektiert Menschen, die an andere Dinge glauben, sich andere Dinge anziehen und andere Dinge tun. So lange sie sich im Rahmen unseres Grundgesetzes bewegen. Und wie viele von uns wissen, wird die persönliche Toleranzgrenze meist nicht im multikulturellen Zusammenhang getestet, sondern am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, im Verkehr, in der Verwandtschaft oder gleich zu Hause.

Tolerant ist man erst dann, wenn es schwer fällt, tolerant zu sein.

Häufig lohnt sich ein zweiter oder dritter Blick. Hinter manchem Kopftuch verbirgt sich mehr Weltoffenheit, als wir vermuten. Und hinter manchem Politiker mehr Stehvermögen.

CSD_BerlinerZeitung_25.7.16Ein Bild aus der Berliner Zeitung vom 25.7.2016. Im Bericht geht es um den Christopher Street Day. Man beachte die Dame mit Kopftuch links im Bild. Ich denke, sie hat so etwas noch nie gesehen. Ich auch nicht. Sie nimmt es mit Berliner Gelassenheit.

WELT_KopftuchEine eher traurige Meldung aus der WELT vom 19.6.2016

Am 18. September wählt Berlin.
Es geht darum, in welcher Stadt wir am 19. September aufwachen wollen.

 

 

 

 

 

Sommer, Sonne, Hauptstadt, – Wahlkampf?

Ein leichter, frühsommerlicher Essay an Rucolasalat über einen Hauptstadtwahlkampf, dessen heiße Phase erst nach der heißen Phase beginnt.

Die Sonne lacht, Fahrräder werden erst abgestaubt, aufgepumpt, geölt und dann geklaut, die Liegestühle an der Spree sind alle besetzt, Trolleys rumpeln über Trottoir-Platten mit canyonartigen Spaltmaßen, Mas Que Nada ertönt in den schauerlichsten und schönsten Variationen auf Plätzen und in U- und S-Bahnen, parliert wird in jeder Sprache der Welt oder gleich in broken english, die Kellnerin grüßt jetzt auch im Wedding mit einem fröhlichen „How are we today, guys?“, hin und wieder bellt ein freundliches „Watt weeß denn icke, heeß ick Siri oder watt?“ zwischen den Suchenden aus aller Welt, Tattoos werden von der Sonne geküsst und kein Mensch interessiert sich für Politik. Es muss Wahlkampf sein in Berlin. Oder fast. Denn bis zum 18. September ist es ja noch etwas hin. Und zurzeit kennt daher auch kaum jemand diesen Wahltag außer den Kandidaten, fünf bis sechs Journalisten und Menschen wie ich, die dafür bezahlt werden.

Es ist jetzt der vierte Wahlkampf seit 2001, den ich mit BUTTER. bzw. diesmal mit BUTTERBERLIN begleiten darf. Der erste war gleich eine Sensation. Die SPD kündigte die „Große Koalition“ mit der Diepgen-CDU auf, Klaus Wowereit ließ sich mit den Stimmen von Grünen und PDS (formerly known as SED, later on known as PDS, currently known as Linkspartei) zum Regierenden Bürgermeister wählen und rief dann Neuwahlen aus. Insofern können wirklich alle, die mit Wahlkampf zu tun haben, für das Timing dankbar sein. Ein luftiger Sommerwahlkampf ist doch etwas feines, etwa im Vergleich zu Hamburg, wo man sich durch schlechtes Neuwahltiming bei Minusgraden durch den Eisregen zum vermummten Wähler vorkämpfen muss. Der Nachteil wurde bereits erwähnt und lässt sich in dem Kandidatenblues „Kein Schwein interessiert sich für mich“ zusammenfassen.

