Die Stagnatikerin

Was Bundeskanzlerin Merkel in ihrer vierten Amtszeit anstrebt, hat mit Pragmatismus absolut nichts mehr zu tun. Es ist plumpes Taktieren, pure Stagnation und besorgniserregende Realitätsverweigerung.
Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass diese Kanzlerin absolut nichts mehr antreibt als das eigene Überleben im Amt, dann sollte man sich einfach nur ihr völlig missglücktes Sommerinterview ansehen. Im Vorfeld hatte sie mit Erzfeind Seehofer ein paar Wordings abstimmen lassen, damit wenigstens diese Front nicht schon wieder aufreißt. Ihr Ziel war es, Seehofer zu befrieden, und nicht das Land zu regieren. Um dieses Zieles willen, ließ sie ihren (eigentlichen) Parteifreund, den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein (go, google him) eiskalt auflaufen.

Das Argument, gut ausgebildete Flüchtlinge, müsse man trotz Fachkräftemangels zurückschicken, weil sie sonst nur noch mehr Flüchtlinge anlocken würden, ist mit nichts einfacher zu widerlegen, als mit einer Stichtagsregelung. Von mir aus mit dem 31.12.2016. Denn in 2015 und 2016 hat die Politik an viele Mittelständler und die Wirtschaft dringend appelliert, Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Asylbewerber zu schaffen, um die Integration zu erleichtern. Heute lässt Merkel diese Leute im Regen stehen. Mittelständler und Unternehmer, die nichts anderes gemacht haben, als dem Appell der Bundesregierung und der Kanzlerin zu folgen, können heute zusehen, wie ihre Kolleginnen und Kollegen, in die sie viel Herzblut, Einsatz und auch Geld investiert haben, die Koffer packen müssen.

Es ist wie bei der Ehe für Alle, die Merkel erst verbal einführen wollte, um dann tatsächlich im deutschen Bundestag mit Nein zu stimmen. Man kann das Taktik nennen, Strategie, Unverschämtheit oder das, was es ist: Verlogenheit und ein Förderprogramm für Politikverdrossenheit.

Als Höhepunkt ihres Auftakts ins Nichts, wurde von Merkel in ihrem Sommerinterview jede Initiative, die Renten über das Jahr 2025 hinaus zu sichern, als verantwortungslose Panikmache gebrandmarkt. 2025. Das ist übermorgen. Die Unsicherheit ist längst da und kriecht durch die gewaltig große Generation der Babyboomer, die noch vor der Pille auf die Welt kamen, aber nach der Pille nicht mehr unkontrolliert Kinder in die Welt setzten. Es ist die Generation der 50-55-Jährigen. Und überraschenderweise exakt die Generation, in der wir seit Jahren den höchsten Grad an Verunsicherung messen – unabhängig vom gegenwärtigen Wohlstand.

Und das überrascht nicht. Verunsichert sind nämlich nicht die heutigen Rentner und auch nicht die, die in den nächsten 10 Jahren in Rente gehen. Verunsichert sind vor allem die, die in den nächsten 20-25 Jahren in Rente gehen. Denn sie bewegen mehrere Faktoren:

1. Die Frage, wie weit ihr Arbeitsplatz in Zeiten der Digitalisierung weiter Bestand haben wird.
2. Die Frage, wie sie sich um ihre immer älter werdenden Eltern und ihre Kinder im Teenage-Alter kümmern sollen, während gleichzeitig die Anforderungen im Beruf weiter wachsen.
3. Die Frage, wie steigende Mieten in den Ballungsräumen oder auch Werteverfall von Eigentum auf dem Land in Zukunft zu bewältigen sind.

Warum die Jüngeren nicht so beunruhigt sind, obwohl sie mitten in diesem Umbruch in die Arbeitswelt vorstoßen? Nun, weil sie jung sind. Weil sie gefragt sind und in einer Phase aufwachsen, in der sich viele von ihnen die Arbeit aussuchen können und nicht umgekehrt. Außerdem sehen junge Menschen noch jede Menge Chancen, ihr Leben frei gestalten zu können, während sich diese Freiheit und auch Unbekümmertheit ab einem gewissen Alter legt. Auch, weil man mit 50 meist erkennen muss, doch nicht mehr Superstar, Tenor, InfluencerIn, AbteilungsleiterIn oder Ballerina werden zu können.

Nicht jede der Sorgen der Babyboomer ist begründet. Und jeder von uns hat sich an vielen Stellen auch schon unbegründet Sorgen gemacht. Aber gleichzeitig waren die Umbrüche der Arbeitswelt, der globalen Vernetzung und des demografischen Wandels in den vergangenen 50 Jahren noch nie so massiv wie heute – zumindest für den Westen Deutschlands. Der Osten erfährt wiederum die zweite Phase massiver Veränderung innerhalb von 30 Jahren. Was auch dortige noch stärkere Populismustendenzen erklärt, wenn auch nicht entschuldigt.

