Die Selbstpulverisierung der SPD Berlin.

Auf Basis falscher Wahlanalysen treiben die Parteivorsitzenden Giffey und Saleh die Partei in einen Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Bei der nächsten Wahl droht der SPD in Berlin die Bedeutungslosigkeit.

Das Ergebnis war eine Katastrophe. Das Ergebnis der SPD Berlin am 26. September 2021 – dem Tag der Bundestagswahl und in Berlin auch noch der Wahlen zum Abgeordnetenhaus, zu den Bezirksverordnetenversammlungen, dem Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ und des Berlin-Marathons,  blieb deutlich unter den eigenen Hoffnungen. Die Partei hatte zuvor den nicht so wirklich glücklich wirkenden Regierenden Bürgermeister Michael Müller zum Abschied auf Raten „überredet“, um mit der neuen Spitzenkandidatin Franziska Giffey zu punkten. Die SPD wollte wieder an Wahlergebnisse eines Klaus Wowereit um die 30% anknüpfen. Aber der Wahlkampf in Berlin hätte nicht schlimmer laufen können. Wo auch immer sich die Gelegenheit bot, machte die Kandidatin deutlich, dass ihr eine Koalition mit CDU und im Zweifel auch noch FDP („Deutschland-Koalition“) lieber wäre, als das Rot-Grün-Rote Bündnis ihres Amtsvorgängers fortzuführen. 

Und das mitten in einem Wahlkampf, in dem gleichzeitig die Bundes-SPD alles daran setzte, die Menschen davon zu überzeugen, dass eine Regierung ohne CDU/CSU der einzige Weg sei, um endlich dringend notwendige Reformen im Land angehen zu können. Am deutlichsten widersprach Giffey den Initiator*innen des Volksentscheides „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Über deren Anliegen lässt sich trefflich streiten – aber dass den Berliner*innen der Ist-Zustand auf dem Wohnungsmarkt nach zwanzig Jahren SPD-geführtem Senat mehr als ungenügend erschien, war offensichtlich.

Der Wahltag war dann ein mehrfaches Desaster. Das größte Desaster, das schließlich zu Neuwahlen führte, wurde bereits ausreichend erörtert. Für die SPD aber war das eigentliche Ergebnis auch schon ernüchternd genug. Die SPD Berlin kam bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2021 auf nur 21,4% der Stimmen – und unterbot damit das Ergebnis von Michael Müller 2016 (21,6%). Während Müller noch auf einen Abstand von vier Prozentpunkten zur zweitplatzierten CDU kam, landete die SPD mit Giffey nur noch 2,5 Prozentpunkte vor den Grünen. 

Und nicht nur das: Während die Bundes-SPD ihr Wahlergebnis 2021 in Berlin im Vergleich zu 2017 um 5,6 Prozentpunkte auf 23,4% steigern konnte – schaffte es die SPD Berlin am selben Wahltag, Stimmanteile zu verlieren. Also am Tag, als Deutschland erstmals seit gut zwei Jahrzehnten die SPD zur stärksten Partei im Bund machte. Es kam noch schlimmer. Der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, wurde von den Berliner*innen mit satten 59,1% angenommen. Wie weit, so fragte man sich, kann sich eine Großstadt-SPD eigentlich noch von ihrer Klientel entfernen?

Im Vergleich zu 2016 waren die Grünen die Gewinner*innen der Wahl 2021 und verbesserten sich um 3,7 Punkte auf das mit 18,9% beste Ergebnis ihrer Geschichte. Schon im Vorfeld der Wahl 2021 wurde deutlich, dass sich kein Giffey-Effekt für die SPD einstellen wollte. In den Umfragen tat sich nach ihrer Nominierung absolut nichts. Am Wahltag lag Giffey nach den Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen in der Direktwahl bei 39% – aber selbst Müller lag 2016 noch bei 54%. Die Spitzenkandidatin hatte zu diesem Zeitpunkt zwar noch keinen „Amtsbonus“ erarbeiten können – aber diesen würde sie auch im Amt nicht mehr bekommen. Ihre Direktwahl-Quote lag 2023 noch unter der von 2021 – bei 32%. Ein Amtsmalus. Klaus Wowereit, zur Erinnerung, lag gerne mal bei 65%. 

