Die Selbstpulverisierung der SPD Berlin.

Auf Basis falscher Wahlanalysen treiben die Parteivorsitzenden Giffey und Saleh die Partei in einen Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Bei der nächsten Wahl droht der SPD in Berlin die Bedeutungslosigkeit.

Das Ergebnis war eine Katastrophe. Das Ergebnis der SPD Berlin am 26. September 2021 – dem Tag der Bundestagswahl und in Berlin auch noch der Wahlen zum Abgeordnetenhaus, zu den Bezirksverordnetenversammlungen, dem Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ und des Berlin-Marathons,  blieb deutlich unter den eigenen Hoffnungen. Die Partei hatte zuvor den nicht so wirklich glücklich wirkenden Regierenden Bürgermeister Michael Müller zum Abschied auf Raten „überredet“, um mit der neuen Spitzenkandidatin Franziska Giffey zu punkten. Die SPD wollte wieder an Wahlergebnisse eines Klaus Wowereit um die 30% anknüpfen. Aber der Wahlkampf in Berlin hätte nicht schlimmer laufen können. Wo auch immer sich die Gelegenheit bot, machte die Kandidatin deutlich, dass ihr eine Koalition mit CDU und im Zweifel auch noch FDP („Deutschland-Koalition“) lieber wäre, als das Rot-Grün-Rote Bündnis ihres Amtsvorgängers fortzuführen. 

Und das mitten in einem Wahlkampf, in dem gleichzeitig die Bundes-SPD alles daran setzte, die Menschen davon zu überzeugen, dass eine Regierung ohne CDU/CSU der einzige Weg sei, um endlich dringend notwendige Reformen im Land angehen zu können. Am deutlichsten widersprach Giffey den Initiator*innen des Volksentscheides „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Über deren Anliegen lässt sich trefflich streiten – aber dass den Berliner*innen der Ist-Zustand auf dem Wohnungsmarkt nach zwanzig Jahren SPD-geführtem Senat mehr als ungenügend erschien, war offensichtlich.

Der Wahltag war dann ein mehrfaches Desaster. Das größte Desaster, das schließlich zu Neuwahlen führte, wurde bereits ausreichend erörtert. Für die SPD aber war das eigentliche Ergebnis auch schon ernüchternd genug. Die SPD Berlin kam bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2021 auf nur 21,4% der Stimmen – und unterbot damit das Ergebnis von Michael Müller 2016 (21,6%). Während Müller noch auf einen Abstand von vier Prozentpunkten zur zweitplatzierten CDU kam, landete die SPD mit Giffey nur noch 2,5 Prozentpunkte vor den Grünen. 

Und nicht nur das: Während die Bundes-SPD ihr Wahlergebnis 2021 in Berlin im Vergleich zu 2017 um 5,6 Prozentpunkte auf 23,4% steigern konnte – schaffte es die SPD Berlin am selben Wahltag, Stimmanteile zu verlieren. Also am Tag, als Deutschland erstmals seit gut zwei Jahrzehnten die SPD zur stärksten Partei im Bund machte. Es kam noch schlimmer. Der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, wurde von den Berliner*innen mit satten 59,1% angenommen. Wie weit, so fragte man sich, kann sich eine Großstadt-SPD eigentlich noch von ihrer Klientel entfernen?

Im Vergleich zu 2016 waren die Grünen die Gewinner*innen der Wahl 2021 und verbesserten sich um 3,7 Punkte auf das mit 18,9% beste Ergebnis ihrer Geschichte. Schon im Vorfeld der Wahl 2021 wurde deutlich, dass sich kein Giffey-Effekt für die SPD einstellen wollte. In den Umfragen tat sich nach ihrer Nominierung absolut nichts. Am Wahltag lag Giffey nach den Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen in der Direktwahl bei 39% – aber selbst Müller lag 2016 noch bei 54%. Die Spitzenkandidatin hatte zu diesem Zeitpunkt zwar noch keinen „Amtsbonus“ erarbeiten können – aber diesen würde sie auch im Amt nicht mehr bekommen. Ihre Direktwahl-Quote lag 2023 noch unter der von 2021 – bei 32%. Ein Amtsmalus. Klaus Wowereit, zur Erinnerung, lag gerne mal bei 65%. 

Schon 2021 machten die Berliner*innen also deutlich, dass sie in der Spitzenkandidatin kein überzeugendes personelles Angebot der SPD sahen. Die Berliner*innen fremdelten mit Franziska Giffey und Franziska Giffey mit Berlin. So blieb es auch. Die drängendsten Probleme, damals wie heute, waren der Miet- und Wohnungsmarkt und die Verkehrswende – aber in dieser Kandidatin sahen sie keine Zukunftskompetenz.

