Fun Facts zur US Wahl (Part 1)


Campaign Media-Spending USA vs. Deutschland.

Für die Clinton/Gore Kampagne 1992 war ich Mitarbeiter im National Speakers Bureau, also der zentralen Rednereinsatzplanung. Seither bestreite ich ununterbrochen Wahlkämpfe. Aus aktuellem Anlass möchte ich an dieser Stelle in loser Folge auf Eigentümlichkeiten einer US-Kampagne hinweisen. Manche kennen sie, für manche mögen sie neu sein. Und da ich gerade eine alte Fotokiste gefunden habe, unterstreiche ich meine Fun Facts mit einem blast from the past: Privaten und häufig schlechten Bildern aus Clinton/Gore 1992. Enjoy.

Campaign Media-Spending USA vs. Deutschland.

In den USA leben rund 335 Mio. Menschen. Aber für die aktuelle US-Präsidentschaftskampagne sind nur die Bundesstaaten Pennsylvania (13 Mio.), Wisconsin (5,9 Mio.), Arizona (7,5 Mio.), Nevada (3,2 Mio.) Georgia (11 Mio.), Michigan (10 Mio.) und North Carolina (10,7 Mio.) relevant. In allen anderen Bundesstaaten führt eines der beiden Teams so deutlich, dass sich ein relevanter Mitteleinsatz nicht lohnt. Letztendlich muss jedes Team auf mindestens 270 Wahlmänner kommen und diese werden in den einzelnen Bundesstaaten nach dem „The Winner Takes all -Prinzip“ vergeben.

Insgesamt wohnen in den Battleground-States also 61 Mio. Menschen – rund 22 Mio. weniger als in Deutschland.

Die Wahl 2020 wurde zum Beispiel in Arizona mit einem Vorsprung von 0,3% oder 10.457 Stimmen für Biden/Harris entschieden, in Georgia waren es 0,2% oder 11.779 Stimmen.

Im Jahr 2020 gaben die beiden Präsidentschaftskampagnen (also ohne Kongress- und andere Wahlen) insgesamt über 6,6 Milliarden USD aus, von denen nahezu alles in die wenigen umkämpften Staaten floss.

Und heute? Nach einer aktuellen Übersicht von CNN flossen alleine in den vier Wochen 21.7.2024 bis 18.8.2024 folgende Media-Spendings (also nur die gekaufte Werbezeit):

Pennsylvania: Harris/Walz: 33,2 Mio : Trump/Vance: 34,8 Mio
Georgia: 11,7 : 19,6 Mio.$
Michigan: 19,2 : 15,9 Mio.$
Arizona: 8,1 : 13,1 Mio.$
North Carolina: 4,2 : 7,1 Mio.$
Nevada: 3,8 : 4,7 Mio. $

Für einen Bundestagswahlkampf stehen den großen Parteien in Deutschland zwischen 15-25 Mio. EUR zur Verfügung. Und zwar inklusive allem – also auch dem Veranstaltungsmanagement etc.

Damit bekommt man immerhin gut vier Wochen Michigan.

That’s all. Thank you for your attention.

Die Ostalgiefalle.

Eine kleine Reise durch ein mysteriöses Land, in dem es bei Softeis und Broiler immer mehr Opfer gibt – einschließlich der Demokratie.

Vor wenigen Tagen fuhr ich durch das schöne nordöstliche Brandenburg und wurde von mehreren handgefertigten Hinweisschildern am Wegesrand auf leckeres „Original-DDR-Softeis“ und „Original-DDR-Kuchen“ aufmerksam gemacht. Erst zweihundert, dann einhundert, dann nur noch fünfzig Meter, dann rechts. Etwas in Eile musste ich auf diese Leckerbissen leider verzichten, stellte mir aber dennoch vor, wie ich etwa im schönen Westerwald auf Werbetafeln reagieren würde, die „Original-Drittes-Reich-Schnittchen“ anpriesen. Vermutlich verstört. In diesem gedanklichen Umfeld fiel es schon gar nicht mehr auf, dass ich laut Wahlplakaten in genau diesem Landstrich schon Ende September den sofortigen und vollumfänglichen Weltfrieden wählen konnte. Der ja bekanntlich schon immer von deutschem Boden ausging.

