Niedersachsen – da geht noch was.

Auf den ersten Blick sieht das mal wieder wie ein klares Rennen aus. Auf den zweiten Blick hat Stephan Weil nicht die schlechtesten Chancen, MP zu bleiben. Warum?

Jetzt sind die ersten Umfragen nach dem Seitenwechsel in Niedersachsen raus und wie zu erwarten war, sind sie nicht rosig für die SPD. Die Regierungspartei notiert bei 28-32%, die CDU bei 40-41. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass bei INSA die SPD bereits im Mai bei nur 27% lag, die Partei bei der Landtagswahl 2013 auch nur 32,6% bekam und seither in keiner Umfrage (außer einer selbst bestellten) über 33% gekommen war.

So gesehen ist die jüngste Umfrage der ARD nach einer – verhalten ausgedrückt – sehr schlechten Woche für die Rot/Grüne Koalition eine realistische aktuelle Bestandsaufnahme. Warum die SPD sich dennoch Hoffnung machen kann, am Ende als stärkste Partei aus der Wahl im Oktober hervorzugehen, liegt an den weiteren Daten der Erhebung. Und ihrer Einordnung in die Landtagswahlen der letzten 24 Monate.

Laut Niedersachsen-Trend der ARD, erhoben von Infratest Dimap vom 8.-9. August, sind heute immerhin noch 56% der Niedersachsen mit der Arbeit der Rot/Grünen Landesregierung zufrieden. Das unterscheidet sich deutlich von den abgewählten Koalitionen in NRW 2017 (nicht zufrieden: 53%) oder Berlin 2016 (nicht zufrieden: 60%).

Das kann entscheidend sein. In Rheinland-Pfalz hatte Malu Dreyer mit ihrer SPD zum Beispiel einen Rückstand von 10% rund 3 Monate vor der Wahl – aber ihre Landesregierung lag immer deutlich im Plus. Am Ende gewann sie mit 4,4% Vorsprung. Ministerpräsident Stefan Weil liegt in der Direktwahlfrage zwar keine überragenden 11% vor seinem Herausforderer (45:33), aber auch das war in Rheinland-Pfalz nicht viel besser. Im Dezember lag Malu Dreyer noch bei 43% in der Direktwahl, einen Monat später schon bei 53%.

Meine Erfahrung der letzten Jahre ist: Bei den Landtagswahlen konzentriert sich alles kurz vor der Wahl tatsächlich auf die Landespolitik und dann hat die stärkste Regierungspartei gute Chancen, auch stärkste Partei zu bleiben – sofern nicht nur der MP, sondern auch die Landesregierung positiv bewertet werden.

Nun wird die kurz zuvor stattfindende Bundestagswahl auch noch Auswirkungen haben und was aus Wolfsburg noch alles kommt, da fehlt einem doch bald die Phantasie– andererseits sind die erdverwachsenen Niedersachsen auch ein ganz eigenes Volk mit eigenem Dickkopf, das sich von äußeren Einflüssen wenig beeindrucken lässt.

Niedersachsen wird wohl spannender werden, als es der erste Blick vermuten lässt.

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PS: Nein, ich habe mit diesem Wahlkampf nichts zu tun. Ich sehe das nur so.

Die Wähler wissen immer weniger.

Stefan Niggemeier hat mit mir für Uebermedien.de ein Gespräch geführt, das sich aus meiner Sicht vor allem durch intelligente Fragen auszeichnet. Über die Antworten mag ich mir kein Urteil erlauben.

ÜBERMEDIEN12.7.17

Herr Stauss, Sie haben im vergangenen Jahr beschlossen, dass Sie nicht den Bundestagswahlkampf für die SPD machen wollen. Als dann plötzlich Martin Schulz auf der Bühne stand, gab es da Momente, wo Sie sagten: Ach Mensch, eigentlich wäre es jetzt doch spannend, dabei zu sein?

Ja, klar. Die gibt es eh, wenn man Wahlkampf so lange macht wie ich und mit Herzblut dabei ist. Aber es ist auch kein Geheimnis, dass Martin Schulz für mich die Idealperson ist für diese Kandidatur – mit allem, wofür er steht: für Europa, für Weltoffenheit, auch mit seinem Lebenslauf. Insofern hätte ich gern für Martin Schulz Wahlkampf gemacht, aber das stand nicht mehr zur Debatte, als es soweit war.

Warum nicht?

Weil ich überzeugt bin, dass man so eine Kanzlerkandidatur nicht ein halbes Jahr vor der Wahl aus dem Ärmel schüttelt. Das muss hervorragend, langfristig und minutiös vorbereitet sein. Ich glaube, dass das auch der Kandidatur von Martin Schulz gut getan hätte, wenn sie ein halbes Jahr vorher verkündet worden wäre.

Den „Schulz-Effekt“, den die Nominierung Anfang des Jahres auslöste, empfand ich als ungeheuer belebend, nicht nur für die SPD, sondern auch die Demokratie. Plötzlich hatte man das Gefühl: Alles ist möglich!