Das wird sich ändern. Aber erst sehr spät. Die Sommerferien in Berlin beginnen am 21. Juli und enden am 4. September – dem Wahltag in Mecklenburg-Vorpommern. Zwei Wochen später, am 18. September wird in Berlin gewählt. Und schon wird das Ganze doch schon wieder interessant auch für viele außerhalb Berlins. Konzentrieren wir uns also auf die Hauptstadt der Republik, denn dort sorgen noch einige weitere Komponenten für Würze.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, stellt sich erstmals zur Wahl. Er übernahm das Amt am 11. Dezember 2014 von Klaus Wowereit, nachdem er sich bei einer Urwahl der SPD Parteimitglieder deutlich gegen zwei Mitbewerber durchsetzen konnte. Im April dieses Jahres wurde er auch zum Vorsitzenden und Spitzenkandidaten in Berlin gewählt. Für viele Beobachter war es überraschend, wie rasch sich Müller aus dem Schatten des charismatischen Vorgängers lösen konnte, und auch zwei Jahre später führt er die Beliebtheitsskala der Berliner Spitzenpolitiker deutlich an. Und da haben wir schon die zweite Sonderrolle in Berlin: Wer ist eigentlich der Gegner?

Von irrlichternden Stimmen und Instituten.

Die Berliner Parteienlandschaft ist aufgrund zahlreicher historischer Besonderheiten stark partikularisiert. (Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich die Seiten 46-57 in meinem Buch „Höllenritt Wahlkampf“). Eine Beobachtung ist aktuell zusätzlich wichtig: Obwohl wir mit SPD, CDU, Linkspartei, Grünen und optional auch der FDP bereits ein breites Parteienspektrum zur Auswahl haben, splittet sich der Wählermarkt noch zusätzlich auf: Bei der Wahl 2006 gab es zum Beispiel satte 13,7% Stimmen für die „Sonstigen“, darunter irritierende 3,8% für „Die Grauen“, aber auch 2,6% für die NPD. Im Jahre 2011 reduzierten sich zwar die „Sonstigen“ auf 8,3% (mit immerhin immer noch 2,1% NPD), dafür schafften aber die Piraten mit starken 8,9% den Einzug in das Abgeordnetenhaus. Wie wir auch aus anderen Bundesländern wissen, nährten sich die Piraten nur zu einem geringeren Teil aus Cyber-Nerds sondern vor allem aus Offlinern, die nur „irgendwie Protest“ wählen wollten. Im Jahr 2016 sind also insgesamt 17,2% irrlichternde Stimmen aus Piraten und Sonstigen von 2011 zu vergeben. Ein nicht unerheblicher Teil davon wird dann weiter „Protest“ wählen. Nur eben nicht in fröhlich anarchistischer Piraten-Laune, sondern in übellauniger Rechts-Verstumpfung. Sinn macht das alles nicht, aber Unsinn ist eben auch ein Menschenrecht.

Wie sieht es denn nun heute aus? Tja. Wenn man das wüsste. In Berlin sind traditionell zwei Institute langfristig und regelmäßig aktiv: Infratest dimap und Forsa. Werfen wir nur mal einen Blick auf die AfD Zahlen: Forsa, 29. März: 9%, Infratest, 13. April: 13%, Forsa, 29. April: 7%, Infratest, 11. Mai: 15%, Forsa, 27. Mai: 8%, Infratest, 15. Juni: 15% Nochmal zum Mitschreiben: 9,13,7,15,8,15 und die Zusatzzahl wäre dann? So kann ich nicht arbeiten! Ähnlich wirr sind auch alle anderen Zahlen auf dem Markt, aber das ist natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass sich noch niemand für diese Wahl interessiert. Das wird sich aber ändern. In dem zuletzt von uns begleiteten Wahlkampf in Rheinland-Pfalz änderte sich tatsächlich alles rapide in den letzten 4 Wochen und ganz deutlich in den letzten Tagen. Bis die Kollegen ihre Algorithmen sortiert haben, kümmern wir uns daher erst mal um anderes.

Boom-Boom-Boomtown.