Es ehrt daher den Koalitionspartner, wenn er dieses Thema jetzt massiver in die jetzige Regierung einbringt. Wenn es der Anspruch dieser Regierung sein sollte, nach dem späten Start (wir erinnern uns an die Arbeitsverweigerung der FDP), jetzt Lösungen über den Tag hinaus auf den Weg zu bringen, dann sollte das auch das Ziel der Kanzlerin sein.

Es ist aber nicht ihr Ziel. Für unsere Kanzlerin ist das Nachdenken über eine der zentralen Säulen unseres sozialen Zusammenhalts über die nächsten 6 Jahre hinaus, das Schüren von Ängsten. Zumindest bis zur Bayernwahl. Und dann bis zur Europawahl und dann bis zur nächsten Landtagswahl und der übernächsten. Ab wann will Merkel eigentlich regieren?

Eine Kanzlerin der Stagnation ist der eigentliche Anlass, besorgt zu sein.

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Dieser Beitrag erscheint auch auf richelstauss.de

Verunsicherung trifft auf Verunsicherte – Ein Beitrag zur Erneuerungsdebatte der SPD

So, der Urlaub ist vorbei und die Sondierungsgespräche auch. Zu beidem gäbe es viel zu sagen, aber in das für mich noch neue Arbeitsjahr starte ich erst einmal mit einem Beitrag, der Ende 2017 für die Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte entstanden ist und dort soeben auch online veröffentlicht wurde.  Mehr zur Zukunftsdebatte der SPD gibt es ausserdem direkt bei der Neuen Gesellschaft-Frankfurter Hefte:

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Verunsicherung trifft auf Verunsicherte

Leicht modifizierte und erweiterte Fassung vom 14.1.2018

Auf der Suche nach Erklärungsmustern für die totalitären Tendenzen in den ostdeutschen Bundesländern oder den ebenso jungen Demokratien in Osteuropa, wird häufig auf den Veränderungsdruck verwiesen, den die Menschen im ehemaligen Ostblock im Zuge der Demokratisierung nach westlicher Machart hätten durchlaufen müssen. Da ist sicher etwas dran. Es erklärt aber nicht die ähnlichen Tendenzen in Österreich, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Italien und weiteren Ländern mit klassisch westlicher Prägung, einschließlich ihrer sozialen Sicherungssysteme. Eine Übertragung der Theorie auf die USA ist noch schwieriger. Auch aus der wirtschaftlichen Situation lässt sich wenig ableiten. Die ökonomischen Kennzahlen in Österreich sind ebenso hervorragend wie in Deutschland und die USA erlebten zur Wahl Donald Trumps bereits spürbar einen Konjunkturaufschwung mit stark sinkender Arbeitslosigkeit.

Stellt sich die Frage, warum viele Leute verhältnismäßig schlecht drauf sind, obwohl es ihnen in den meisten Fällen so gut geht wie selten zuvor in der Geschichte, auch der jüngeren. Für das weltweit beneidete und hochstabile Deutschland im Jahre acht eines Daueraufschwungs am Rande der Vollbeschäftigung stellt sich diese Frage erst recht. Aus diesem Grund werden seit Jahren aufwendige Studien durchgeführt, die nach Antworten suchen. Diese stellen das Bauchgefühl einiger traditioneller Sozialdemokraten eindeutig infrage. Gerade deshalb sollte man ihnen vielleicht etwas mehr Beachtung schenken, v. a. angesichts einer Niederlagenserie der deutschen Sozialdemokratie, die bereits über ein Jahrzehnt andauert.

Kurz zusammengefasst lautet die Analyse, die ich aus zahlreichen Fokusgruppen, quantitativen Studien und öffentlich zugänglichen Materialien ableite: Die SPD hat weder ein Gerechtigkeits- noch ein Wirtschaftskompetenzdefizit. Sie hat ein Zukunftsdefizit, ein Modernitätsdefizit. Man traut ihr nichts zu, weil sie selbst mindestens ebenso verunsichert in die Zukunft blickt wie die Wähler/innen. Die SPD strahlt keine Kraft und keinen Mut aus, die Zukunft gestalten zu können. Sie ist in einer Mischung aus visionsbefreitem Pragmatismus und selbstreferenziellem, rückwärtsgerichtetem Sozialismus verblasst. Die Partei verschwindet einfach. Nicht eine einzige Debatte wird in Deutschland geführt, weil sie von der Sozialdemokratie auf die Agenda gesetzt wurde. Sie reagiert nur noch auf die Agenden, die von anderen zusammengestellt wurden.