Schon 2021 machten die Berliner*innen also deutlich, dass sie in der Spitzenkandidatin kein überzeugendes personelles Angebot der SPD sahen. Die Berliner*innen fremdelten mit Franziska Giffey und Franziska Giffey mit Berlin. So blieb es auch. Die drängendsten Probleme, damals wie heute, waren der Miet- und Wohnungsmarkt und die Verkehrswende – aber in dieser Kandidatin sahen sie keine Zukunftskompetenz.

Die Forschungsgruppe Wahlen schreibt in ihrer Wahlanalyse zur Wahl 2023:

„Spitzenkandidat/innen: Giffey ohne Zugkraft: Mitverantwortlich für das schwache SPD-Ergebnis ist eine Spitzenkandidatin, die weit weniger Zugkraft entfaltet als andere Länder-Regierungschefs. […] Beim Ansehen verfehlt Giffey klar das Niveau ihrer Amtsvorgänger Michael Müller oder Klaus Wowereit und liegt auf der +5/-5-Skala mit 0,4 (2021: 0,9) nur knapp vor Kai Wegner (CDU), der – wie alle Berliner CDU-Kandidaten seit 2001 – mit 0,3 (2021: 0,1) ebenfalls schwach bleibt.“ 

Schwach blieb die Regierende Bürgermeisterin auch in der Aufarbeitung der Wahlunregelmäßigkeiten 2021, die zwar nicht von ihr, aber von einem ihrer Senatoren zu verantworten waren. Er durfte bleiben. Ein konsequentes Durchgreifen, wie es etwa Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz nach ihrer Amtsübernahme demonstriert hatte, blieb aus.

Es blieb – und bleibt – überhaupt so vieles aus. Vor allem die Aufarbeitung der beiden Wahlklatschen 2021 und 2023. Giffey und ihr Co-Vorsitzender Saleh gingen und gehen wohl davon aus, dass die Berliner*innen eine konservative Wende gewählt hätten. Das ist objektiv nicht der Fall und zu diesem Schluss kann man nur kommen, wenn man sich selbst aus der Verantwortung nehmen will. Faktisch hat die CDU deutlich zugelegt, die FDP flog dafür aus dem Parlament und damit liegt der konservative Anteil in Berlin bei 28% im Abgeordnetenhaus (die AfD mit 9,1% ist ja für niemanden als Partner diskutabel).

Tatsächlich haben die Berliner*innen – wie schon so oft – eine satte progressive parlamentarische Mehrheit (90 von 159 Mandaten) in der Stadt gewählt – ohne progressive Politik zu bekommen. Sie haben die SPD eher nicht gewählt, weil sie ihnen zu wenig fortschrittlich war. Weil sie das Gefühl vermittelt bekamen, dass diese SPD dem Fortschritt regelrecht im Wege stehe. Dabei geht es nicht immer darum, ob es so war – sondern ob es so schien. Und den Eindruck der SPD als Bremserin in dieser Koalition konnte man durchaus bekommen.

Die CDU profitierte 2023 von einem Mobilisierungserfolg – auch auf Kosten der FDP übrigens – und vor allem auch von einem Mobilisierungsdefizit der SPD. Hervorgerufen auch durch die SPD- „Kompetenzverluste im Bereich ‚Wohnungsmarkt‘“ – so die Forschungsgruppe Wahlen in ihrer Analyse. Was für ein Wunder, wenn man sich gegen 60% der Bevölkerung stellt.