Die Forschungsgruppe Wahlen schreibt in ihrer Wahlanalyse zur Wahl 2023:

„Spitzenkandidat/innen: Giffey ohne Zugkraft: Mitverantwortlich für das schwache SPD-Ergebnis ist eine Spitzenkandidatin, die weit weniger Zugkraft entfaltet als andere Länder-Regierungschefs. […] Beim Ansehen verfehlt Giffey klar das Niveau ihrer Amtsvorgänger Michael Müller oder Klaus Wowereit und liegt auf der +5/-5-Skala mit 0,4 (2021: 0,9) nur knapp vor Kai Wegner (CDU), der – wie alle Berliner CDU-Kandidaten seit 2001 – mit 0,3 (2021: 0,1) ebenfalls schwach bleibt.“ 

Schwach blieb die Regierende Bürgermeisterin auch in der Aufarbeitung der Wahlunregelmäßigkeiten 2021, die zwar nicht von ihr, aber von einem ihrer Senatoren zu verantworten waren. Er durfte bleiben. Ein konsequentes Durchgreifen, wie es etwa Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz nach ihrer Amtsübernahme demonstriert hatte, blieb aus.

Es blieb – und bleibt – überhaupt so vieles aus. Vor allem die Aufarbeitung der beiden Wahlklatschen 2021 und 2023. Giffey und ihr Co-Vorsitzender Saleh gingen und gehen wohl davon aus, dass die Berliner*innen eine konservative Wende gewählt hätten. Das ist objektiv nicht der Fall und zu diesem Schluss kann man nur kommen, wenn man sich selbst aus der Verantwortung nehmen will. Faktisch hat die CDU deutlich zugelegt, die FDP flog dafür aus dem Parlament und damit liegt der konservative Anteil in Berlin bei 28% im Abgeordnetenhaus (die AfD mit 9,1% ist ja für niemanden als Partner diskutabel).

Tatsächlich haben die Berliner*innen – wie schon so oft – eine satte progressive parlamentarische Mehrheit (90 von 159 Mandaten) in der Stadt gewählt – ohne progressive Politik zu bekommen. Sie haben die SPD eher nicht gewählt, weil sie ihnen zu wenig fortschrittlich war. Weil sie das Gefühl vermittelt bekamen, dass diese SPD dem Fortschritt regelrecht im Wege stehe. Dabei geht es nicht immer darum, ob es so war – sondern ob es so schien. Und den Eindruck der SPD als Bremserin in dieser Koalition konnte man durchaus bekommen.

Die CDU profitierte 2023 von einem Mobilisierungserfolg – auch auf Kosten der FDP übrigens – und vor allem auch von einem Mobilisierungsdefizit der SPD. Hervorgerufen auch durch die SPD- „Kompetenzverluste im Bereich ‚Wohnungsmarkt‘“ – so die Forschungsgruppe Wahlen in ihrer Analyse. Was für ein Wunder, wenn man sich gegen 60% der Bevölkerung stellt.

Dabei gab es auch viele Fehler der anderen – allen voran die überflüssige Friedrichstraßenaktion der Grünen. Eine Symbolpolitik rund um eine trostlos verbaute Straße, die außer ein paar Lobbyisten aus umliegenden Büros niemand aufsucht, niemand mag und die Berliner*innen nur nutzen, um von ihr weg zu kommen. Wenn man schon Verkehr beruhigen will, warum nicht da, wo Menschen leben? An der Nummer war alles falsch, sie hat die Grünen auch Stimmen gekostet – aber das löst nicht das Problem der SPD. Ohne ihren Friedrichstraßenmurks wären die Grünen ja deutlich vor der SPD gelandet (mit einer überzeugenderen Spitzenkandidatur sowieso – auch schon 2021).

Der SPD ist es 2023 nicht gelungen, sich wie im Bund 2021 von den Grünen durch progressive und programmatische Kompetenz abzusetzen und wieder deutlich stärkste fortschrittliche Kraft in der Stadt zu werden. Olaf Scholz verkörperte 2021 mehr Progressivität – und vermittelte vor allem auch mehr konkrete progressive Politik als die SPD-Spitze in der größten Metropole Deutschlands. 