Das hatten andere und ich schon länger gesagt, und sind dafür manchmal ausgelacht worden: Das Potential der SPD ist nach wie vor da. Es liegt irgendwo zwischen 35 und 37 Prozent. Das sind Leute, die sich faktisch und nicht nur abstrakt vorstellen können, diese Partei zu wählen, wenn alles rund läuft. Dazu gehört auch immer, dass es bei den anderen nicht rund läuft, klar. In dem Augenblick, als Martin Schulz auf die Bühne trat und eine Projektionsfläche für viele wurde, lag die SPD plötzlich bei 31 oder 32 Prozent. Da hat man gesehen, das Potential ist da. Man hat gesehen, wie schwach Merkel war – oder wie sehr sie davon lebt, dass ihre Gegner schwach sind. Dass niemand sich danach sehnt, am Ende 16 Jahre von Angela Merkel regiert zu werden. Selbst CDU-Anhänger hätten gern eine Art Alternative oder Nachfolge. Darauf hätte die SPD eine Planung aufbauen müssen: Man weiß seit vier Jahren, dass im September eine Wahl ist und Angela Merkel dann zwölf Jahre im Amt ist. Das ist immer eine Chance für einen Wechsel.

War dieser „Schulz-Effekt“ real? Oder nur eine Blase, die von den Medien gemacht wurde?

Natürlich war es eine Kombination. Die Medien haben sich auch danach gesehnt, dass jemand kommt und es spannend macht – aus welchen Gründen auch immer: wegen der Auflage, wegen Klick-Raten, aber auch aus persönlicher Befindlichkeit. Das ist immer so. Das haben wir auch selbst bei Wahlkämpfen erlebt, etwa der dritten Wahl von Wowereit: Die Journalisten haben die Schnauze voll, wollen entweder einen Wechsel oder zumindest, dass es spannend ist. Und es hat sich gegenseitig hochgeschaukelt, denn wann hatte man mal diese Bilder von jubelnden Anhängern in Deutschland, egal für wen? Die hatte man seit der Wendezeit nicht mehr gesehen.

Ein Wahlforscher von Allensbach spricht beim Schulz-Effekt von „Medienechodemoskopie“: Umfragen bestätigten eigentlich nur die Stimmung, die die Medien vorher verbreitet haben, und jedes neue Umfrageergebnis verbessere die Stimmung noch mehr und sorge für noch bessere Umfragen …

Meinungsumfragen sind Momentaufnahmen, und in dem Moment, wo sie 30 Prozent für die SPD gemessen haben, konnten sich 30 Prozent vorstellen, die SPD zu wählen. Es kann aber sein, dass sie drei Wochen später schon wieder auf einem ganz anderen Zug sind. Diese Geschwindigkeit, in der die Leute ihre Meinung ändern, hat zugenommen. Stimmungsabhängigkeit hat immer mit Wissen und Nichtwissen, mit gefestigten Überzeugungen und nicht gefestigten Überzeugungen zu tun. Wir leben in Zeiten, in denen die Leute immer weniger wissen und daher immer anfälliger sind für Schwankungen.

Inzwischen sorgen die Umfragen und die Medien, die sich auf sie konzentrieren, aber wieder für den gegenteiligen Effekt: Sie erwecken den Eindruck, das Rennen ist eh schon gelaufen.

Ja, das ist zum Verzweifeln. Dabei ist das Ausmaß der Schwankungen seit Jahren so groß, das lässt sich in allen modernen Demokratien zeigen. Diese komplette Überraschung in allen Gesichtern am Wahlabend 2005 – einschliesslich das der späteren Kanzlerin. Da haben die großen Institute am Tag zuvor intern die relativ klare Ansage gemacht, dass wir sieben oder acht Prozent hinter der Union liegen. Am Ende war es ein Prozent. Da hatten die Medien zum Teil schon Wochen vorher gesagt: Ihr habt überhaupt keine Chance mehr.

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Diese Begeisterung für Schulz kam scheinbar aus dem Nichts.

Dass er Potential hat, ließ sich in Fokus-Gruppen über ein Jahr im Voraus feststellen. Wenn man seinen Namen in die Diskussion geworfen hat, haben sich plötzlich die Gesichter erhellt. Als das später in diesem „Schulz-Effekt“ sichtbar wurde, waren davon die Medien selbst überrascht. Wenn ich mit Journalisten darüber gesprochen habe, haben die immer gesagt: Ach ja, der Schulz. Der steht doch für Europa und Europa ist out. Das war die Stammformel. Ich sagte dann: Nein, Europa ist nicht out, im Gegenteil, gerade bei denen nicht, die wollen, dass wieder mal einer dafür kämpft. Als dann die Zahlen durch die Decke gingen, waren die Journalisten überwältigt von dem, was er ausgelöst hat, und haben dann, um ihre eigenen Fehler zu kompensieren, das dann auch noch über-hyped.

Das bedeutet: Auch wenn die Journalisten das Gefühl haben und vermitteln, das Rennen sei gelaufen, kann bei den Wählern trotzdem noch einmal so ein Funke überspringen?

Das passiert ja ständig. Nehmen Sie die berühmtesten, zum Teil ja auch die schlimmen Entwicklungen, die man nicht vorausgesehen hat. Oder auch Emmanuel Macron. Als der zum französischen Präsidenten gewählt wurde, hieß es unisono: Oh, er muss jetzt gegen eine Nationalversammlung regieren, die gegen ihn ist – und dann hat er die komplett abgeräumt. Ich weiß gar nicht, was bei den Leuten tatsächlich noch ankommt von den Medienbotschaften, das ist für mich das große Rätsel. Ist das jetzt eine gegenseitige journalistische Bestätigung? Wird die noch ernst genommen von den Leuten, für die sie geschrieben wurde?

Welche Bedeutung haben die klassischen Medien heute?