Dabei gab es auch viele Fehler der anderen – allen voran die überflüssige Friedrichstraßenaktion der Grünen. Eine Symbolpolitik rund um eine trostlos verbaute Straße, die außer ein paar Lobbyisten aus umliegenden Büros niemand aufsucht, niemand mag und die Berliner*innen nur nutzen, um von ihr weg zu kommen. Wenn man schon Verkehr beruhigen will, warum nicht da, wo Menschen leben? An der Nummer war alles falsch, sie hat die Grünen auch Stimmen gekostet – aber das löst nicht das Problem der SPD. Ohne ihren Friedrichstraßenmurks wären die Grünen ja deutlich vor der SPD gelandet (mit einer überzeugenderen Spitzenkandidatur sowieso – auch schon 2021).

Der SPD ist es 2023 nicht gelungen, sich wie im Bund 2021 von den Grünen durch progressive und programmatische Kompetenz abzusetzen und wieder deutlich stärkste fortschrittliche Kraft in der Stadt zu werden. Olaf Scholz verkörperte 2021 mehr Progressivität – und vermittelte vor allem auch mehr konkrete progressive Politik als die SPD-Spitze in der größten Metropole Deutschlands. 

Die SPD trägt bei vielen Wähler*innen immer noch die Grundvermutung in sich, dass sie sich bei progressiven Mehrheiten auch für einen fortschrittlichen Kurs entscheiden wird. Vor allem in einer Stadt wie Berlin. Es war in diesem Wahlkampf daher nicht leicht, die Wähler*innen davon zu überzeugen, nach all den Jahren und all den Pannen, diesmal doch noch einmal SPD zu wählen. Das beste Argument war immer, die CDU zu verhindern. Es war auch oft das letzte Argument. Positive Argumente für die SPD – personell oder programmatisch – die auch im Gespräch gezündet hätten, gab es nicht. 

Natürlich ist die Lage nach dieser Wahl schwierig. Aber in der Wahlanalyse der Forschungsgruppe Wahlen wie in der anderer Institute steht auch klar zu lesen: „Neben einer rot-grün-roten Neuauflage gehen die Berliner/innen auch zu sämtlichen anderen denkbaren Koalitionen auf Distanz.“

Sollte die SPD nun geradezu anbiedernd ihr Heil in den Armen der CDU suchen, machte sie sich in dieser Stadt endgültig überflüssig. Eine schwächere Verhandlungsposition kann man sich ja gar nicht schaffen. Es ist ein strategisch völlig falscher Schritt auf Basis einer völlig falschen Analyse. Die SPD muss natürlich auch gar nicht regieren, sondern könnte auch mal versuchen, sich in der Opposition neu zu sammeln. Auch dann mit neuem Köpfen und neuen Inhalten. 

Aber eine Große Koalition ohne Not? Die SPD hat noch nicht einmal ein demokratietheoretisches Argument auf ihrer Seite, sich der CDU anzudienen. Es gilt nicht, einen Rechtsruck mit der AfD oder sonst etwas dramatisches zu verhindern. Mit ihrem Schritt in Richtung CDU verhindert die SPD nur sich selbst. Also einen Senat unter SPD Führung, der gerade – wenn auch knapp – bestätigt wurde. Wie absurd ist das denn?

Wäre es nicht am vernünftigsten, einer progressiven Mehrheit in Berlin auch einmal einen progressiven Senat folgen zu lassen? 

Dieser Rot-Grün-Rote Senat ist trotz widriger Umstände wiedergewählt worden. Die stärksten – wenn auch überschaubaren – Verluste im progressiven Lager, hat dabei die SPD erlitten. 

Dieser Senat – einschließlich seiner Chefin – hat also vom Volk die Chance bekommen, es besser zu machen als im ersten Anlauf. Die Berliner*innen haben Rot-Grün-Rot bestätigt. Und nicht einmal knapp. Das Bündnis verfügt über 90 von 159 Sitzen – Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün über 86. Was gibt es daran nicht zu verstehen?

Wäre es jetzt für die SPD nicht Zeit, es mit einem wirklich progressiven Senat zu versuchen? Nicht auf der Bremse zu stehen, sondern vorneweg ein progressives Bündnis anzuführen, das die Mehrheit der Berliner*innen 2021 gewählt und 2023 im Amt bestätigt haben? Es wäre die Chance auf den ersten progressiven Senat unter SPD-Führung seit Jahren.