Berlin ist heute eine Boomtown und hat an vielen Stellen andere Probleme zu lösen als vor zehn Jahren. Es gibt viel mehr gut bezahlte Arbeit als früher, die Einkommen steigen, die Arbeitslosigkeit liegt auf dem niedrigsten Niveau seit fast einem Vierteljahrhundert. Wer in Deutschland ein Start-Up gründet, entscheidet sich zu 39% für Berlin als Standort, der Rest verteilt sich auf die anderen 15 Bundesländer. „Von wegen arm aber sexy. Die Hauptstadt ist jung, international und digital“ schreibt der STERN gerade in seinem Bericht über „Silicon Berlin“. Zu dieser Wahrheit gehört, dass die ungebrochene Attraktivität Berlins für kreative Gründer stark mit der Ausstrahlung Berlins in den Wowereit-Jahren zu tun hat. Während andere noch von alter Großindustrie fabulierten, setzte „Wowi“ auf die digitale Kreativwirtschaft, auf Medien, Fashion, Smart-City, Tech-City und alles, was noch kommt. Heute sorgen alleine die Start-Ups für 60.000 Arbeitsplätze. Investitionen ausländischer Unternehmen sind ungebrochen, aber vor allem zieht es auch immer mehr Inländer in die Hauptstadt.

Die große Aufgabe heute ist es, das Wachstum der Stadt so zu gestalten, dass weiterhin alle teilhaben können. Und war man vor zwanzig Jahren noch froh um jede leerstehende Wohnung, die renoviert und in eine Ferienwohnung gewandelt wurde, so braucht man heute eben jede nur verfügbare Wohnung für diejenigen, die hier langfristig leben wollen. Das ist der Lauf der Dinge und die Besitzer werden auch nicht enteignet, sondern sie sollen an langfristige Mieter vermieten und nicht an kurzfristige. Mit dem Verbot der Ferienwohnungen und anderen lokalen wie nationalen Maßnahmen steuert man in Berlin wie auch in anderen Boomstädten wie München, Hamburg oder Düsseldorf gegen.

Allerdings ist nichts so anziehend wie der Erfolg und Fakt ist: Berlin ist extrem attraktiv, hat eine enorme Sogwirkung ­– nicht nur für Touristen sondern vor allem auch für Arbeitgeber und Arbeitnehmer – entwickelt und ist natürlich auch von dem globalen Trend in die Metropolen nicht abgekoppelt. Was für die Wohnungen gilt, gilt ebenso für Kitas und Schulen. Vor Jahren noch gab es in einzelnen Stadtteilen nicht mehr genug schulpflichtige Kinder für manche Schule, die Finanzen drückten an allen Ecken und die Trendforscher taxierten Berlins Bevölkerungszahl in Richtung 3 Millionen.

Heute sind die Trendforscher von damals in Rente, neue dürfen falsche Prognosen aufstellen und es geht recht rasant auf die 4 Millionen zu. Alles in allem steht Berlin aber gut da – auf jeden Fall deutlich besser als vor 10 oder 15 Jahren, was wirklich jeder sehen kann, der es will. Da darf man sich von ein paar professionellen Hysterikern nicht kirre machen lassen. Es sind auch meist die gleichen, die vor ein paar Jahren noch tiefere Einschnitte in der Verwaltung gefordert haben – aber so ist das eben. Das eine klappt hier besser, das andere in Hamburg, das dritte in London und das vierte in Rom. Bei Rom bin ich noch am überlegen, was das sein könnte. Aber mache Städte sind einfach so schön, da ist alles egal. Hierzu zählte Berlin nie.