Wie lauteten also die Erkenntnisse der letzten Jahre, die so konsequent ignoriert wurden, und aus denen man so viel mehr hätte machen können?
Beginnen wir mit den Wähler/innen und bleiben dabei in Deutschland. Es mag sein, dass manche Ostdeutsche seit über einem Vierteljahrhundert versuchen irgendwo anzukommen – es ist aber auch so, dass die meisten von ihnen schon längst verstanden haben, dass die Welt sich weiterdreht. Damit befinden sie sich in einer ähnlichen Situation wie die meisten Westdeutschen.

Den Deutschen geht es insgesamt finanziell gut. Man spürt keinen Mangel, die Kinder haben Zugang zu guter Bildung, man erfährt eine medizinische Betreuung auf weltweit höchstem Niveau, man kann sich auf einen demokratischen Rechtsstaat mit funktionierender Gewaltenteilung verlassen, reist viel und empfindet Europa grundsätzlich als eine prima Sache. Etwa drei Viertel der Bevölkerung und damit etwa 90 % derjenigen, die wählen gehen, sehen das so.

Kommen wir zum Veränderungsdruck, der alle eint. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, in Anbetracht dessen die industrielle Revolution ein vergleichsweise schleichender Prozess war. Alleine das Smartphone hat das Leben der Menschen und ihren Alltag so dramatisch verändert, wie kaum eine Erfindung zuvor. Die technologische Entwicklung seit dem Amtsantritt des letzten sozialdemokratischen Kanzlers vor zwei Jahrzehnten war atemberaubend. Mit allen Konsequenzen für das Arbeitsleben, den Medienkonsum, das Privatleben und die globale Vernetzung. Unser Alltag wurde bis in den kleinsten Winkel hinein auf den Kopf gestellt.
Vor allem aber erleben wir, dass sich viele Menschen in einem nervösen Dauerzustand befinden. Viele verspüren zudem einen permanenten Veränderungsdruck.

Allein in den letzten zehn Jahren durchlebten die Menschen in Deutschland eine massive Konjunkturkrise (2009) mit langen Kurzarbeitsphasen bis hinein in die Boomregionen von Bayern und Baden-Württemberg. Sie erlebten die Eurokrise, die in Kombination mit der weltweiten Rezession zu Dauerniedrigzinsen und dem Niedergang der Lebensversicherungen führte. Sie erlebten eine massive Binnenmigration mit einer regelrechten Landflucht junger Leute in die Ballungszentren und Boomstädte. Die Folgen waren auf beiden Seiten gravierend: Ausdünnung, Ladenschließungen, ÖPNV-, Schul- und Kitaabbau und damit Vergreisung auf der einen Seite – explodierende Mieten, Gentrifizierung, Überlastung der Infrastruktur, Schul- und Kitamangel sowie Bauboom und Dauerbaustellen auf der anderen.

Diese im Alltag aller Menschen spürbaren Veränderungen werden nun noch durch erste Auswirkungen der technologischen Entwicklung auf die Zukunftsfähigkeit der deutschen Schlüsselindustrien und Symbole des Wohlstands verstärkt. Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank, Volkswagen, KarstadtQuelle – Symbole des Wohlstands durchleben Krisen oder verschwinden gleich ganz vom Markt. Die Dieselkrise führt zu einer zusätzlichen und direkt erlebten Verunsicherung. Werden die Produkte von BMW, Daimler Benz, Audi, Porsche, Volkswagen bald zu Auslaufmodellen oder sogar mit dem Makel eines Fahrverbotes in Ballungszentren im In- und Ausland versehen?

Und im Privatleben spüren die Menschen auch einen permanenten Kommunikationsdruck und deutlich gestiegene Erwartungen an Erreichbarkeit, Erziehung, Ernährung, Sozialverhalten und digitale Kompetenz. Hinzu kommen die gesellschaftlichen Veränderungen, die manche mehr irritieren als andere. Stichworte hierfür sind: Emanzipation, Ehe für alle, Patchwork, Internationalisierung der Gesellschaft. Ferner erleben wir die Folgen des Klimawandels nun auch in Deutschland und Europa und kennen ihn nicht mehr nur aus Berichten von fernen Ländern. Zudem stellen die Fluchtbewegungen nach Deutschland und deren Höhepunkt in 2015/16 neue Herausforderungen dar.
Aber schon vorher stand fest: Alles ist in Bewegung. Planbarkeit wird schwieriger. Zukunftsszenarien werden immer schneller zur Realität.