Der Autor hat die Wahlkämpfe der SPD in Berlin 2001, 2006, 2011 und 2016 betreut und ist Autor des Spiegel-Bestsellers „Höllenritt Wahlkampf- ein Insider Bericht“.

Das Zuhörproblem

Nachdem sich die größte Aufregung um Panzerlieferungen wieder gelegt hat, lohnt ein Blick auf die begleitende Debatte. Während viele Medienvertreter:innen mit seinem Kommunikationsstil hadern, versteht das Volk Olaf Scholz scheinbar recht gut. Im Vergleich zu Biden, Macron oder Sunak liegt der Kanzler bezüglich der Zustimmungsraten in der Bevölkerung vorne. Woher kommt die Entfremdung zwischen Bevölkerung und Medien?

Die Worte, die Olaf Scholz im allgemeinen wählt, sind weder kryptisch, noch banal, noch von  überbordenden Emotionen geprägt, sondern meist klar, knapp und verständlich. Auch wenn er gerade nichts sagen kann, ist das nicht schwer zu verstehen. Er sagt dann nichts.

Weite Teile der Bevölkerung kommen mit diesem Stil offenbar ganz gut klar, notiert Scholz doch schon seit vielen Jahre in den Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen beständig im oberen Drittel der beliebtesten und wichtigsten Politiker:innen Deutschlands (aktuell auf Rang 3). 55% bescheinigen dem Kanzler zu Ende Januar 2023, einen guten Job zu machen. Angesichts der vielfältigen Krisen unserer Tage ein passabler Wert – und einer der höchsten in vergleichbaren Demokratien. Joe Biden kommt auf 42,3%, Macron auf 36% und Sunak auf 40% Zustimmung (Quellen siehe Grafik).

Nur einer notiert im positiven Bereich.

Woher aber kommen nun diese Unterschiede zwischen dem kritischen, häufig auch in drastischer Sprache geäußerten Missfallen zahlreicher Medien und dem stabilen Eindruck, den der Bundeskanzler bei den meisten Menschen hinterlässt?

Schon lange beobachten wir in der Kommunikationsbranche eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen einer recht überschaubaren intensiven Kommunikationselite und breiten Bevölkerungsschichten. Der massive Medienwandel, vor allem im vergangenen Jahrzehnt, hat zu einer Kluft bezüglich der Tiefe von Wissen und auch der Geschwindigkeit im Konsum von allgemeinen, politischen und gesellschaftlichen Informationen zwischen diesen ungleich verteilten Polen geführt, die auch weiter wächst. 

Die Schlüsselbegriffe, um in breiten Bevölkerungsschichten heute zu reüssieren lauten Stabilität und Berechenbarkeit. Am Ende zählt die lange Linie und nicht die hektische Kurzatmigkeit. Das erklärt auch die zunehmende Entfremdung zwischen Medien und Bevölkerung.

Medienvertreter:innen kämpfen seit Jahren mit abnehmender Bedeutung und nicht selten um das eigene wirtschaftliche Überleben. Selbst große Medienhäuser wie Axel Springer stemmen sich mit immer schrilleren Tönen und zweifelhaften wirtschaftlichen Investitionen (BILD TV) vergeblich dem Verfall ihrer einstigen Macht entgegen. Immer mehr Journalist:innen suchen ihre Rettung im Aufbau eigener Medienmarken, die sich im Zweifel auch ohne das aktuelle Verlagshaus monetarisieren lassen. Dafür benötigt werden Follower auf den sozialen Kanälen, hohe Abrufzahlen, Klickraten und möglichst häufige Auftritte in TV-Formaten, reichweitenstarken Podcasts und Newslettern.