Ich hielt also nicht an, um den vermutlich sehr leckeren Kalten Hund zu genießen, sondern folgte dem Motto eines weiteren Plakats, das mich zur sofortigen „Remigration“, und zwar nicht irgendwann, sondern „jetzt“, aufforderte. Stets gehorsam steuerte ich mein sowieso unerwünschtes Elektromobil umgehend gen Westen und gewann damit Zeit genug, um darüber zu sinnieren, was in den letzten 35 Jahren eigentlich so vor sich gegangen war, um in dieser Gegenwart zu landen.

Seit 35 Jahren mache ich Wahlkämpfe, und einer meiner ersten bezahlten Jobs in diesem entspannten Metier führte mich im Januar 1990 nach Ostberlin, die Hauptstadt der DDR. Die erste (und auch letzte) freie Wahl zur Volkskammer der DDR im März 1990 stand bevor, und man hatte in der DDR sicher viele Dinge fürs Leben lernen können, aber Wahlkämpfe mit echter Konkurrenz und tatsächlich zählenden Stimmzetteln in versiegelten Urnen gehörten nicht dazu. Jetzt, wo sich diese Wahl bald zum 35. Mal jährt, ist vielleicht kein schlechter Zeitpunkt, um ein paar Gedanken zum Stand der Demokratie loszuwerden.

Es ist offensichtlich, dass nicht unerhebliche Teile der verbliebenen Bevölkerung des Ostens (12,6 Mio. ohne Berlin) in einer gefährlichen Nostalgiefalle feststecken, die sie nur immer weiter von dem entfernt, was man unter einer guten Gegenwart, einer guten Zukunft und tendenziell guter Laune versteht. In Verbindung mit der seit vielen Jahrzehnten von der jeweils aktuellen SED-PDS-Links-BSW-AfD-Ostalgiepartei gepflegten permanenten Opferrolle entsteht eine vermeintliche Ohnmachtssituation, die der faktischen Wirklichkeit, der Selbstbestätigung durch die Anerkennung der tatsächlich selbst geschaffenen Erfolge und vor allem jeglicher Lösungsoption diametral entgegensteht.

Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem aus Sicht breiter Bevölkerungsschichten Ostdeutschlands „der Westen“ an nahezu allem Unheil Schuld trägt – auch an Putin. Scheinbar fällt es vielen Menschen schwer zu glauben, dass sie bzw. ihre Eltern schlicht das Pech hatten, im falschen Sektor Restdeutschlands gelandet zu sein. Schuld am Krieg überhaupt hatte ganz Deutschland. Die Ostdeutschen traf nicht mehr und nicht weniger Schuld als die Westdeutschen, die durch Zufall in einem der anderen drei Sektoren gelandet waren. Auf der Strecke hatte Westdeutschland einfach die deutlich clevereren Besatzer, die sich mit dem zerbombten Haufen Schrott und Nazis, den sie da an der Backe hatten, wenigstens langfristig einen Demokratie- und selbstredend auch Handelspartner und Absatzmarkt schaffen wollten. Hat geklappt. So war das halt und ist nachträglich auch nicht zu ändern.

Es gab und gibt im Westen aber nicht nur Gewinner und im Osten nicht nur Verlierer. Kurios, dass man das überhaupt erwähnen muss. Weder vor noch nach der Wende ist entgegen weitverbreiteter Mythen auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik Geld vom Himmel gefallen. Und auch dort haben sehr viele Menschen ihre eigenen Probleme, leiden viele Landstriche an Landflucht, gibt es auch entvölkerte Dörfer, mangelhafte Infrastruktur, rückständige Digitalisierung, marode Schulen – und ja – es gibt sogar Menschen, die nichts erben oder nur Schulden. Was heute in den westlichen Ländern steht, ist nicht von selbst „auferstanden aus Ruinen“, sondern das Ergebnis sehr hart arbeitender Menschen. Ebenso wie die massiven Transferleistungen bis zum heutigen Tag, über die sich im Westen übrigens kaum jemand je beschwert hat.

Und dennoch lebt der Mythos fort, zu kurz gekommen zu sein. Im Vergleich zu wem? Und unterrepräsentiert auf allen möglichen Ebenen. Im Vergleich zu wem? Im Vergleich zu „den Westdeutschen“ im Allgemeinen? Alleine diese Rechenart ist ja schon entlarvend. Wer zählt denn in den alten Bundesländern die Vorstandsvorsitzenden aus Schleswig-Holstein? Sind die Rheinland-Pfälzer gemäß ihres Bevölkerungsanteils ausreichend in universitären Führungspositionen vertreten? Wie stark sind die Deutschen mit Migrationshintergrund in Führungspositionen repräsentiert? Diese gut 12 Millionen Mitbürger sind ja zahlenmäßig fast ebenso viele wie die in ostdeutschen Ländern lebenden. Die Bundesrepublik hatte schon einen ostdeutschen Bundespräsidenten und sechzehn Jahre lang eine ostdeutsche Bundeskanzlerin, die aber beide nicht zählen, weil sie sich – zu Recht – nicht als Opfer sehen wollten, sondern als Deutsche.