Auf Veränderungen kann man auf dreierlei Art reagieren: Man bleibt auf die Gegenwart fixiert und verteidigt den Status quo, man idealisiert reaktionär das Gestern und flüchtet sich in die Vergangenheit oder man gestaltet aktiv die Zukunft.

Unter dem Vorsitzenden Sigmar Gabriel wurde entschieden, die SPD in diesem turbulenten Umfeld als Anker entlang des Frames »Sicherheit« zu positionieren, hinsichtlich innerer, sozialer, wirtschaftlicher, finanzieller und äußerer Sicherheit. Das entspricht vordergründig der Erwartungshaltung der Mehrheitsgesellschaft. Faktisch ist es aber das Todesurteil für die SPD als progressive Kraft.

Der Sicherheitsframe ist ein zutiefst konservativer Rahmen. Die SPD begibt sich damit in direkte Unterwürfigkeit zur CDU/CSU, kann diese aber auf dem konservativen Stammterritorium niemals schlagen. Sie spielt auf diesem Feld von Beginn an nicht mehr auf Sieg, sondern nur noch auf Platz.

Gleichzeitig verstärkt sie durch die Übernahme des Sicherheitsframes die Unsicherheitsgefühle in der Bevölkerung und verliert so zusätzlich an die reaktionären Kräfte, die sich in der AfD und Teilen der Linkspartei organisieren. Aufgerieben und orientierungslos enttäuscht die SPD in diesem Gleichschritt zur Union auch noch die letzten Progressiven in den eigenen Reihen, die sich geradezu gezwungen fühlen, Zukunftsthemen bei anderen Parteien wie u. a. den GRÜNEN oder der FDP zu suchen. Übrig bleiben aktuell 20 %.

Natürlich haben die Probleme auch mit der Bewegung der Union nach mitte-links unter Angela Merkel zu tun. Aber nur darauf zu warten bzw. zu hoffen, dass nach Merkel die Union wieder nach rechts rutscht, macht die SPD nicht automatisch attraktiver.

Die SPD verneint mit dem Sicherheitsversprechen ihre eigene Geschichte als Kraft, die Zukunft gestalten und prägen will. Sie verneint einen Gestaltungswillen, der sich von der Gründung über die Vision von einem geeinten Europa, einer demokratischeren Gesellschaft, einer neuen Ostpolitik, einem modernen Deutschland bis hin zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen der rot-grünen Bundesregierung zeigte.

Die Zukunft gestalten, Deutschland entlang der Grundüberzeugungen der Sozialdemokratie immer besser machen zu wollen – also sozialer, internationaler, friedlicher, offener, erfolgreicher und toleranter – das ist die Geschichte der SPD.

Irgendwann kam jemand auf die Idee, aus der SPD die »Schutzmacht der ›kleinen Leute‹ zu machen«. Vielleicht machte das 1960 einmal Sinn, heute nicht mehr. Dafür gibt es zu wenige »kleine Leute«. Und von diesen wollen noch weniger von einer Partei beschützt werden. Die SPD hat sich damit selbst verzwergt. Aber sie geht diesen paternalistischen Weg konsequent weiter und stalked weiter Menschen, die von ihr gefälligst beschützt werden sollen. Dabei wissen wir aus der Sozialforschung, dass gerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stolz auf ihre eigene Leistung sind – egal, ob diese in der Fabrik, im Handwerk, an der Kasse, in der Pflege oder im Warenlager erbracht wird. Sie wollen, dass ihnen keine Steine in den Weg gelegt werden, sie wollen nicht benachteiligt werden und freuen sich, wenn man ihnen das Leben an der ein oder anderen Stelle leichter macht. Aber sie wollen auf gar keinen Fall an die Hand genommen, „gerettet“ oder bevormundet werden. Vom Staat nicht und schon gar nicht von einer Partei.

Im Bundestagswahlkampf 2017 hat die SPD in ihrem Wahn, sich immer weiter einem vermeintlich »kleinen Mann von der Straße« anbiedern zu müssen, aus einem Kandidaten, der als international anerkannter Staatsmann auf oberster Ebene gestartet war, den Bürgermeister eines Mittelzentrums gemacht. Das muss man erst einmal schaffen.

Ja, die SPD soll Politik für die Schwachen im Land machen. Das sehen sehr viele Menschen so. Es gibt in Deutschland eine große Mehrheit, die in einer sozial ausgeglichenen, modernen und erfolgreichen Gesellschaft leben will. Doch wenn über 70 % der Menschen angeben, dass es ihnen finanziell gut gehe, dann sollte man ihnen das nicht ausreden wollen. Um die übrigen – von denen nur eine Minderheit wählen geht – streitet sich die SPD dann mit der Linkspartei, der AfD, und der CDU/CSU. Da kann nicht viel übrig bleiben. Und bleibt es ja auch nicht.