Eine solche Reichweite innerhalb einer überschaubaren aber wiederum wichtigen und zahlungskräftigen Zielgruppe, erreicht man am einfachsten über Lautstärke, Polarisierung, Geschwindigkeit und natürlich auch Polemik. Ob das besser oder schlechter ist als „früher“ ist dabei irrelevant. Politik ist keine nostalgische Veranstaltung sondern findet in den Räumen statt, die aktuell zur Verfügung stehen.

Dieser Kampf um Aufmerksamkeit – nicht der Politik, sondern der Medien – führt zu kuriosen Wettrennen um exklusive Erstmeldungen. Nicht selten geht es um Minuten oder gar Sekunden. Zuletzt zu verfolgen bei dem bizarren Nachrichtenzyklus rund um den Rücktritt der Verteidigungsministerin und der Ernennung ihres Nachfolgers. Frau Lambrecht war am Montag, den 16.1. zurückgetreten, am Dienstag wurde ihr Nachfolger, Herr Pistorius, benannt und am Donnerstag vereidigt. 

Man muss keine Meinungsforschung betreiben um zu wissen, dass von den 84 Millionen Einwohner:innen Deutschlands gute 83,99 Millionen mit diesen zeitlichen Abläufen ganz gut klarkamen. Vorausgesetzt, sie haben den Vorgang in der Kürze der Zeit überhaupt mitbekommen. Für zahlreiche Medienvertreter:innen war es andererseits ein absolutes Unding, dass „in Kriegszeiten in Europa der Chefsessel im Verteidigungsministerium unbesetzt“ blieb. Was noch nicht einmal der Fall war, den Lambrecht war ja noch im Amt.

Die unüberschaubare heutige Medienvielfalt und die mit ihr verbundenen Zerstreuungs- oder Eskapismusoptionen führen dazu, dass eine Gleichzeitigkeit des Informationsflusses nicht mehr vorhanden ist. Viele Menschen bekommen immer mehr Informationen entweder gar nicht oder zeitlich stark versetzt mit.

Um Durchzudringen wird daher die lange Linie – also Berechenbarkeit, Verlässlichkeit, Unaufgeregtheit und am Ende vor allem ein erfolgreiches Management multipler Krisen – immer wichtiger.

In hektischen Zeiten gewinnt die Orientierungsfunktion von Politik immer weiter an Bedeutung. Die Menschen wollen wissen, wofür eine Person, eine Partei, eine Regierung steht. Nicht in jeder Sekunde – sondern langfristig. Heutige Medienmechanismen und seriöse Politikvermittlung stehen immer mehr im Gegensatz zu einander.

Politik läuft Gefahr, sich in der selben Blase zu bewegen wie viele Medienvertreter:innen heute. Das Ergebnis sind hektische, fehlerhafte, unberechenbare und nicht zu Ende gedachte Entscheidungen. Dies führt zu großen Irritationen in der Bevölkerung, die in diesen Zeiten vor allem eines nicht will: eine irritierende Regierung – wie sie etwa Großbritannien über die letzten Jahre erlebte.

Die Gratwanderung seriöser Politik besteht nun darin, Druck auszuhalten, lange Linien zu verfolgen und nicht dem täglichen medialen Irrsinn zu erliegen. Die Gefahr besteht, genau mit diesem Verhalten den Zorn der hyperaktiven Medien auf sich zu ziehen, die immer schneller immer neues Futter brauchen.

Wie die vergangenen Wochen zeigten. Bezüglich der Unterstützung der Ukraine haben die zentralen Akteure Biden, Sunak, Scholz und Macron ein abgestimmtes Vorgehen verabredet und halten sich daran. Das führt zu der beispiellosen Unterstützung einer Nation, die kein offizieller Verbündeter ist – bei gleichzeitiger gegenseitiger Absicherung. Dass Scholz in der Leopard-Frage beständig daran gearbeitet hat, mit den USA im Gleichschritt zu gehen (und diesen im Zweifel auch einzufordern), hat zu einem engeren Schulterschluss gegen den Aggressor Russland geführt. Exakt dieses Vorgehen hat Scholz immer wieder angekündigt und auch begründet.