Meiner Meinung nach konnte man schon 2005 sehen, wie die abgenommen hat. Wenn Sie überlegen, gegen was für eine Medienwand Schröder gerannt ist im Wahlkampf damals. Von „Stern“ über „Spiegel“ bis „Zeit“ waren alle auf dem Neo-Liberalismus-Trip und dachten, jetzt müsse mit Merkel und Westerwelle „durchregiert“ werden. Das war der erste Moment, wo ich dachte: Diese Nummer von Schröder: „Bild“, „BamS“ und Glotze, die läuft nicht mehr. Ich sagte auch zum ersten Mal: Leute, lasst euch von der „Bild“-Zeitung und irgendwelchen „Bild“-Kampagnen nicht kirre machen. Wir wissen gar nicht, ob deren Leser die noch ernst nehmen. Das wird immer stärker gerade. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage. Diese bekannten Medien, mit denen ich aufgewachsen bin und die meisten, die an den Schaltstellen der Republik sitzen … manchmal habe ich das Gefühl, die sind ohne Unterbau. Alle, die unter 40 sind, haben damit eigentlich nichts mehr am Hut.

Im Frühjahr haben die Medien Martin Schulz immer wieder vorgeworfen, dass er bloß über die Dörfer tingelt, während die Kanzlerin die tollen Bildern mit Staatsmännern macht.

An diese Rote-Teppich-Nummer habe ich noch nie geglaubt. Schauen Sie sich die Leute an, die in letzter Zeit erfolgreich Wahlen gewonnen haben. Die kamen aus der Opposition heraus, die hatten alle keinen roten Teppich.

Ist es dann egal, wenn die Medien das erzählen?

Egal ist es ja nie. Es hat eine starke Wirkung auf die Kandidaten, auf deren Umfeld, auf die Partei. Die Parteien werden ja auch von Über-50- oder 60-Jährigen dominiert, die diese Medien lesen. Dieser ganze Apparat wird dann nervös, er wird mobilisiert oder demobilisiert oder demotiviert. Der Horror sind Pressespiegel. Ich bin dafür, dass die sofort abgeschafft werden. Jeden Morgen um 06:30 Uhr kriegen die Leute Clippings aus allen Tageszeitungen, aber natürlich nur solche, die sie betreffen. Die gehen immer davon aus, dass das außer ihnen noch jemand alles liest. Das ist eine vollkommene Irreführung, das hat mit der Mediennutzung der Wählerinnen und Wählern nichts zu tun.

Wenn die Bedeutung der klassischen Medien abnimmt – was rückt an deren Stelle?

Die große Konfusion. Wir begleiten Wahlen seit bald 25 Jahren, immer mit Fokusgruppen. Da ist schon spürbar, wie viel weniger Menschen über politische Zusammenhänge, wirtschaftliche Zusammenhänge, internationale Zusammenhänge, über Personen wissen. Das nimmt dramatisch ab.

Sie sprechen vom „Kollateralwissen“, das verloren geht, weil die Leute nicht mehr nebenbei beim Zeitunglesen Informationen bekommen, nach denen sie gar nicht gesucht haben.

Das ist wirklich so. Die Leute können Dinge kaum noch zuordnen. Sie beschäftigen sich nicht mehr damit. Wir haben auf der einen Seite die News-Junkies, die nichts anderes mehr mitkriegen und dadurch auch einen gewissen Teil des Lebens verpassen. Und auf der anderen Seite die, die so viele Zerstreuungsmöglichkeiten haben, und es zum Teil auch gar nicht wissen, dass ihnen, wenn sie sich nur noch über „neue Medien“ informieren, ein Teil der Informationen vorenthalten wird, durch den berüchtigten Algorithmus. In den Landtagswahlkämpfen merken wir ganz stark, dass gerade das Wissen über Landespolitik komplett verloren geht. Auch ein Heavy-User von „Spiegel Online“ klickt da keine Landespolitik an, wenn sie ihm überhaupt angeboten wird. In einer Tageszeitung früher war halt eine Seite oder zwei Seiten Landespolitik, und die haben Sie dann, spätestens auf der Toilette, auch noch irgendwie mitgenommen. Es kommt eine große Konfusion, eine große Orientierungslosigkeit. Gleichzeitig haben wir durch die Flüchtlingsdebatte eine große Politisierung erlebt. Das Seltsame daran ist, dass die Leute immer weniger wissen, aber im Moment immer mehr wählen gehen. Sie haben mitbekommen, irgendwo ist das jetzt wichtig, es passiert gerade was in der Welt. Aber wir haben immer mehr die, die ich als „Snapchat-Wähler“ bezeichne. Die tauchen kurz auf, schauen kurz hin und sind wieder weg.

Was bedeutet das für den Wahlkampf?

Einerseits brauchen Sie immer länger, bis Sie mit einem Thema durchkommen, das heißt, Sie brauchen eine kontinuierliche Basisbotschaft. Andererseits müssen Sie höllisch aufpassen, dass Sie in den letzten drei Wochen wirklich richtig gut sind – dass Ihnen nicht ausgerechnet da die Puste ausgeht oder Ihnen Fehler unterlaufen oder Sie einen müden oder erschöpften Eindruck machen. Sie müssen dann noch Pfeile im Köcher haben und nicht schon alles verschossen haben.

Mein Eindruck ist, dass Medien heute häufiger nicht über Inhalte diskutieren, sondern über Strategien. Man bewegt sich auf einer Metaebene. Bei Merkels Kehrtwende in Sachen „Ehe für alle“ gab es sofort diese Erzählung: Wie clever von ihr, sie hat das strategisch abgeräumt. Alle waren plötzlich Strategie-Experten. Das dominierte viel mehr als die inhaltlich Frage: Möchte ich eigentlich, dass meine Kanzlerin, meine Partei, für oder gegen etwas eintritt.