Zukunft ist nie sicher, da sie ja in der Zukunft liegt. Aber die Menschen haben sehr wohl ein Gespür dafür, ob eine Gesellschaft, eine Wirtschaft, eine Gemeinschaft und auch eine Partei zukunftsfähig und zukunftsorientiert ist.

Die SPD hat die Chance, sich inhaltlich, personell und organisatorisch auf den Wahlkampf 2017 vorzubereiten über mindestens vier Jahre – eher sogar über acht jahre völlig vertan. Am 24. Januar 2017 folgte erneut – zum zweiten Mal unter Gabriel – eine überhastete und entsprechend unvorbereitete Kandidatenkür und die inhaltliche Substanz war nach fünf Wochen verbraucht – sofern sie überhaupt erarbeitet war.
Aber eine echte Chance hatte die SPD spätestens seit Mitte 2016 nicht mehr. Denn bis dahin hätte ihre inhaltliche Neuaufstellung spätestens abgeschlossen sein müssen, um einen fundierten Wahlkampf mit neuen Konzepten und Ideen führen zu können. Einen Wahlkampf um die Zukunft – nicht um den Status quo. Niemand kann Status quo besser als die Konservativen.

In bisher gut 30 Wahlkämpfen lernt man viel über die sich zunehmend verändernde Wählerschaft. Und über heutige kulturelle Trennlinien und Werteorientierungen, die zum Teil bisherige soziodemografische Grenzen überlagern. Hierzu zählen die Einstellungen zu Europa, zum Umweltschutz, zur Digitalisierung und Einwanderung, zum Sozialstaat und Zusammenhalt, zur Globalisierung, zu Frauenrechten und zum Minderheitenschutz. Dies führt zu Verschiebungen in der bisherigen Wählerschaft, bisweilen auch zum Aufkommen neuer oder dem Untergang alter Parteien. Wenn sich in der Gesellschaft vieles rasant verändert, ist nichts mehr sicher.

Man kann in Deutschland jedoch auch mit einer modernen, sozialen und proeuropäischen Haltung ein Momentum schaffen, wenn man es konsequent und klug anstellt. Das kurze Aufflackern nach der Nominierung von Martin Schulz Anfang 2017 hat dieses Potenzial gezeigt. Die inhaltliche und personelle Selbstdemontage folgte dann auf dem Fuß und endete in der Verknappung auf Gerechtigkeit, Sicherheit und dem »Ich bin doch einer von euch«-Mantra. Das Kuriose am Zustand der SPD liegt darin, dass sie eigentlich nur Zukunftsfragen entlang ihres traditionellen Wertekanons beantworten müsste, um neue Wähler/innen zu erreichen. Die fulminanten Erfolge von Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz, Olaf Scholz in Hamburg oder zuletzt auch Stephan Weil in Niedersachsen unterstreichen dies in der Praxis.

Die beiden dominierenden Herausforderungen der kommenden Jahre lauten: die Zukunft Europas und die Zukunft der Arbeit. Das sind klassisch sozialdemokratische Themen und gleichzeitig entscheidende Zukunftsthemen. Besser kann man es eigentlich nicht treffen.

Die SPD sollte sich auf diese konzentrieren und sich inhaltlich rüsten.
Was die SPD davon abhält, klar, laut und deutlich für ihre innersten Überzeugungen zu kämpfen und damit auch Menschen mitzureißen und neue Wähler/ innen zu gewinnen, ist mangelndes Vertrauen in die eigenen Stärken. Von 20 % zu kommen, darf einen nicht in Angststarre versetzen, sondern muss einen dazu bringen, befreit aufzuspielen.

Die SPD-Führung muss weder die Demoskopen noch die eigenen Mitglieder ständig mit Fragen belästigen. Die Führung muss einfach an die Idee der Sozialdemokratie glauben – und dann führen.

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„Nein, Herr Butter, bitte rufen Sie mich nicht zurück!“

Eine Campaigning-Weihnachtsgeschichte rund um das Memorandum mit dem alles begann. Oder: 25 Jahre Butter, Clinton, Gore und was alles so kam.

In der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember 1992 ratterte in der Strelitzer Strasse Ecke Anklamer Strasse in Berlin Mitte mein 24-Nadeldrucker geräuschvoll die Nacht hindurch. Zuvor hatte ich auf meinem „Schneider Euro-PC“ ein Memorandum an den SPD Parteivorsitzenden Björn Engholm und den Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing beendet. Beiden war ich nie zuvor begegnet und einen Auftrag hatte ich auch keinen. Aber einen guten Grund.