Das Problem war nicht, dass Scholz nicht sprach – sondern dass er nicht sagte, was viele Journalist:innen hören wollten. Das ist aber ein gewaltiger Unterschied.

Das für die Ukraine positive Verhandlungsergebnis war nur möglich, weil er sich nicht hat treiben lassen. Genau darin besteht ja Führungsstärke – die im übrigen von den entscheidenden Partnern in der Welt exakt so wahrgenommen wird.

Die letzten Monate bieten ausreichend Anlass, Deutschlands Debattenkultur zu hinterfragen. Der Kanzler agiert dabei kommunikativ sicher nicht fehlerfrei. Aber offensichtlich deutlich näher an der Erwartungshaltung der Bevölkerung, als die mediale Stimmung es vermuten ließe.

Dieser Text sollte als Gastbeitrag in einer Tageszeitung zu dem „Kommunikationsproblem des Bundeskanzlers“ erscheinen. Als der Autor darauf hinwies, dass dieses Problem nicht so eindeutig und einseitig bestünde, wurde die Anfrage zurückgezogen. QED

Im deutschen Interesse.

In Kriegszeiten ist Naivität gepaart mit Unerfahrenheit nicht nur falsch und teuer, sondern gefährlich. Und in Kriegszeiten dient Geschwätzigkeit nur dem Gegner – und der heißt Putin. Dass der Bundeskanzler nicht jeden Tag oder gar stündlich Einblicke in sein strategisches Vorgehen gewährt, hat wohl mit der nicht ganz falschen Grundannahme zu tun, dass eine Strategie sich nur dann entfalten kann, wenn sie nicht öffentlich ist. Und auch nur dann aufgehen kann.

Olaf Scholz sagt, was er tut und tut, was er sagt. In den letzten Wochen wurde ich häufiger gefragt, was Scholz eigentlich vorhabe und meine Antwort war immer die gleiche: Es ist aus meiner Sicht kein Geheimnis, was er prinzipiell vorhat. Es ist das, was er immer gesagt hat: Eine effektive Unterstützung der Ukraine in enger Abstimmung – und auch im Einklang mit den Partnern bei Erhaltung des Grundsatzes, dass Deutschland zwar Partei nimmt, aber keine Kriegspartei wird.

Er fördert die Unterstützung der Ukraine und fordert von den Partnern ebenfalls diese Unterstützung ein. Klar, beständig und im Zweifel auch hart. Scholz ist zwar ein neuer Bundeskanzler, aber eben auch ein alter Hase, der weiß, dass man manchmal Druck aushalten muss – und zwar im Interesse aller. 

Internationale Verhandlungen sind kein Kaffeekränzchen und es geht auch nicht darum, von allen immer geliebt zu werden. Everybody’s Darling is everybody’s Depp und wird im Zweifelsfall ausgenommen wie eine fette Weihnachtsgans. Deutschland weckt als starkes Land viele Begehrlichkeiten, die es auch aus Selbstschutz nicht immer erfüllen kann. Hinzu kommen knallharte auch finanzielle Interessen anderer Länder, die mit dem Wohl der Ukraine nur bedingt zu tun haben. Was Deutschland zahlt und liefert, müssen andere nicht liefern und zahlen. Je defensiver Deutschland in Verhandlungen gehen muss, desto besser für alle anderen.

Einige PolitikerInnen und MedienvertreterInnen haben in den letzten Wochen vielleicht aus guten Beweggründen aber mit dem völlig falschen Ergebnis eher die Interessen anderer Länder vertreten als die Interessen Deutschlands. Sie haben – ohne deren Beweggründe zu hinterfragen – anonym geäußerte „Verstimmungen“ oder „Kopfschütteln über den Bundeskanzler“ aus Regierungskreisen anderer Länder verbreitet und sich nicht selten auch zu eigen gemacht. Das ist aber nicht relevant. Wir schütteln ja auch häufiger mal den Kopf über zum Teil sogar  demokratiefeindliche Tendenzen in Nachbarländern.