Was mir wahnsinnig auf den Senkel geht, ist diese Unterstellung, dass etwas, was Merkel macht, genial sein muss. Das ist ja schon hanebüchen, es ist ja so viel improvisiert und schief gegangen. Aber sie hat diese Aura von „sie hat es immer irgendwie nochmal geschafft“, dass jeder Verstolperer so interpretiert wird. Ich bin mir sicher, dass Merkel die „Ehe für alle“ im Wahlkampf abräumen wollte, aber nicht an jenem Abend bei „Brigitte“. Sie hat sicher nicht auf dem Schirm gehabt, dass da am Freitag im Bundestag noch eine Abstimmung hinkriegen könnte. Das war nicht genial.

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Sie haben Merkel in Ihrem Blog vorgeworfen, dass sie berechnend ist, keine innere Überzeugung hat, keinen Kompass hat, der sie leitet. Das ist ja alles offenkundig, die Frage ist …

Stört es jemanden?

Genau!

Aber deswegen kann man es doch trotzdem sagen.

Kann es nicht sein, dass es der Mehrheit der Wähler – anders als Ihnen – völlig egal ist, ob ein Politiker Leidenschaft oder klare inhaltliche Überzeugungen hat?

Das glaube ich nicht. Ich glaube schon, dass wir in diesem Schulz-Moment gesehen haben, dass es eine Sehnsucht danach gibt. Wir haben die nicht nur bei uns gesehen, sondern auch bei Trudeau, Macron, Corbyn. Das sind natürlich politisch ganz unterschiedliche Charaktere, die alle für etwas anderes stehen, aber diese Sehnsucht ist schon da.

Merkel wird ja immer unterstellt, eine Strategie der „Asymmetrischen Demobilisierung“ zu fahren.

Die Frage ist halt: Lässt man sie damit durchkommen und zwar von Seiten der Herausforderer, aber auch von Seiten der Medien. Wenn ich den Journalisten sage: Ihr seid zu unkritisch, dann lesen mir da alle ihre Artikel vor, die Sie mal vor zwei Jahren geschrieben haben, aber faktisch ist es ja so. So hart wie Schulz oder andere wird sie nicht mehr angegangen.

Andererseits hat die CDU die drei Landtagswahlen in diesem Jahr gewonnen bei steigender Wahlbeteiligung.

Wir haben seit dem Frühjahr 2016 höhere Wählerzahlen. Auf der einen Seite wurden Leute aktiviert, die vorher zuhause geblieben sind und dann die AfD gewählt haben. Das hat dazu geführt, dass andere Leute sagten: Um Gottes Willen, die AfD geht gar nicht! – und auch zur Wahl gegangen sind. Das hallt jetzt noch ein bisschen nach, ich weiß allerdings auch nicht, wie lange das trägt. Das Thema Flüchtlingskrise ist jetzt, zumindest vorübergehend, verschwunden und damit auch der Grad der Politisierung.

Aber Sie glauben, dass es Strategie der Union ist, die potentiellen Wähler der anderen zu demobilisieren?

Das war ja kurios! Schulz sagt an einem Tag: Die Merkel ist beliebig und räumt aus strategischen Gründen alles ab – und am nächsten Tag räumt sie die „Ehe für alle“ ab. Hätte man da noch ein klareres Beispiel gebraucht? Man braucht halt mehr, wenn man diese Frau oder die Art ihrer Politik herausfordern will. Dann muss man sie wirklich herausfordern, mit Mut und Energie.

Sich als Kanzlerkandidat hinzustellen und zu klagen: Die will sich gar nicht mit uns streiten! und ihr einen „Anschlag auf die Demokratie“ vorzuwerfen, hat aber auch etwas sehr Hilfloses. Oder ist das Aufgabe der Medien, eine solche Strategie zu durchkreuzen?

Man kann über Schulz‘ Wortwahl reden, aber eine andere Wortwahl hätte vielleicht dazu geführt, dass es gar nicht transportiert worden wäre. Es war nicht nur ein Moment in Richtung Journalisten, es war auch ein Moment in Richtung Öffentlichkeit zu sagen: Wacht mal auf!

Sein Thema ist die soziale Gerechtigkeit. Die Reaktion vieler Medien ist: Wo soll das Problem sein? Und in den Umfragen sagen 80 Prozent der Menschen auch regelmäßig, dass sie mit ihrer wirtschaftlichen Situation zufrieden sind.

Das Thema, um das sich alle rumdrücken, wahrscheinlich, weil niemand eine Antwort hat: Woher kommt diese Unzufriedenheit, obwohl es den Leuten tatsächlich ziemlich gut geht? Die anfälligste Generation für die AfD sind die, die heute zwischen 45 und 55 sind. Das ist die Gruppe, die am meisten verunsichert ist. Das hat mit der Digitalisierung zu tun, mit den Umbrüchen in der Arbeitswelt. Das sind die, die spüren: Diesen Job, den ich mache, werde ich ziemlich sicher keine zehn oder 15 Jahre mehr machen können.

Sie haben geschrieben: Es geht um die Zukunft, es findet gerade ein großer Umbruch statt, und niemand redet darüber. Wessen Fehler ist das? Wer könnte das ändern?

Wenn das von der Amtsinhaberin nicht gemacht wird, muss es der Herausforderer machen, wer denn sonst. Es geht dabei nicht darum, Angst zu machen, die Angst ist ja sowieso da. Dieses Klima der Unruhe war schon vor zweieinhalb Jahren da. Da war noch kein einziger Flüchtling auf der Autobahn. Die AfD hatte 2013 schon fast fünf Prozent ohne Flüchtlinge, und wir schweigen dieses Thema tot oder adressieren es nicht. Entweder weil keiner weiß, wohin es führt, oder weil keiner guten Gewissens sagen kann: Wir kriegen das hin, wir arbeiten daran. Oder weil es Debatten erfordert, die man jahrelang abgeblockt hat, wie zum Beispiel das Grundeinkommen: Wie organisieren wir in einer hoch industrialisierten und eigentlich wohlhabenden Nation weniger Arbeit? Ich glaube, das ist eine ganz große Aufgabe der Medien zu fordern und zu sagen: Wie wollen wir jetzt eigentlich wirklich damit umgehen?