Es gibt nirgendwo auf der Welt einen Anspruch darauf, dass einem das gute Leben dort serviert wird, wo man gerade sitzt und wartet. Für junge Menschen gab und gibt es schon immer zwei Möglichkeiten: Entweder man schafft sich vor Ort ein gutes Leben mit Ideen und Tatkraft, oder man geht dorthin, wo es eine bessere Zukunft gibt. Junge Leute gehen auch fort, weil sie es wollen. Weil sie in der Stadt leben möchten oder in anderen Ländern, weil sie bessere Perspektiven für sich und ihre Lieben sehen und nicht sonderlich an ihrer Heimat hängen. Weil es ihnen in der Kleinstadt einfach zu piefig ist, zu konservativ oder zu rechts. Aber im Osten gehen junge Erwachsene angeblich nur fort, weil sie müssen. Alles – selbst der Aufstieg an anderen Orten als dem Geburtsort – wird in die Opfererzählung übersetzt.

Die bisherige Antwort der Regierenden aus Ost und West lief immer nach dem gleichen Schema ab: “We feel your pain. Ihr habt mehr Respekt verdient. Der Bundespräsident kommt jetzt auch mehrfach zur Therapiesitzung vorbei,” etc. Aber für viele Empfänger bestätigte das nur ihre Sicht der Dinge, dass der Westen ihnen alles kaputtgemacht hat – und es jetzt auch noch zugibt. Vielleicht müsste die Antwort eher lauten: “Get over it and get a life.”

Je mehr gelitten wurde, desto mehr Geld kam, und die Formel des Tages lautet: Je mehr Nazis, desto Chipfabrik. Das rätselhafte Ostleiden darf auch nur von gebürtigen Ostdeutschen analysiert und ggf. sogar kritisiert werden, da allen anderen Deutschen auch nach über drei Jahrzehnten im gleichen Staat keinerlei Meinung erlaubt ist – vermutlich aus Gründen der Cultural Appropriation. Das war den meisten Westdeutschen bisher auch relativ egal, da sie im Gegensatz zur häufig verbreiteten Legende nicht den ganzen Tag über den Osten lästern. Der Osten ist den meisten Westdeutschen ebenso egal wie Hessen oder Niedersachsen, wenn sie nicht gerade in Hessen oder Niedersachsen wohnen.

Jetzt jedoch haben wir einen Punkt erreicht, an dem aus dem Osten eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Demokratie in ganz Deutschland ausgeht. Denn der Osten und sein nahezu von allen – von ganz links bis ganz rechts und vielen dazwischen – befeuerter Opfermythos ist der ideale Nährboden für den Rechtspopulismus, wie wir ihn auch aus anderen Regionen der kleiner werdenden demokratischen Gemeinschaft kennen. In Kombination mit den nicht gefestigten demokratischen Strukturen und dem mit hoher Wirkkraft vorangegangenen Beschuss der unabhängigen Medien und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sorgt der Medienwandel für den Wegfall des Korrektivs einer funktionierenden freien Presse.

Lange konnte man sich damit trösten, dass doch immerhin 60-70-80% je nach Bundesland am Ende doch „demokratisch“ wählen. Aber von Wahl zu Wahl nimmt dieser Anteil ab. Und eine Partei wie das extrem unseriös argumentierende und auch finanzierte BSW durchbricht diese Regel eben nicht, sondern bestätigt sie.

Die zentrale Frage, die sich heute stellt, ist: Wie stabilisieren wir jetzt eigentlich diejenigen, die sich weder in DDR-Nostalgie, Faschismus noch nationalem Sozialismus wiederfinden? Die in den ostdeutschen Landesteilen ein gutes, normales, zufriedenes und auch glückliches Leben führen und lieber nach Griechenland reisen als zur Wolfsschanze?