Ein schwacher Kanzler hätte dem medialen Druck und auch dem ein oder anderen Versuch aus dem Ausland, zusätzlichen Druck aufzubauen, nicht standgehalten. Zum Nachteil Deutschlands und der Ukraine. Denn was wäre denn gewonnen gewesen, wenn Deutschland gleich eine handvoll Panzer geliefert hätte – ohne die USA, Frankreich und andere ebenso für weitere Maßnahmen zu gewinnen? Reine Symbolpolitik. Twitterfähig, instagrammable, talkshowgeeignet und weitgehend nutzlos, wenn nicht sogar gefährlich.

Die Naivität – manchmal gepaart mit durchaus glaubwürdiger emotionaler Überwältigung – der schärfsten KritikerInnen des Bundeskanzlers, hatte das Potential, die Verhandlungsposition Deutschlands bereits im Vorfeld der Ramstein-Konferenz deutlich zu schwächen. Andere hätten diesem Druck nachgegeben. Der Bundeskanzler hat ihn zu recht ignoriert.

Olaf Scholz, das wurde hier bereits an anderer Stelle erwähnt, war zum Zeitpunkt seines Amtsantrittes einer der erfahrensten und qualifiziertesten Politiker, die Deutschland zu bieten hatte. Vor seiner Wahl zum Bundeskanzler war er ein auf internationaler Bühne geschätzter Bundesfinanzminister und Vizekanzler, zuvor zweifach gewählter Ministerpräsident und davor Bundesminister für Arbeit und Soziales. Viel mehr Erfahrung kann man nicht sammeln, um dieses Amt zu übernehmen. 

Ihm gegenüber steht ein Oppositionsführer, der sich zuvor eineinhalb Jahrzehnte Auszeit aus der Politik gegönnt hatte und bis heute über keinerlei Exekutiverfahrung verfügt. Aber auch in den die Regierung Scholz tragenden Koalitionsparteien finden sich einige AutodidaktInnen der internationalen Politik, die über keinerlei Regierungsexpertise verfügen – dafür aber über eine vermeintliche Medienkompetenz mit Dauerpräsenz. Sie haben sich und ihrem Anliegen in den letzten Tagen einen Bärendienst erwiesen.

Was Scholz prinzipiell will sagt er seit nunmehr gut einem Jahr immer wieder. Aber offenbar gibt es große Defizite im Zuhörvermögen anderer.

Auf der Strecke und vor allem im Ergebnis unterscheidet sich der Profi vom Amateur.

Der Führungsstärke des Bundeskanzlers ist es zu verdanken, dass die internationale Gemeinschaft sich zu einer wesentlich effektiveren Unterstützung der Ukraine bekannt hat, als es selbst seine lautstärksten KritikerInnen erträumt haben.

Olaf Scholz hat sich bereits über viele Jahre aber ganz besonders in diesen Tagen auf der Weltbühne etwas erarbeitet, was unserem Land noch weiteren Nutzen bringen wird: Respekt.

Neuland.

Deutschland hat seit acht Wochen einen neuen Bundeskanzler. Aber nachdem der letzte Wechsel im Kanzleramt sechzehn Jahre zurückliegt, haben viele – auch in den Medien – offenbar verlernt, was das tatsächlich bedeutet.

Olaf Scholz wurde am 8. Dezember 2021 im Deutschen Bundestag vereidigt. Heute ist der 8. Februar 2022. Dazwischen lagen noch Weihnachten und Neujahr. Zwischen der Wahl am 26. September 2021 und der Vereidigung lagen außerdem noch relativ kurze Koalitionsverhandlungen an deren Ende erst die genaue Aufteilung der Ministerien und die Bestellung der MinisterInnen-Riege lag. Es folgte die Konstituierung einer neuen Regierung in einer bisher auf Bundesebene noch nie dagewesenen Konstellation. Ministerien wurden neu zugeschnitten, eines komplett neu gegründet. StaatssekretärInnen aber auch hunderte von MitarbeiterInnen wurden bestellt, wechselten zum Teil die Resorts oder begannen ihre Arbeit ganz von vorne. Zum Teil wurden Stellen noch gar nicht besetzt, weil man noch auf begehrte MitarbeiterInnen wartet, bis diese aus ihrem bisherigen Arbeitsverhältnis wechseln dürfen. Das alles geschieht gerade.