Vor 20 Jahren drehte sich in der Öffentlichkeit alles um „Reformen“, es gab das Wort vom „Reformstau“, jeder schien zu sagen: Natürlich brauchen wir Reformen, noch mehr und noch schneller. Jetzt ist dieser Gedanke, dass Dinge vielleicht geändert werden müssten, völlig verschwunden. Den unterdrückt ja Merkel nicht mit Gewalt, sondern den bringen viele Medien auch nicht auf.

Vielleicht weil das ihre eigene Empfindlichkeit ist. Wir haben ja ängstliche Medien heute, das darf man nicht vergessen. In der großen Debatte in den Jahren 1998 und 2002 haben die Medien die Regierung getrieben. Die Medien haben gesagt, wir brauchen liberalere Arbeitsverträge, weniger Arbeitsschutz, die Leute sollen den Gürtel enger schnallen (nur wir nicht). Das war eine geballte neoliberale Stimmung, bis in die Talkshow-Sendungen: Das Volk ist zu fett und zu faul und zu träge. Jetzt geht den Journalisten selbst der Arsch auf Grundeis. Die sind nicht frei davon, sich an das zu klammern, was ist. Die Medien sind ja nicht losgelöst von der Gesellschaft. Keiner kann sich davon freimachen von seiner persönlichen Situation und seiner Befindlichkeit. Diese Sorge spiegelt sich in der Berichterstattung wieder. Und eine alternde Gesellschaft ist auch eine innovationsfeindliche Gesellschaft.

Wobei noch die Frage wäre, ob ausgerechnet die SPD die Partei ist, die für Innovation steht.

Aus meiner Sicht tat sie das immer. Die haben eine Partei gegründet, da gab es noch keine Demokratie, das finde ich schon mal grundoptimistisch und fortschrittlich. Sowas wie das Heidelberger Programm oder der Ruf „mehr Demokratie wagen“, das war ja kein Massenthema, das war ein intellektueller Anspruch. Die Arbeiter haben nicht Willy Brandt gewählt, weil er mehr Demokratie wagen wollte, sondern wegen der sozialen Gerechtigkeit. Das waren immer die beiden Bestandteile. Dieses zweite Standbein Fortschritt, das kam in den letzten Jahren einfach zu kurz.

Sie haben in der Neuauflage Ihres Buches geschrieben, die Wahl sei eigentlich schon entschieden. Der deutsche Wähler wolle eigentlich den Wechsel nicht, und die einfachste Art, zu wechseln ohne den Wechsel zu haben, ist …

… den Koalitionspartner zu wechseln.

Dann hat man die FDP als Antreiber und Modernisierer und Angela Merkel kann nochmal vier Jahre weitermachen. Ich fand das so überzeugend, dass ich jetzt gar nicht weiß, warum das nicht eintreten soll.

Ich hab ja immer noch die Hoffnung, dass ich mich, wie so oft, täusche. Und ich bin der festen Überzeugung, die SPD hat in dieser Regierungsphase viel an Reputation zurückgewonnen, weil sie zwei, drei Schlüsselthemen umgesetzt hat, für die sie angetreten ist. Aber der zweite Teil wäre gewesen, danach mit ein paar jungen Leuten, die es ja gibt, Modernisierungsthemen zu setzen. Das ist nicht passiert.

Glauben Sie, dass „fake news“ eine Rolle spielen werden im Wahlkampf?

Sie können halt verunsichern. Sie können die Verunsicherung, die schon da ist, bestätigen und je weniger die Menschen an Basiswissen über die Gesellschaft haben, über politische und über wirtschaftliche Zusammenhänge, umso anfälliger sind sie. Ich glaube aber, es gibt wenige Menschen, die sich ausschließlich innerhalb ihrer jeweiligen Ideologie informieren, was in Amerika ganz anders ist. Das ist so bei uns noch nicht möglich.

Die Gesellschaft ist bei uns noch nicht so gespalten.

Und auch die Medien sind nicht so linear aufgestellt, dass Sie sagen können: Ich bewege mich keinen Meter aus meinem Umfeld raus.

Sie sagen, dass nichts gefährlicher ist als ein „Comeback-Kid“: „Ein Gegner, der schon totgesagt war, aber wieder kommt und dadurch sogar noch mehr Momentum entfachen kann, als beim ersten Anlauf.“ Ist das bezogen auf Martin Schulz nicht nur Wunschdenken?

Die Möglichkeit gibt es.

Was bräuchte es dafür? Da sind wir wieder bei den Medien und ihrer Fixierung auf Meinungsumfragen: Reicht da ein kleiner Effekt, dass es wieder ein, zwei Prozent nach oben geht, und die Medien fangen an, anders zu schreiben und produzieren wieder einen Verstärkungseffekt?