Eine entscheidende Rolle kommt dabei denjenigen zu, die tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland angekommen sind – oder gar schon in ihr geboren wurden. Betrachtenswert ist ja, dass die Generation, die 1989/90 in der Mitte des Lebens stand und auch durch die Umbrüche der Nachwendezeit am stärksten geprägt wurde – also die damals 35- bis 50-Jährigen – heute 70 bis 85 Jahre zählt und längst in Rente oder bereits verstorben ist. Wer zur Wendezeit 15 Jahre alt war, ist heute 50 und hat nicht nur den Zusammenbruch, sondern eben auch massiven Aufschwung und viele neue Freiheiten erlebt – und häufig auch genossen. Und jetzt nähern wir uns der Zeit, in der es die DDR bald länger nicht mehr gibt, als es sie gab.

Solange der ewige Opfermythos auch noch von Generation zu Generation weitergetragen wird, wird sich nichts zum Besseren wenden. Und solange alle Probleme in den ostdeutschen Ländern mit dem Opfermythos erklärt werden, wird das Gift des Neids sich weiter ausbreiten. Für viele der immer wieder aufgeführten Probleme (Landflucht, geringe Industriedichte, zu wenige Universitäten, kaum größere Städte/Ballungsgebiete etc.) lassen sich vielfältige Erklärungen finden, die mit dem ostdeutschen Spezifikum wenig oder gar nichts zu tun haben.

Aber solange alles in die Opfer-Rahmenerzählung gequetscht wird – und was nicht passt, wird passend gemacht – kann es keine gute Zukunft geben. Die Befreiung des Ostens aus dem Opfermythos muss aus der Mitte der ostdeutschen Gesellschaft kommen.

Die Heilung des Ostens ist nicht delegierbar.

Regierung ohne Auftrag – Wahl ohne Ambitionen

Das Volk ist beschäftigt (Arbeit, Beziehung, Kita, Chef, Wäsche, Kinder, Geld, Hund) und möchte in Ruhe gelassen werden. Das ist ebenso verständlich wie gesellschaftlich ambitionslos. Aber vielleicht liegt der Hauptgrund der Reformskepsis an gegenseitigen Fehlinterpretationen des Wahlergebnisses von 2021 und seiner Ursachen. 

Da ich aktuell an einem Buchbeitrag zur Bundestagswahl 2021 schreibe, durchlaufe ich den Irrsinn dieses Wahlkampfes und seines Endspurts aufs Neue. 

Mit dem Wissens von heute über die Schwierigkeiten der Ampelregierung zwei Jahre nach dem Urnengang, drängt sich neben den offensichtlichen Gründen – also dem Angriffskrieg Russlands, Inflation, Energiestress, disharmonierende oder gar konträre Parteiprogramme, (verschleppte) Transformationsprozesse etc. – ein zusätzlicher auf: 

Diese Regierung hat vom Volk keinen nennenswerten Veränderungsauftrag erhalten.

Der Verlauf des Wahlkampfes macht dies sehr deutlich. Und das Ergebnis auch. 

Die gescheiterten Wahlkämpfe von Union und Grünen lenkten den Fokus der Bundestagswahl noch stärker auf die zur Auswahl stehenden Führungspersönlichkeiten als dies sowieso schon der Fall gewesen wäre. Eine bedeutende thematische Auseinandersetzung über die Zukunft der Bundesrepublik nach Angela Merkel fand nicht statt. Armin Laschet war in Nordrhein-Westfahlen vor allem deshalb Ministerpräsident geworden, weil er gerade kein erzkonservativer Polarisierer, sondern ein eher integrierender und auch sozialpolitisch orientierter CDU-Kandidat war. 

Sowohl in Verteilungs- als auch Integrationsfragen stand Laschet eher in der Tradition Merkels. Olaf Scholz wiederum war über die letzten Jahre Vizekanzler unter Angela Merkel, die SPD hatte von den sechzehn Jahren ihrer Amtszeit zwölf mehr oder weniger freiwillig an deren Seite verbracht. Auch hier war ein harte Polarisierung kaum möglich beziehungsweise glaubwürdig. Annalena Baerbock gab ebenfalls nicht vor, eine politische Revolution anführen zu wollen. Als erste Kanzlerkandidatin ihrer Partei mit dem Ziel 30% musste sie wesentlich breitere Wählerschichten ansprechen als den harten Kern der Grünen Wählerschaft. Nach dem dann völlig missglückten Auftakt übte sich die Grünen-Kampagne noch weiter in Zurückhaltung und versuchte, möglichst ohne weitere Verunfallungen ins Ziel zu kommen. 