Das Thema, das den Berlinerinnen und Berlinern tatsächlich unter den Nägeln brennt, ist der Mietmarkt. Perspektivisch wird sich daher die Frage stellen, wem man am ehesten zutrauen wird, bezahlbare Mietwohnungen zu schaffen. Da kann sich jetzt jeder seinen eigenen Reim drauf machen. Die Grünen sind bisher nicht wirklich als Baufüchse in Erscheinung getreten, sondern eher als aktive Wohnungsbaublockierer. Die FDP ist sicher mehr an Luxuslofts mit ensuite Dampfdusche und Heli-Landeplatz interessiert, die CDU hat mit Mietern eh nichts am Hut und den AfD-Repräsentanten wird außer Germania auch nicht viel einfallen. Das war aber auch ein schöner Plan, damals, von dem Adolf und dem Albert. Bevor der Russe kam. Apropos. Die Linkspartei hat historisch-ästhetisch gesehen natürlich die Platte auf dem Habenkonto. Mal sehen, wer da was nachlegt.

Doch wie auch immer. Die Berliner lieben Berlin, sind sich darüber im Klaren, dass nicht alles perfekt läuft, erwarten aber auch nicht, dass alles perfekt läuft. Denn sonst wären sie ja auch nicht hier, sondern in Gundelfingen. Da war ich zwar noch nie, aber wahrscheinlich bekommt man dort seinen Reisepass schneller. Auf der anderen Seite will man von dort auch dringender weg. So schließt sich der Kreis. Auf gar keinen Fall darf man die Berliner Gelassenheit mit Resignation verwechseln, es ist eher ein natürlicher Umgang mit dem Leben in einer Millionenstadt.

Die CDU: „Komm zu mir in den Keller, hier ist es schön feucht und einsam.“

Richtig fuchsig wurden die Berliner im letzten Jahr erst, als offensichtlich wurde, dass sowohl der zuständige Sozialsenator als auch der für diese Personalentscheidung zuständige stellvertretende Regierende Bürgermeister (beide CDU) die Flüchtlinge Wochen lang im Regen stehen ließen. Man regte sich also nicht über die Flüchtlinge auf, sondern über das Missmanagement.

Vor ein paar Wochen kamen dann einige auf die großartige Idee, eine recht unsaubere Kampagne gegen Michael Müller zu lancieren. Sie verfolgten dabei offensichtlich das alte Wahlkämpfermotto: „Wenn Du nicht zu Deinem Gegner aufschließen kannst, dann zieh ihn zu Dir runter.“ Das ist immer ein gefährliches Spiel, aber in Zeiten politischer Irritationen nicht nur gefährlich, sondern saudumm. Auch in Folge des Rohrkrepierers segelt die CDU immer stabiler unter 20% und ein Ergebnis wie in Hamburg 2015, als sie in Deutschlands zweitgrößter Stadt mit 15,9% nach Hause ging, ist möglich. Der Spitzenkandidat, Frank Henkel, darf die Partei zum zweiten Mal „führen“ und hat sich daher in entscheidenden Themen klar positioniert. Etwa als er beim Mitgliederentscheid seiner Partei zur Homoehe auf einer Skala von 1-6 knallhart die Position „Bin wahrscheinlich eher ein bisschen dafür“ ankreuzte. Seine piefige Partei kreuzte „Bin voll dagegen“ an. Interessiert hat es eh keinen, aber so ungefähr kann man sich auch seinen sonstigen Regierungsstil vorstellen. Es ist eben ein schmaler Grat zwischen einer ruhigen Hand und Lethargie.

Die Grünen: „Vier sind mehr als eine und vier sind mehr als zwei, wenn Du mich nicht leiden magst, dann bleiben ja noch drei“.