Ende November 1992 war ich nach zwei Jahren aus Washington, D.C. zurückgekehrt, wo ich als Stipendiat der Fulbright Stiftung zunächst an der George-Washington-University studieren durfte. Später bewarb ich mich beim Senat um ein Praktikum und wurde von Al Gore eingestellt, Gore wurde Vizepräsidentschaftskandidat und ich wechselte vom Senat in die Clinton/Gore Kampagne.

wahl92_al_goreEiner von beiden ging bei der Krawattenauswahl auf Nummer sicher. Und einer nicht.

Am 3. November 1992 wurde Bill Clinton 42. Präsident der Vereinigten Staaten und Al Gore Vizepräsident.

slider_bild_1Election Night – bzw. Election Morning Nov 3rd, 1992

Zurück in meiner Berliner Studentenbude schrieb ich dann unter dem Titel „Anleitung zum Glücklichsein“ auf, was ich in der Clinton/Gore Kampagne erlebt hatte. Man könnte das, was dort steht, anmaßend nennen und hätte damit recht. Aber ich war so gefrustet von meiner Loser-SPD, die seit meinem Parteientritt 1982 noch keine einzige Bundestagswahl gewonnen hatte, dass mir das ziemlich egal war.

Zeugnis_Clinton_GoreMein wahrscheinlich wertvollstes Zeugnis und Grundlage für alles, was dann noch kam.

Noch im Dezember klingelte in meiner Ost-Berliner Wohnung das Telefon. Was ein kleines Wunder war, denn ich teilte mir die Leitung mit einem unbekannten Zweitnutzer. In der DDR hatte ja überhaupt nur jeder 10. Haushalt ein Telefon und die wenigen Anschlüsse waren häufig doppelbelegt. Auch noch 1992, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung. Das bedeutete: telefonierte der mir unbekannte Zweitnutzer selbst, war mein Anschluss tot und umgekehrt. Wann er dann wieder frei würde, wusste man nicht. „Warum hast Du dann nicht mit dem Handy telefoniert oder geskyped“ wäre heute eine berechtigte Frage… WEIL ES KEINE HANDYS GAB 1992 UND AUCH KEIN INTERNET die Antwort.

wahl92_mobiltelefoneOn the Campaign-Trail 1992. Da es kaum Mobilfunk gab, wurden vor Ort einfach 50-100 Festnetztelefone aufgebaut. Links im Bild George Stephanopoulos in Clinton, Maryland.

Es klingelte also mein Telefon und es meldete sich ein Herr: „Butter hier, guten Tag. Sie kennen mich nicht, aber ich habe eine Werbeagentur in Düsseldorf. Der SPD Parteivorstand hat mir ein Papier von Ihnen geschickt. Das finde ich hervorragend. Ich würde sie gerne kennenlernen. Aber können Sie sich überhaupt vorstellen in einer Werbeagentur zu arbeiten?“

Tja, so war das. Ich sagte etwas wie „Ich studiere Politik im 9. Semester und kann mir daher alles vorstellen.“ Er fuhr fort: „Wunderbar, ich bin jetzt über Weihnachten auf Mallorca und dann treffen wir uns im Januar. Meine Kollegin prüft jetzt die Termine und dann ruft sie zurück.“ Ich rief „NEIN! Bitte nicht zurückrufen!“ Werner Butter war zurecht konsterniert und ich erklärte: „Ich teile mir die Leitung, ich weiss nicht, wann sie wieder durchkommen.“ Zum Glück konnte Werner mein Gestammel einordnen, denn er kannte die Doppelbelegung auch aus den 50er Jahren im Westen. Ich fuhr fort: „Sagen Sie einfach, wann es Ihnen passt. Ich habe sowieso keine Termine.“

Und so kam der kleine Frank 1993 nach Düsseldorf. Wurde Werber und wird im März 2018 tatsächlich das Vierteljahrhundert bei BUTTER. erreicht haben.

IMG_5528Der SPD Ortsverein bestand in dieser Broschüre ausschliesslich aus KollegInnen der Agentur BUTTER., mit Werner Butter in der Rolle des Ortsvereinsvorsitzenden. Foto: Thomas Krüsselmann, Herausgeber: SPD Parteivorstand, Bonn.

Aber begonnen hat alles mit dem Memo vom 7. Dezember 1992. Das Papier kursierte bald in Bonn und fand seine erste Teilveröffentlichung ohne mein Wissen in der Erstausgabe eines Magazins namens „Focus“. Selbstverständlich druckte der Focus nur die kritischen Passagen über die SPD. Da hat sich nicht viel verändert.