Etwas ist auf jeden Fall gesetzt, vielleicht durch die Rede von Martin Schulz, vielleicht auch durch das Agieren rund um die „Ehe für alle“: Viele in den Medien sind offensichtlich der Meinung, wir lassen die Merkel jetzt mal nicht ungecheckt weiterwurschteln. Wenn das anhält, dann wird sich das weiter verbreiten. Ich glaube, dass Schulz auch immer noch ein Sympathie-Potential hat, der ist auch nicht durch. Wenn man am Ende den Eindruck hat, die CDU macht es sich zu bequem, bleibt immer noch die Frage: Wem nützt das denn am meisten? Kann die SPD da nochmal was entfachen? Hat sie da auch den Willen reinzugehen? Es kommt auch darauf an zu sagen: Ja, das und das fehlt und wir sind die Ehrgeizigeren, wir sind vielleicht auch anstrengender, aber dafür haben wir auch die besseren Ideen für die Zukunft. Das ist noch eine Möglichkeit, mit der die SPD da noch reingehen kann. Wenn die es nicht macht, dann kommt der Lindner.

Dieses Gespräch erschien erstmals am 12.7.2017 auf Uebermedien.de für Abonnenten und ist seit dem 19.7.2017 dort auch frei abrufbar.

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Verdruckst, verlogen und verzockt.

Das verschwurbelte und verstammelte „go“ der Kanzlerin zur Homoehe erinnert sehr an Günter Schabowskis Maueröffnung aus Versehen. Muss man als Schwuler Angela Merkel jetzt dankbar für die Ehe für alle sein? Keine fünf Sekunden. Für dieses unwürdige, zum Himmel stinkende und dann auch noch völlig verstolperte taktische Manöver nach über zwölf Jahren Vollblockade der CDU-Vorsitzenden kann man sich nur fremdschämen.

Als mein Gatte und ich uns vor 10 Jahren im Säulensaal des Roten Rathauses vor einer Standesbeamtin das Ja-Wort gaben, war es eine reine Liebesheirat. Zumindest bilde ich mir das bis heute ein. Denn außer Pflichten hatte das Lebenspartnerschaftsgesetz uns nichts zu bieten. Gut – ein gegenseitiges Besuchsrecht im Krankenhaus und natürlich die Verpflichtung, im Notfall füreinander zu sorgen – und den Staat damit zu entlasten.

Dieses „Lebenspartnerschaftsgesetz light“, das von der Rot-Grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder gegen den massiven Widerstand von CDU/CSU und deren Vorsitzende Angela Merkel und Edmund Stoiber überhaupt erst durchgesetzt werden musste, war ein Pflichtenkatalog ohne Rechte. Dennoch waren wir dankbar, dass es jetzt wenigstens überhaupt einen rechtlichen Rahmen für unsere Ehe gab. Die wir damals wie heute natürlich Ehe nannten – wie unsere Eltern, Verwandten, Freunde und viele andere auch. Dieses Light-Gesetz war deshalb so schwach auf der Brust weil der CDU/CSU dominierte Bundesrat es so hart bekämpft hatte, dass nichts darin übrig geblieben war, was man als Gleichstellung hätte werten können: Keine Hinterbliebenenrente, keine gemeinsame Steuererklärung geschweige denn ein Ehegattensplitting, kein Erbrecht und schon gar kein Adoptionsrecht – ob sukzessive oder nicht.

Wir bauten damals gerade und schlossen dann gegenseitig hohe Risikolebensversicherungen ab, um die im Todesfall fällige horrende Erbschaftssteuer zahlen zu können. Denn im Erbrecht wurden wir behandelt wie Fremde – trotz Lebenspartnerschaft. Im Todesfall eines von uns beiden, wäre der Hinterbliebene nicht nur auf den offenen Krediten sitzen geblieben – er hätte auf sein eigenes Haus Erbschaftssteuer in voller Höhe zahlen müssen.

Danke für nichts, Frau Merkel.

Als wir im Roten Rathaus heirateten – wir reden über 2007 – blockierten unionsgeführte Bundesländer noch die Standesämter für Lebenspartnerschaften. Dort durfte man dann in der KFZ-Zulassungsstelle den Bund fürs Leben schließen – oder im Forstamt. Diese entwürdigende Zeremonie fand in meinem Heimatland Baden-Württemberg erst mit der Grün-Roten Koalition und der Abwahl der CDU ein Ende. Im Jahre 2012. Gab es zuvor ein Wort der CDU-Vorsitzenden zum Thema?

Danke für nichts, Frau Merkel.

Das Bundesverfassungsgericht brachte dann die Reformen. In der Hinterbliebenenrente, im Erbrecht, im Steuerrecht. Alle Koalitionspartner der CDU/CSU – die FDP, mit dem schwulen Außenminister und Parteivorsitzenden Guido Westerwelle, oder die SPD (es war ja schließlich ihr Gesetz), hätten diese Reformen sofort mit Merkel umgesetzt. Aber sie wollte nicht– sie hielt sogar aktiv dagegen. Bei jedem einzelnen Punkt. Nicht nur beim Adoptionsrecht.

Nachdem mein Mann und ich endlich eine gemeinsame Steuererklärung abgeben durften, bekam ich noch zwei Jahre lang meine Unterlagen vom Finanzamt an Frau Stauss geschickt. Denn die bundesweite Software (aus Bayern) kannte keine zwei Männer in der Steuererklärung. Und so hielt man es einfach so, dass der zweite Mann im Alphabet zum Weiblein gemacht wurde. Haha. Wirklich lustig. Jahre vorher hätte diese Umstellung schon stattfinden können. Politisch gewollt und ordentlich vorbereitet. Frau Merkel überließ dem Verfassungsgericht die Arbeit.

Danke für nichts, Frau Merkel.