Entsprechend ambitionslos verliefen die inhaltlichen Zuspitzungen des Wahlkampfes. Keine der drei führenden Parteien hatte ein Interesse daran, durch zu ehrgeizige inhaltliche Forderungen zu irritieren. Die erstmals stattfinden TV-Trielle – immerhin drei an der Zahl – zeigten die Kanzlerkandidaten in relativer Harmonie und die wenigen konkreten Themen – etwa der Mindestlohn-Vorstoß der SPD – boten keinen Anlass zur Dramatisierung. Ein verzweifelter Versuch der Union und ihrer Helfer:innen, noch einen Hauch von Rot-Rot-Grün-Debatte zu entfachen, lief ins Leere.

Am Ende zählte der alte Spruch: Auf den Kanzler kommt es an.
Im ZDF Politbarometer vom 17.9.2021 sprachen Olaf Scholz 67 % der Befragten die Eignung zum Bundeskanzler zu (nicht geeignet: 28 %). Armin Laschet hingegen hielten 67 % für nicht geeignet (geeignet 29 %), Annalena Barbock sogar 69 % (geeignet 26 %).
Noch im Juni lagen Laschet (47 %) und Scholz (49 %) bei dieser Frage der Amtseignung nahezu gleichauf, ihre Parteien aber deutlich auseinander (CDU/CSU 29 %; SPD 14 %, Grüne 22 % – ZDF Politbarometer vom 25.6.2021)

Dieser fulminante persönliche Vorsprung des SPD Kanzlerkandidaten hatte im September dann entsprechende Auswirkungen auf die Sonntagsfrage (SPD 25 %, CDU/CSU 22 %, Grüne 16 %) – aber auch auf die Themen, die von den Befragten als die bedeutendsten genannt wurden. Hier nannten 53 % die soziale Gerechtigkeit, 43 % den Klimaschutz und 25 % das Thema Migration. Man kann in diesem Fall also davon ausgehen, dass Olaf Scholz nicht nur seine Partei sondern auch deren stärkstes Thema nach vorne zog. 

Realistisch betrachtet hatte die Bundestagswahl 2021 aber kein bedeutendes Thema. Selbst die schreckliche Flutkatastrophe vom Juli traf auf eine Bevölkerung, die zu 86 % sowieso schon den Klimawandel als ein großes Problem für Deutschland einordnete und zu 63 % diese konkrete Flutkatastrophe auch direkt dem Klimawandel und seinen Folgen zuordnete (ZDF Politbarometer vom 30.7.2021). Darüber bestand also breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens.

Die Bundestagswahl 2021 wurde eine Persönlichkeitswahl.
Sie war keine Richtungswahl. 

Das ist keine Kritik – sondern ein Fakt. Die Kandidaten Laschet und Baerbock hatten sich aus Sicht der Wählerinnen und Wähler im Verlauf des Wahlkampfes selbst disqualifiziert. Olaf Scholz wurde einmal mehr in seiner Karriere nicht geliebt, aber gewählt. Er hatte sich in einem turbulenten Wahlkampf als sichere und verlässliche Führungspersönlichkeit erwiesen. Seine thematisch weitgehend konfliktfreie Basispositionierung machten ihn und seine Partei für Wechselwähler anschlussfähig. 

Aus dem Ergebnis der Bundestagswahl 2021 formulierten die sich dann später zusammenfindenden Ampel-Parteien den Anspruch, eine Fortschritts-Koalition zu bilden. Der Verlauf des Wahlkampfes lässt daran zweifeln, dass dies ein Wählerwunsch war. Eher liegt die Vermutung nahe, dass viele Wähler:innen eigentlich ein „Weiter so“ wie mit Merkel wünschten – nur eben mit Olaf Scholz und der SPD diesmal auf Platz 1 und der Union auf Platz 2. 

In über 16 Jahren hatten die Deutschen gelernt, dass sie am besten damit fahren, wenn der Fortschritt eine Schnecke ist und die Politik nicht weiter stört.

Das verstärkt die Probleme der Ampel heute nur noch mehr – denn neben den programmatischen Unwuchten zwischen den Koalitionspartnern, müssen diese der Bevölkerung massive Transformationsprozesse zumuten – ohne dass die Bevölkerung im Wahlkampf darauf vorbereitet worden wäre oder gar ihr Votum damit verbunden hätte.