Die SPD trägt bei vielen Wähler*innen immer noch die Grundvermutung in sich, dass sie sich bei progressiven Mehrheiten auch für einen fortschrittlichen Kurs entscheiden wird. Vor allem in einer Stadt wie Berlin. Es war in diesem Wahlkampf daher nicht leicht, die Wähler*innen davon zu überzeugen, nach all den Jahren und all den Pannen, diesmal doch noch einmal SPD zu wählen. Das beste Argument war immer, die CDU zu verhindern. Es war auch oft das letzte Argument. Positive Argumente für die SPD – personell oder programmatisch – die auch im Gespräch gezündet hätten, gab es nicht. 

Natürlich ist die Lage nach dieser Wahl schwierig. Aber in der Wahlanalyse der Forschungsgruppe Wahlen wie in der anderer Institute steht auch klar zu lesen: „Neben einer rot-grün-roten Neuauflage gehen die Berliner/innen auch zu sämtlichen anderen denkbaren Koalitionen auf Distanz.“

Sollte die SPD nun geradezu anbiedernd ihr Heil in den Armen der CDU suchen, machte sie sich in dieser Stadt endgültig überflüssig. Eine schwächere Verhandlungsposition kann man sich ja gar nicht schaffen. Es ist ein strategisch völlig falscher Schritt auf Basis einer völlig falschen Analyse. Die SPD muss natürlich auch gar nicht regieren, sondern könnte auch mal versuchen, sich in der Opposition neu zu sammeln. Auch dann mit neuem Köpfen und neuen Inhalten. 

Aber eine Große Koalition ohne Not? Die SPD hat noch nicht einmal ein demokratietheoretisches Argument auf ihrer Seite, sich der CDU anzudienen. Es gilt nicht, einen Rechtsruck mit der AfD oder sonst etwas dramatisches zu verhindern. Mit ihrem Schritt in Richtung CDU verhindert die SPD nur sich selbst. Also einen Senat unter SPD Führung, der gerade – wenn auch knapp – bestätigt wurde. Wie absurd ist das denn?

Wäre es nicht am vernünftigsten, einer progressiven Mehrheit in Berlin auch einmal einen progressiven Senat folgen zu lassen? 

Dieser Rot-Grün-Rote Senat ist trotz widriger Umstände wiedergewählt worden. Die stärksten – wenn auch überschaubaren – Verluste im progressiven Lager, hat dabei die SPD erlitten. 

Dieser Senat – einschließlich seiner Chefin – hat also vom Volk die Chance bekommen, es besser zu machen als im ersten Anlauf. Die Berliner*innen haben Rot-Grün-Rot bestätigt. Und nicht einmal knapp. Das Bündnis verfügt über 90 von 159 Sitzen – Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün über 86. Was gibt es daran nicht zu verstehen?

Wäre es jetzt für die SPD nicht Zeit, es mit einem wirklich progressiven Senat zu versuchen? Nicht auf der Bremse zu stehen, sondern vorneweg ein progressives Bündnis anzuführen, das die Mehrheit der Berliner*innen 2021 gewählt und 2023 im Amt bestätigt haben? Es wäre die Chance auf den ersten progressiven Senat unter SPD-Führung seit Jahren.

Der Autor hat die Wahlkämpfe der SPD in Berlin 2001, 2006, 2011 und 2016 betreut und ist Autor des Spiegel-Bestsellers „Höllenritt Wahlkampf- ein Insider Bericht“.

Hat NoGroko der SPD in Bremen geschadet? Im Gegenteil.

Spätestens als die SPD Bremen vor einem Jahr bei 22% notierte (28.5.18/INSA), war klar, dass es diesmal wirklich eng werden würde. Allerdings nicht das erste Mal. Bereits 1995 landete die SPD nur 0,8% vor der CDU. Diesmal ist es umgekehrt und die CDU liegt aktuell 0,9% vor der SPD. Aber was hat die GroKo Absage der SPD Bremen 9 Tage vor der Wahl bewirkt?

2019  war die Lage für die SPD besonders dramatisch. Unter anderem, weil die Lage der SPD überhaupt dramatisch ist, aber auch aus lokalen Gründen. Bürgermeister Carsten Sieling wurde 2015 Bürgermeister, da sein Amtsvorgänger das SPD Ergebnis von 32,8% und die Bestätigung von Rot/Grün durch die Wählerinnen und Wähler (47,9%) nicht gut genug fand und abtrat. Kann man machen. Führt aber zu Problemen. Denn der Nachfolger war dadurch eben nicht im weitesten Sinne vom Volk legitimiert, sondern ausschließlich von der Bürgerschaft gewählt. Das macht verfassungsrechtlich keinen Unterschied – es ist ja keine Direktwahl, aber emotional schon. Vor allem aber hat ein solcher Wechsel auch noch längere Zeit Auswirkungen auf den Bekanntheitsgrad, der erst durch einen Wahlkampf deutlich steigt.