In den 16 Jahren zuvor blieb nach dem Amtsantritt 2005 zumindest im Kanzleramt alles beim Alten, viele Ministerien blieben ebenfalls in der gleichen Hand, CDU/CSU regierten durch und nur der Koalitionspartner wechselte mal von SPD zu FDP und wieder zurück.
Heute regiert zwar die SPD weiter, allerdings wurden die Häuser komplett neu zugeschnitten und zum ersten Mal seit 2005 gibt es zum Beispiel wieder sozialdemokratisch geführte Innen- und Verteidigungsministerien. Die FDP regiert erstmals seit 2013 wieder auf Bundesebene, die Grünen erstmals seit 2005.

2005 übrigens, nur zur Einordnung, war das Jahr in dem Johannes Paul der II. starb, George W. Bush seine zweite Amtszeit antrat, das iPhone noch nicht auf dem Markt war, Facebook gerade ein paar Monate zuvor gegründet wurde und die Welt weder von Twitter noch von Uber, Airbnb und Co. je gehört hatte. Weil es sie noch nicht gab.

Das ist also alles recht lange her. Wer zum Beispiel 2005 in einem Medienhaus mit 25 Jahren nach der Uni anfing ist heute 41 und hat bisher nur in anderen Ländern erleben können, was ein Machtwechsel bedeutet. Eine Transition-Phase – also eine Übergangsphase zur Vorbereitung auf die Regierung, wie es sie in den USA sinnigerweise zwischen dem Wahltag in der ersten Novemberwoche und der Amtseinführung am 20. Januar des Folgejahres gibt – kennt unsere Verfassung nicht. Obwohl es natürlich großen Sinn ergäbe, wenn zwischen dem harten Wahlkampfende und den nicht minder harten Koalitionsverhandlungen noch Zeit wäre, Personal zu rekrutieren und einzuarbeiten. Und auch mal auszuschlafen.

Aber selbst mit Transition-Phase beginnen neue Administrationen häufig rumpelig und es muss sich vieles erst einmal „zurechtruckeln“ (A. Nahles).

Grundsätzlich nicht einfacher machen den Start einer neuen Regierung eine Pandemie, ein durchgeknallter russischer Präsident und eine Öffentlichkeit, die nach einer Pressekonferenz des Bundeskanzlers am 25. Januar nur wenige Tage später eine „Wo ist Scholz?“-Kampagne startet.

Und was die schon sehr lange andauernde „Ukraine-Krise“ – die in Wahrheit ja ausschließlich dem monströsen Minderwertigkeitskomplex Putins entsprungen ist – und die wichtige Rolle Merkels 2014 in den Gesprächen angeht: Zu diesem Zeitpunkt war Merkel bereits neun Jahre Bundeskanzlerin. Nicht neun Wochen. Ich persönlich begrüße es daher, wenn ein neuer Kanzler nicht in den ersten Tagen meint, die Welt retten oder Waffen in ein Krisengebiet schicken zu müssen. Kann man das vielleicht etwas klarer formulieren? Da geht wohl noch was.

Ansonsten drücken aktuell noch das Wetter, die ebenso notwendigen wie nervigen Masken, die gestiegenen Energiepreise, die Inflation und die nicht enden wollende Irrenparade der Querdenker aufs Gemüt. Aber das wäre unter keinem Kanzler anders.

Kann man daher grundsätzlich auch sagen, dass wir in der Beurteilung der Herausforderungen einer Regierungsübernahme in dieser Zeit auch etwas mehr Geduld von uns selbst verlangen dürften? Ich denke, da geht noch was.