Das Volk ist beschäftigt (Arbeit, Beziehung, Kita, Chef, Wäsche, Kinder, Geld, Hund) und möchte in Ruhe gelassen werden. Das ist ebenso verständlich wie gesellschaftlich ambitionslos. Nun ist Ambitionslosigkeit per se ja nichts Schlechtes. Sie führt nur zu nichts und lädt befreundete wie nicht befreundete Nationen dazu ein, vorbeizuziehen.

Deutschland war und wurde durch nichts auf die bestehenden Schwierigkeiten und Dimensionen der Transformationsprozesse vorbereitet – von denen nur einige Folgen des Krieges sind. Das liegt natürlich auch daran, dass viele Menschen darauf nicht vorbereitet werden wollten. Aber das ist ein anderes Thema.

Die Folgen für die Politik sind aber entscheidend: 

Wer in diesem Umfeld führen will, muss sehr viel erklären, behutsam vorgehen und ständig motivieren.

Mit Überrumpelungstaktik kommt man da nicht weiter – und mit Kleinparteienstaaterei erst recht nicht. Besser ist es, man setzt erstmal nichts voraus und erklärt immer wieder von neuem, warum diese nächste Reform ganz konkreten Nutzen bringt. Enjoy!

DIE WOKE WÄRMEPUMPE

Wir schreiben das Jahr 2023 und die Entscheidung für eine Heizungstechnologie bestimmt den politischen Gradmesser zwischen Wokeness und AfD-Nähe. Willkommen im gesellschaftlichen Drama des Wärme-Wahnsinns um woke Wärmepumpen, verlotterte Diskurse, verwirrte Wähler.

Wer wissen will, wie sehr der Heizungswahnsinn Deutschland erfasst hat, dem lege ich den Artikel „In einem aufgeheizten Land“ auf der Seite 3 der Süddeutschen Zeitung vom 3.6.2023 ans Herzen. Darin begleitet Autor Jan Schmidbauer einen gutwilligen, gestandenen und nervenstarken Heizungsinstallateur auf seinen Beratungsterminen. Aus nachvollziehbaren Gründen empfiehlt er sowohl einem jungen Paar, einer älteren Dame als auch einem Bauern und dessen Sohn den Einbau einer Luft-Wärmepumpe, je nach Gegebenheit ergänzt durch Photovoltaik und weiteren Maßnahmen zur Energiegewinnung oder -einsparung. In allen drei Fällen wäre der Einbau einer Wärmepumpe technisch kein Problem. In jedem Fall führten diese Maßnahmen zu einer deutlichen Wertsteigerung der Immobilie bei gleichzeitiger Senkung der Betriebskosten. Zwei von drei entscheiden sich an diesem Tag dann für eine Gasheizung, der dritte für eine Ölheizung. 

Mit ihrer Entscheidung reduzieren sowohl die ältere Dame als auch das junge Paar – bei beiden ist die bestehende Heizung kaputt, sie brauchen also so oder so eine neue – den Wert ihrer Immobilie um geschätzte 50.000 EUR  – statt ihn um 50.000 EUR zu steigern. Denn wohl dem, der heute schon ein Haus mit einer modernen Heizung hat. Den Bauern mit der Ölheizung bzw. seinen Sohn werden wir dann in spätestens zehn Jahren auf einer Demo gegen die EU und die explodierenden Heizöl-Kosten wieder treffen.

Eine nicht minder ernüchternde Anekdote des Heizungsmonteurs: Nach dem Einbau einer Luft-Wärmepumpe in einem Neubauobjekt habe sich der Nachbar in den Tagen danach über die Lärmbelästigung beschwert. Zu einem Zeitpunkt, als der Monteur die Heizung noch gar nicht angeschaltet hatte. 

Umweltschutz und Klimawandel spielten bei der Entscheidung keine Rolle – auch nicht bei den jungen Eltern. Eher drängt sich der Verdacht auf, dass die Wahl der (Alt-)Technologien ideologiegetrieben waren.

Willkommen im Deutschland des Jahres 2023, in dem eine Luft-Wärmepumpe Zeichen von Wokeness zu sein scheint und man lieber dem Habeck eines auswischt, als sich selbst und seinen Nachkommen etwas Gutes zu tun.

Wie konnte es soweit kommen und wer treibt diesen Irrsinn, der Menschen zu offensichtlichen und kostenintensiven Fehlentscheidungen animiert, eigentlich an? 