Dann kam die demütigende zum fremdschämen peinliche TV-Debatte im Jahre 2013, in der die Bundeskanzlerin einem jungen Mann, der mit seinem Partner gerne gemeinsam ein Kind adoptieren wollte, erklärte: „Ich werde einen solchen Gesetzentwurf nicht einbringen.“ Sie begann den Beitrag aber mit den Worten „Zunächst einmal vorweg – ich bin gegen jegliche Form der Diskriminierung.“ Ein Debattenbeginn, den wir auch in der Variation „Zunächst einmal vorweg: ich habe nichts gegen Ausländer…“ gut kennen. Denn auch bei Merkel folgte dann das Gegenteil – nämlich warum sie sehr wohl gleichgeschlechtliche Eltern weiterhin diskriminieren wolle: Weil sie persönlich sich unwohl dabei fühle und das Kindswohl im Mittelpunkt stehe. Wer sich das Gestammel noch einmal reinziehen will: Youtube macht es möglich. Es gibt politische Entscheidungen, die trifft man nicht aus dem Bauch heraus, denke ich. Es war schlimm, das mitanzusehen. Sie räumt dann noch ein, dass doch die Sukzessivadoption heute schon möglich sei. Ja, aber nicht wegen ihr – denn wer hat’s entschieden? Richtig, das Bundesverfassungsgericht. Und wer war dagegen? Richtig: Frau Merkel und die CDU/CSU.

Danke für nichts, Frau Merkel.

Und dann kam die „Brigitte“ und die Kanzlerin schwafelte sich einmal mehr in eine Reform – genauso verdruckst, genauso verklemmt wie sie 2013 die Ehe für alle ablehnte, versuchte sie sich nun in die Gegenwart zu schrauben. Herhalten musste diesmal ein lesbisches Paar im Wahlkreis, das sich um acht Pflegekinder kümmert. Darunter geht es natürlich nicht. Eines oder zwei Kinder hätten Merkel nicht gereicht, denn solche schwulen oder lesbischen Elternpaare hätte sie in den letzten Jahren ja schon überall kennenlernen können – wenn auch ohne gemeinsamem Adoptionsrecht und damit immer mit einem rechtelosen Elternteil. Abgesehen davon, dass viele Jugendämter in allen Bundesländern schon seit Jahrzehnten sehr gerne gleichgeschlechtliche Paare als Pflegeeltern nutzen. Vor allem auch für die schwierigen Fälle, für die sich keine anderen finden. Ja, wenn der Staat etwas davon hat, dürfen die Schwulen und Lesben gerne einspringen. Aber wehe, sie wollen gleiche Rechte.

Doch selbst das bewundernswerte lesbische Paar im Wahlkreis war noch nicht genug. In der Debatte betonte Merkel, dass es wahrscheinlich vielleicht doch eventuell gegebenenfalls besser sei, von zwei Lesben liebevoll erzogen zu werden, als von heterosexuellen Eltern verprügelt. Dass gleichgeschlechtliche Eltern einfach so ihre Kinder gut erziehen können und nicht nur im Vergleich zu prügelnden Alternativen – das kommt der Kanzlerin selbst 2017 noch nicht in den Sinn.

Danke für nichts, Frau Merkel – für weniger als nichts sogar.

Nach Merkels verschwurbeltem „Go“ zur Ehe für alle, versuchte die Union noch zu retten, was zu retten war. Auf Berlins Sommerfesten säuselte ein schwuler CDU-Abgeordneter etwas von „das war doch erst für nächste Woche geplant.“ Und es wundert einen nicht, dass selbst dieser schwule Unionist damit zufrieden gewesen wäre, wenn man in dieser Legislaturperiode nicht mehr abgestimmt, sondern einfach nur das Thema „abgeräumt“ hätte. Damit es im Wahlkampf nicht weiter stört. So wie Merkel eben schon seit Jahren Inhalte im Wahlkampf nur noch stören.

Es geht und es ging immer um Menschen. Um Eltern, um Mütter, um Väter. Um die täglichen kleinen und großen Demütigungen – die zwar abgenommen haben aber immer noch an jeder Ecke auf uns lauern. Staatlich legitimiert und die längste Zeit nicht nur mit dem Segen der Kanzlerin, sondern wegen ihrer harten, klaren und berechnenden Ablehnung jeder Reformen.

Frau Merkel hat den Weg zur Ehe für alle durch einen Verbalunfall frei gemacht. Was hat sie bewogen? Die Umfragen, die eine klare Mehrheit für die Ehe für alle zeigen? Waren es wieder die Umfragen? Wie bei der Kehrtwende in der Atompolitik?  War es wieder nur Berechnung wie bei den vielen anderen Wenden der Angela Merkel? Ohne Überzeugung, ohne inneren Kompass?

Ach, wäre das toll, wenn ein Kanzler mal wieder Spaß am Fortschritt hätte – aus Überzeugung!

Es geht doch, wie man an Trudeau sehen kann. Dem macht Gleichberechtigung Spaß. Und es ist ja auch wunderbar, Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen, ihre Liebe anzuerkennen, ihrem Kinderwunsch oder bereits ihren Familien und Erziehungsleistungen Respekt zu zollen.

Merkels verklemmtes Gestammel ist wahrscheinlich die trostloseste Verkündung einer gesellschaftlichen Reform in der Geschichte der Republik.

Nach den Jahrzehnten des Kampfes hätte die „Ehe für alle“ einen würdevolleren Einzug in das Recht der Deutschen verdient.

Danke für nichts, Frau Merkel.

Version 2
Bei diesem Anblick bekommen Sie Schnappatmung?
Dann fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.

 

Siehe auch den Blogbeitrag  „Liebe in Zeiten der saarländischen Inquisition“ von 2015 – geschrieben aus Anlass einer schlimmen Bemerkung von Merkels Schwurbel-Schwester im Geiste, Frau Kramp-Karrenbauer.