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Ich stelle das Memo hier bereit. Vieles hat sich verändert – aber vieles auch nicht. Denn auch 25 Jahre später hilft es sehr, wenn man eine positive Zukunftsvision vermitteln kann.

C:G1992 (1)Memo an Björn Engholm

Eines darf man nämlich nie: stehen bleiben, im Gestern leben und Erfahrung zu Routine werden lassen. Zwischen 2007 und 2017 hat sich wesentlich mehr verändert als zwischen 1992 und 2002. Und so wird es weiter gehen. Rasend schnell. Und nur wer dran bleibt, bleibt.

IMG_5529Ausweis der Modernität 1994: Ein Laptop und zwar ein MAC!

Soviel also zur Nostalgie. Zum 25. Jubiläum ziehe ich mit meinem Team 2018 in die nächste Schlacht. Diesmal um Hessen. Ausruhen gilt nicht.

Frohes Fest, guten Rutsch und alles Gute, euch Campaignfreaks dieser Welt.

No025 KopieOMG & WTF

Und hier noch mein Beitrag zur aktuellen Lage:

Die SPD, in den Worten Johannes Raus, ist die „Schutzmacht der kleinen Leute“. Genau das ist ihr Problem. Dass die SPD die Partei der sozialen Sicherheit ist, muss sie nicht ständig betonen. Wer soll es denn sonst sein? Auf diesem Feld gibt es keine Konkurrenz. Aber was hat die Partei denjenigen zu bieten, deren Priorität im Leben darin besteht, nicht zum Sozialfall zu werden? Bietet sie den Aufstrebenden, die Erfolg haben wollen, ohne ihr soziales Gewissen zu verlieren, eine Alternative zum Sozialdarwinismus der FDP? Überzeugt sie mit durchdachten Konzepten zur Stimulierung der deutschen Wirtschaft als Alternative zu den wirren trial- and- error  – Versuchen der Union? Bettet sie ihr wirtschaftliches Erfolgskonzept ein in ein ökologisches Rahmenprogramm und bringt sie dadurch heimatlose Ökologen zurück an die Mutterbrust? Die SPD hat die Fähigkeit verloren zu träumen. Sie wagt es nicht, eine Vision für das moderne Deutschland zu schaffen. Nicht das Beschneiden eigener Kreativität unter den Druck zukünftiger Koalitionspartner führt zum Erfolg. Als Opposition muss man nicht schon den Alptraum von morgen träumen, sondern die Chance nutzen, die Zukunft unbelastet und positiv zu definieren. Der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus führt zur Bildung einer eigenen Koalition. Der Koalition zwischen der SPD und der Bevölkerung Deutschlands. Auszug aus: Frank Stauss, Memorandum an Björn Engholm, 7.12.1992

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Regierung oder Opposition – Hauptsache Erneuerung!

Der folgende Beitrag erschien erstmals in der WirtschaftsWoche vom 8.12.2017 unter dem Titel „Bleibt alles anders“.

In bisher gut dreißig Wahlkämpfen lernt man viel über die zunehmend volatile Wählerschaft. Wenn sich vieles gesellschaftlich rasant verändert, ist nichts mehr sicher. Höre ich von fast allen politischen Akteuren, dass sie überhaupt keine Angst vor Neuwahlen zu haben bräuchten, dann erscheint mir das mutig.

Unter den von mir betreuten Wahlkämpfen waren bisher vier vorgezogene Neuwahlen. 2001 stürzte Klaus Wowereit (SPD) aus der Position des Junior-Partners mit Hilfe von Grünen und PDS den langjährigen Regierenden Eberhard Diepgen (CDU). Dieser trat nicht mehr an, die CDU verlor über 17%. Seither stellt die SPD den Regierenden Bürgermeister.

2005 führte Bundeskanzler Gerhard Schröder Neuwahlen herbei. In den zwölf Wochen des Wahlkampfes sanken CDU/CSU mit der Spitzenkandidatin Angela Merkel von 49% in den Umfragen (Forsa, 22.6.2005) auf 35,2% am Wahltag. Die SPD stieg von 26% auf 34,2%.

2010 zerbrach in Hamburg die Schwarz/Grüne Koalition unter Ole von Beust, was Anfang 2011 zu Neuwahlen führte. Die CDU verlor über 20% auf 21,9%, Olaf Scholz und die SPD gewannen die absolute Mehrheit der Sitze.

2012 zerbrach die Rot/Grüne Minderheitsregierung von Hannelore Kraft in NRW an der Ablehnung des Haushaltsentwurfes durch Linke, CDU und FDP. Die Neuwahl gewann Rot/Grün mit 50,4%. Die CDU sackte auf 26,3%, die Linke flog aus dem Landtag.