Das Wärmepumpen-Desaster ist nur ein Aspekt eines verlotterten politischen Diskurses bei gleichzeitigem Click-Bait-Kalkül vieler Medienhäuser im Augenblick höchster Verunsicherung der Öffentlichkeit angesichts multipler Krisen, einer verkrachten Regierung und einer Opposition, die ihre Orientierungslosigkeit mit populistischer Rhetorik zu kaschieren versucht.

Die Mischung macht’s. Und diese Mischung ist toxisch.

Denn sie erfüllt alle Voraussetzungen für eine Abwärtsspirale im gesellschaftlichen Diskurs, die schwer wenn überhaupt wieder umzukehren ist.

Beginnen wir bei Punkt 1: Der verlotterte politische Diskurs

Kein verantwortungsvoll handelnder Akteur kann ein Interesse daran haben, dass Immobilienbesitzer im Jahre 2023, 2024 und erst recht nicht in den folgenden Jahren, neue Heizungen einbauen bzw. alte ersetzen, die maßgeblich oder sogar ausschließlich mit fossilen Brennstoffen betrieben werden. 

Selbst wenn man der Meinung ist, dass man dies nur dringend empfehlen und nicht gesetzlich vorschreiben sollte, muss die Empfehlung immer lauten: 

„Liebe Leute, baut keine neuen Gas- oder Ölheizungen ein, sondern setzt auf Wärmepumpen, Solar und Photovoltaik – sowie auf alle Alternativen, die bei euch in der Region zur Verfügung stehen. Zu eurem eigenen Nutzen. Ihr schadet euch, dem Wert eurer Immobilie und ganz nebenbei auch noch der Umwelt, wenn ihr das anders macht.“ – Mit freundlichen Grüßen CDU/CSU, FDP, SPD, Grüne, Linke, FW.

Was wir stattdessen zu hören und sehen bekommen sind substanzlose Phantasien von E-Fuels, angeblicher Technologieoffenheit (FDP) und einem „Heizungs-Hammer“ (CDU/BILD). Die CDU sammelt sogar Unterschriften mit der Argumentation „Dieser Heizungs-Hammer trifft die Menschen mit voller Wucht. Viele haben Angst …“ Eine Angst, welche die Partei wider besseren Wissens selbst schürt. 

In der CDU-Kampagne findet sich kein einziger Hinweis darauf, dass es grundsätzlich schon sehr sinnvoll wäre, auf erneuerbare Energien umzusteigen.

Es findet sich auch kein Hinweis darauf, dass in dem bisherigen Entwurf nur irreparabel defekte Heizungen in Bestandsbauten und Neubauten betroffen sind. Was bedeutet, dass alle mit einer funktionierenden Heizung sich sowieso um gar nichts kümmern müssen und diese auch erst ersetzen müssen, wenn sie nicht mehr repariert werden kann – also dann, wenn sie sowieso eine neue Heizung brauchen. Wie bisher warten Häuslebesitzer also darauf, dass irgendwann einmal die Heizung den Geist aufgibt. Ob das in 5, 10, 15 oder 20 Jahren ist. Und dann kauft man wie bisher eine neue. Und wählt aus dem dann verfügbaren Angebot. 

Stattdessen weisen eigentlich wirtschaftsfreundliche Parteien ihrer eigenen Klientel einen Weg, der wie in dem erwähnten Artikel zu einer offensichtlichen Wertevernichtung führt.

Punkt 2: Der mediale Click-Bait-Hammer

Überschriften, die bei diesem aber auch anderen Themen mit bewusst verzerrten oder ins groteske verkehrten „Informationen“ arbeiten, betreffen nicht nur die BILD. Sie sind allgegenwärtig.

Besonders der Hinweis darauf, dass es hier nicht um ein Verbot bestehender Heizungen geht, wird nicht nur in der Headline sondern gerne auch im Text selbst unterschlagen. Sehr ähnlich wie schon beim angeblichen EU-weiten „Verbrennerverbot“ 2035, bei dem es ausschließlich um die NEUZULASSUNG von Fahrzeugen geht. In mehr als einem Jahrzehnt werden also keine Verbrenner mehr neu zugelassen. Keiner muss seine zuvor erworbene Möhre aufgeben, sondern kann sie fahren, bis sie ihm unter dem Hintern wegrostet.

Aber die Erfahrung zeigt: Wer Aufregung schürt, erhält Aufmerksamkeit.