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Die Flanken weit offen.

Die Tranquilizer-Strategie der CDU ist eine völlig unnötige Einladung an ihre Gegner – und eine zweite Chance für Merkels Herausforderer.

„Gut & Gerne“ – oder eher „Gutes von Gestern“ – man weiß nicht, was die CDU geritten hat, ihre erwiesenermaßen für andere Kunden brillant arbeitende Agentur so zu quälen, dass am Ende der reine Biedermeier regiert.

Aber da eine gute Agentur auch immer nur so gut sein kann, wie ihr Kunde es zulässt, darf man vermuten, dass es um mehr als um Slogans und Plakate geht. Es geht um eine Wahlkampf-Strategie. Es geht darum, was die CDU und ihre Kanzlerin einem Land und einer Welt im Umbruch in diesem Wahlkampf anbieten wollen. Diese Antwort ist jetzt klar: Nichts. Zumindest nichts Neues.

Die CDU spekuliert darauf, dass alle zukünftigen Ideen, Innovationen und Vorhaben einer 4. Amtszeit Merkels von den potentiellen Zulieferparteien entwickelt werden. Also von der SPD, den Grünen oder der FDP. So wie VW vermutlich darauf spekuliert hat, dass ihre Zulieferer ein Elektroauto entwickeln, das dann nur noch in Wolfsburg zusammengeschraubt werden muss. Hat nicht funktioniert.

teaser_hoellenritt_wahlkampf_2017Wenn man hinter der CDU-Kampagne etwas wie eine Koalitions-Strategie vermuten will, dann kann es nur eine Einladung an Christian Lindner und seine Start-Up-FDP sein. Indem die CDU jeden Schwung, jeden Esprit, jeden neuen Gedanken outsourct macht sie die Flanke weit auf für die runderneuerten Liberalen.

Mit macronesker Attitude und trudeaueskem Look ist Lindner auf dem besten Wege, im Endspurt des Superwahljahres so massiv merkelmüde Wähler abzugreifen, dass die 35% für die Union wieder wahrscheinlicher sind als die 40 und die Zweistelligkeit der FDP wahrscheinlicher als die Einstelligkeit.

Mit Unterstützung der sich auflösenden, zerstrittenen und nur noch von regelrecht abstoßenden Akteuren getragenen AfD, kann die Union evtl. dort noch 2-3 Prozent reumütige Bieder-Deutschtümler abholen – aber auf der anderen Seite wird sie viele verprellen, die doch noch ein Mindestmaß an Gestaltungsanspruch an ihre Regierung stellen. Ja, Schwarz-Gelb ist wahrscheinlicher geworden – aber dann mit einer schwächeren Union und einer deutlich stärkeren FDP. Das ist die eine Möglichkeit.

Die CDU gibt einem weiteren Akteur wieder viel Raum, den er sich gar nicht hätte träumen lassen können: Martin Schulz.

„Wenn Dein Gegner am Ertrinken ist, werfe ihm Blei zu“, war ein Satz, den ich in der Clinton/Gore Kampagne lernte. Übersetzt in die heutige Zeit heißt das: Wenn Dein Herausforderer von 30% wieder auf 24% abgesunken ist, dann unternimm alles, damit er nicht wieder hochkommt.

Nichts ist gefährlicher als ein Comeback-Kid. Ein Gegner, der schon totgesagt war, aber wieder kommt und dadurch sogar noch mehr Momentum entfachen kann, als beim ersten Anlauf. Weil die Menschen sehen, dass er kämpft, dass er nicht aufgibt, dass er seine Haltung und Überzeugung bewahrt und unbeirrt seinen Weg geht. Für sie – nicht für sich selbst. Und weil er den Menschen auch inhaltlich eine Alternative bietet, die am Ende für sie vielleicht doch besser ist, als nur die Verlängerung des Staus Quo.

Aus Sicht der CDU hätte dies bedeutet, Schulz und die SPD inhaltlich zu fordern, zu treiben, selbst Ideen zu entwickeln und die SPD damit noch deutlicher in die Defensive zu drängen. Das Gegenteil ist der Fall. Die CDU lässt sich treiben. In der Steuerpolitik, in der Familienpolitik, in der Sozialpolitik sowieso aber auch in der Wirtschaftspolitik. Natürlich liegt das auch daran, dass die Brüche in der Union so massiv sind, dass man sich untereinander kaum auf Substantielles verständigen kann. Aber man hat es vermutlich noch nicht einmal versucht.

Merkel erschien zum Ende des Jahres 2016 müde und ideenlos. Heute wirkt sie nur nicht mehr müde. Die CDU hat sich für die vermeintlich sichere Bank entschieden. Nicht anecken, nichts wollen, demobilisieren, beruhigen. Aber 2017 ist nicht 2013.

In einem völlig sinnfreien Timing präsentiert die CDU ihre Tranquilizer-Kampagne ausgerechnet vor dem entscheidenden SPD-Parteitag, von dem man jetzt schon weiß, dass dort viel kluge Programmatik verabschiedet werden wird: Steuerreform, Rentenreform, Familienförderung, Wohneigentumförderung, gesellschaftliche Reformen, Gleichberechtigung und mehr. Und man darf vermuten, dass Martin Schulz seine zweite Chance nutzen wird.

Der Ball liegt jetzt wieder im Feld der SPD. Ein völlig unnötiger Ballverlust der CDU. Das Rennen um die besten Ideen für Deutschland ist wieder offen. Vielleicht sogar das Rennen um das Kanzleramt.

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