Die Grünen haben sich nach dem Künast-Schock 2011, bei dem vor allem die Grünen selbst von den rüden Umgangsformen ihrer Spitzenfrau geschockt waren, auf eine lustige Doppel-Doppelspitze verständigt. Nein, das ist kein Fehler von mir, sie haben tatsächlich 2×2 Spitzenkandidaten. Dies geschah vermutlich auch in Ermangelung eines strunzkonservativen rüstigen Rentners, die ja sonst zur Zeit bei den Grünen hoch im Kurs stehen. Mit Ströbele hätte man zwar einen rüstigen Rentner gehabt, aber der ist seiner Partei natürlich viel zu links und vermutlich auch ein bisschen peinlich. Tatsächliche Politik ist denen heute eher suspekt und man setzt lieber auf einen funktionierenden „Kapitalismus mit Pfiff“, wie etwa die aktuelle Plakatheadline: „Unsere wichtigsten Start-Ups: Kinder“ beeindruckend schlicht unterstreicht. Da dürfen die Helikoptereltern in ihrem Loft doch entspannt mit einem veganen Sojadrink drauf anstoßen: Die Kids werden direkt nach der dreisprachigen Privatkita bei Rocket Internet anfangen und verkratzen nicht länger die Landhausdielen.

Zurück zur Viererbande die man so nicht nennen darf, denn der Begriff ist historisch besetzt (go, google it). Quartett wäre für den Zustand der Berliner Grünen zu harmonisch. Ich entscheide mich für Quad: Macht viel Lärm, aber am Ende doch keinen Sinn. Wie auch immer: Jetzt kann sich jede Spitzenkraft hinter der anderen verstecken, frei nach dem Motto „vier sind mehr als eine und vier sind mehr als zwei, wenn Du mich nicht leiden magst, dann bleiben ja noch drei“. Das gelingt so gut, dass sie bereits an der CDU vorbeigezogen sind. Prompt werden sie von der konservativen Presse in Richtung Grün-Schwarz-Gelb geschoben. Na klar. Genau. Für ungefähr 70% aller Berliner Wählerinnen und Wähler gleichbleibend mit einer Koalition direkt aus der Hölle und einer geballten Berlin-Kompetenz von ungefähr minus 823 auf einer Skala von plus 5 bis minus 823.

Wer für die Linke antritt weiß ich nicht, aber das ist ja auch deren Wählern völlig egal. Hauptsache Gysi. Die Piraten haben sich faktisch aufgelöst, die FDP entsteigt in zombiesker Eleganz mit Retro-Themen wie „Tegel-offen“ (Gähn) langsam ihrer Gruft und die AfD rührt auch hier ihr braunes Ursüppchen aus Alles-Hassern, Putin-Lovern und „Schuld-an-meiner-beschissenen-Laune-sind-alle-nur-ich-nicht“-Frohnaturen. So weit, so absehbar.

Der Berliner: „Ist mir egal, ist mir egal.“ Oder nicht?

Doch das alles kann doch einen Berliner in der Sonne nicht erschüttern.

Aber dann, am 18. September geht es um ein bisschen mehr. Es geht darum, wie man das Wachstum dieser Stadt mit jährlich über 40.000 Neu-Berlinerinnen und Berlinern organisiert (Nettozuzug ohne Flüchtlinge). Wie man den sozialen Zusammenhalt stärkt, statt neue Gräben aufzureißen. Wie man eine Politik für die ganze Stadt macht und nicht nur für die Stammklientel in den eigenen Parteihochburgen. Es geht darum, wer das Zeug dazu hat, diese Stadt mit Verantwortungsbewusstsein, hohem persönlichem Einsatz, Kompetenz und Erfahrung zu führen.

Und es geht darum, wie klar und deutlich die Berlinerinnen und Berliner Stellung beziehen. Denn sie leben ja nicht irgendwo, sondern in der Hauptstadt der Toleranz, der Weltoffenheit, der Kultur, der Freiheit und der Kauzigkeit. In einer Stadt, die von der ganzen Welt geliebt wird und die sich alles in allem auch selbst ganz gut leiden kann. Also. Genießt den großartigen Sommer in Berlin!

Wir sehen uns dann.

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Aktuelles Fallbeispiel: Wann entscheidet sich der Wähler? Hier der Verlauf von November 2015 bis März 2016 in Rheinland-Pfalz.