Diese Reihe zeigt: Neuwahlen entwickeln in ihrer kurzen, komprimierten Form ihre eigene Dynamik. Neu am heutigen Fall ist, dass gewählt würde, nachdem sich erst gar keine Regierung gefunden hat. Das macht alles umso unberechenbarer.

Aus den Jamaika-Koalitionsverhandlungen sind die Grünen am professionellsten herausgegangen. Sie agierten verantwortungsbewusst, kompromissbereit und angesichts der kopflosen CSU nervenstark. Das wird sich auf Dauer für sie auszahlen, so sie sich nicht selbst im Wege stehen.

Die FDP hat sich zwischen alle Stühle gesetzt. Ihr Wahlerfolg basierte auf zwei Kernzielgruppen: Den traditionellen Familienunternehmern, erfolgreichen Selbständigen und klassischen Wirtschaftsliberalen einerseits, sowie der digitalen Boheme, die sich auch durch den frischen Spitzenkandidaten repräsentiert fühlte. Beide Gruppen eint nach meinen Erkenntnissen eine klare pro-europäische Haltung, die Tendenz zu weniger Sozialstaat und mehr Eigenverantwortung, aber auch ein grundsätzlicher Gestaltungswille. Die modernen Wähler schätzen auch den Umweltschutz sehr.

Womit keine der Gruppen etwas zu tun hat, ist der Braunkohletagebau, eine weitere Beschädigung der Europäischen Union in Brexit-Zeiten und offensichtliche Gestaltungsverweigerung. Mit ihrem schwach begründeten Ausstieg hat die FDP ihre Wähler desavouiert. Sie hat 2009-2013 in der Regierung nicht geliefert und liefert jetzt wieder nicht. Wenn die Konkurrenz es klug anstellt, kann sie die FDP bei Neuwahlen erneut marginalisieren. Die FDP braucht jetzt Zeit und muss auf den Zerfallsprozess von CDU/CSU hoffen.

Die CSU war über Jahre hinweg ein desolates Ärgernis. Nach den Entscheidungen dieser Tage für eine Doppelspitze aus Markus Söder als Ministerpräsident und Horst Seehofer als Parteivorsitzender kann sich das aber in einigen Wochen gelegt haben. Die CDU schart sich noch hinter Merkel, die allerdings mit ihrem desaströsen Ergebnis wesentlich weniger Beinfreiheit besitzt, als nach ihrem fulminanten Sieg 2013. Der CDU steht mittelfristig der Kampf zwischen dem Merkel-Flügel und den Neo-Traditionalisten bevor. Aber das wird nicht passieren, solange regiert wird.

Dass die SPD einen Erneuerungsprozess durchlaufen muss, ist unstrittig. Es fragt sich nach dem Jamaika-Scheitern allerdings, wie dieser Prozess ablaufen soll und wohin er führt. Bisher haben die Sozialdemokraten sowohl in der Opposition als auch in der Regierung versäumt, dem seit 1998 dominierenden Pragmatismus eine Zukunftsvision hinzuzufügen. Programmatisch bewegt sich die Partei jetzt. Aber solange sie diesen Prozess noch nicht glaubwürdig vermitteln kann, läuft sie Gefahr, bei frühen Neuwahlen zerrieben zu werden.

Gemessen daran kann eine Regierung mit der Union für die Sozialdemokraten die bessere Option sein. Dass die SPD nach einer erneuten Regierungsbeteiligung verlieren muss, ist eine Legende. Nutzt sie die Zeit effektiv – auch mit frischen Akteuren auf den wichtigsten Ministerposten – könnte sie auch zulegen. Man kann in Deutschland auch mit einer modernen, sozialen und pro-europäischen Haltung Momentum generieren, wenn man es konsequent und klug anstellt. Geht die SPD diese Zeit jedoch so irrlichternd und fantasielos an wie 2009-2017, wird sie weiter verlieren. Auch in der Opposition.

Neuwahlen sind für alle ein Risiko. Die erwähnten Beispiele zeigen, dass eine große Sogwirkung in eine Richtung entstehen kann. Im Frühjahr 2018 könnte sich am wahrscheinlichsten eine Sogwirkung zu einer schwarz-grünen Koalition entfalten, weil diese Parteien wirklich regieren wollen. SPD und FDP laufen dann Gefahr, marginalisiert zu werden. Ob es am Ende für ein Bündnis aus Union und den Grünen reichen würde – oder ob alles wieder von vorne losginge – ist offen, darin liegt ein weiteres Risiko. Für unsere Demokratie.

Mit dem Scheitern von Jamaika wurde der größte Schaden an unserer Parteiendemokratie bereits angerichtet. Man muss keinen weiteren hinzufügen.

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