Dass diese aufregende bis verhetzende Methode vor allem unvollständige oder „Alternative Wahrheiten“ produziert und damit den Diskurs in einer Gesellschaft vergiftet – das ist der Preis, den wir am Ende alle zahlen.

Punkt 3: Multiple Krisen und eine verkrachte Regierung.

Wer diesem Blog folgt weiß, dass die zentrale Aufgabe einer Regierung in Zeiten multipler Krisen darin besteht, Orientierung und Halt zu bieten. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Die Folgen: Vertrauensverluste für ausnahmslos alle demokratischen Akteure und Institutionen auf breiter Ebene.

Das Vertrauen in die politische Führung Deutschlands erodiert und ist gleichzeitig hoch volatil. Politiker:innen werden in bisher nicht gekanntem Ausmaß in der Beliebtheit nach oben katapultiert, nur um wenige Monate später das Schlusslicht zu bilden. Baerbock, Spahn, Habeck, Lauterbach – es ist ein einzige Achterbahnfahrt. 

Sehr deutlich wird dies in den seit Jahrzehnten erhobenen Daten der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF. Zum Beispiel bei der Bewertung der Spitzenpolitiker:innen. Über die letzten dreißig Jahre notierten dort selbst mäßig beliebte Politiker:innen fast durchgehend im deutlich positiven Bereich auf einer Skala von +5  bis -5. Ein ordentlicher Mittelwert lag bei etwa 1.0, ein Spitzenwert bei 2.0. Eher schlecht bewertet wurde man mit 0,5.

Angela Merkel notierte zum Ende ihrer Amtszeit im Mai 2021 bei +2,2, Olaf Scholz landete bei +1,0 das Schlusslicht bildete Christian Lindner mit 0,0. Niemand in der Top 10 notierte negativ. Der Bundesregierung attestierten 62% der Befragten, einen „guten Job“ zu machen. (Politbarometer KW 18 2021). Diese ungefähre Bandbreite der Werte hatten über fast drei Jahrzehnte Bestand. Aber nicht mehr in den letzten Monaten.

Im Mai 2023 attestiert nur eine Minderheit von 41% der Bundesregierung eine gute Arbeit. Die Top 10 der Politiker:innen sinkt schon nach dem 3. Platz in den negativen Bereich (1. Pistorius +1,7;  2. Scholz +0,5, 3. Baerbock 0,0.). Die Repräsentant:innen der Opposition profitieren im Gegenzug nicht von dem schlechten Erscheinungsbild der Bundesregierung. Oppositionsführer Merz landet mit -0,3 noch vor Söder (-0,4). Einstmalige Spitzenreiter wie Lauterbach (-0,1) oder Habeck (-0,6) werden nach unten durchgereicht. Deutliches Schlusslicht ist Frau Wagenknecht mit -1,4.

Diese und noch viele weitere Daten bezeugen, dass zwischen 2021 und 2023 ein deutlicher Vertrauensverlust in die handelnden Akteure an der Spitze von Regierung und Opposition stattfand.

Merz, Söder und auch mal wieder Spahn suchen nun ihr Heil einmal mehr am rechten Rand der Rhetorik und bedienen sich dem beliebten AfD-Sprech vom Heizungs-, Gender-, Migrations-Wahnsinn. 

Wie schon so oft bewiesen – nicht nur in Deutschland – gewinnen sie damit nichts, stärken aber die AfD. 

Die FDP versucht sich weiter an dem in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mehrfach gescheiterten Weg der Opposition in der Koalition, die Grünen irrlichtern, reflektieren und reagieren weiter glücklos kommunikativ und die SPD versucht sich mal wieder darin, es allen und damit niemandem recht zu machen.

Na, herzlichen Glückwunsch uns allen.

Noch erweist sich Deutschland als relativ stabil in Bezug auf einen ausufernden Populismus. Aber die Entwicklung ist keine Gute – die Richtung falsch und die Konsequenzen bedrohlich.

So, ich gehe jetzt wieder in den Keller und streichle unsere Luft-Wärme-Pumpe, die aktuell im Sommerschlaf ruht, aber dennoch etwas Liebe und Zuneigung verdient hat. Sie arbeitet seit 2007 verlässlich in unserer Reihenhaussiedlung und leidet an dem Maß an Mißtrauen, Ausgrenzung und Häme, das ihr zur Zeit entgegenschlägt.