Der suboptimale Start ins Amt wurde durch den notwendigen Konsolidierungskurs der Rot/Grünen Regierung nicht leichter. Die faktisch erfolgreiche Konsolidierung (die Schuldenuhr läuft seit einigen Tagen rückwärts), führt jetzt auch zu neuen finanziellen Spielräumen – allerdings können diese erst nach der Wahl greifen. Insgesamt notierte die Landesregierung daher nur leicht positiv und die Kompetenzwerte sind in vielen Bereichen ausbaufähig .

2019 lag die SPD in keiner Umfrage mehr vor der CDU, meist 1% dahinter. Auf der anderen Seite wuchsen die Bäume der CDU in den Wochen vor der Wahl trotz unkonventionellem Kandidaten aber auch nicht in den Himmel. Angestrebt waren 30%+x und immerhin hatte die CDU auch schon einmal 37,1% geholt – 1999. Man sieht also, dass es in Bremen nicht nur für die SPD bergab ging in den letzten zwanzig Jahren. Die CDU notierte von Februar bis Anfang Mai zwischen 25 und 26%, die FDP bei etwa 6 und das Schwarz/Gelbe Lager zwischen 31 und 34%. Starke Linke (10-12%) und sowieso starke Grüne (18%, rauf von 15,1% bei der letzten Wahl) ergänzten das Stimmungsbild.

Allerdings änderte sich das, je näher die Wahl kam. Der CDU mit einem Unternehmer an der Spitze gelang es verstärkt, sich zum Anführer des schwarz/gelben Lagers zu machen. Dies hatte zur Folge, dass die CDU auf Kosten der FDP zulegte und vermutlich auch noch ein oder zwei Prozent aus dem autoritätsfixierten rechteren Wählersegment gewinnen konnte. Und die Chance, dass tatsächlich erstmals die CDU vorne liegen könnte, mobilisierte das eigene Lager zusätzlich. Dies führte dazu, dass die CDU der SPD weiter enteilte, die Lager selbst sich aber nicht nennenswert vergrößerten.  Als erste meldete die FGW für das ZDF am 16.5. einen Vorsprung von 1,5% für die CDU und damit erstmals mehr als das bisher gemessene 1% oder Gleichstand. Es folgte kurz darauf Infratest mit einem Vorsprung von 3% und schließlich INSA* am 21.5 mit 5% CDU-Vorsprung – bei 28% für die CDU und 23% SPD. Wenn man von einem Trend sprechen will, dann hat man hier einen. (* Insa veröffentlichte zwar erst am 21.5, war aber seit dem 15.5. im Feld)

Die SPD musste etwas tun. Wie andernorts auch, hatten die Genossen an den Infoständen viele Gespräche zu GroKo und Co zu bewältigen. Die SPD entschied sich daher für eine klare Vorwärtsstrategie und schloss eine Große Koalition mit der CDU aus. Und mit der FDP eine Ampel gleich mit. Thematisch wurde der Fokus auf Wohnen und Mieten vs. einer unsozialen Wende mit Privatisierung und Sozialabbau gelegt.

Die Wählerinnen und Wähler hatten damit eine klare Wahl. Ob ein solcher Schritt nur neun Tage vor der Wahl noch fruchtet, weiß man erst am Wahltag. Denn nur weil zwölf Leute das am Freitag twittern und der Weserkurier es einmal schreibt, ist die Botschaft noch lange nicht unterm Volk.

Ein Hinweis, dass der Trend zur CDU abgeschwächt wurde, gab die letzte Umfrage der FGW für das ZDF, die als einzige die klare Aussage der SPD voll im Erhebungszeitraum hatte. Im Gegensatz zu ihren früheren Umfragen, fand die FGW keine Bewegung hin zur CDU und veröffentlichte erneut einen Vorsprung der CDU von 1,5%.

Gemessen wurde aber auch eine klare Absage an Jamaika und die beliebtesten Koalitionsmodelle waren Rot/Grün gefolgt von Rot/Rot/Grün, beide allerdings auch ohne Mehrheit.

Bremen ist ein kleines Bundesland, so dass auch kleinere Bewegungen zu größeren Verschiebungen führen können. Genau wird man es nie erfahren. Wir sind fest davon überzeugt: Ohne Disruption wäre die CDU der SPD mit gut 4-5% Vorsprung davongezogen.

Die (immer noch vorläufigen) Ergebnisse im Einzelnen (Landeswahlleiter, 27.5., 2:16 Uhr):

RRG: 25,34 (S) + 10,79 (L) + 17,49 (G) = 53,62
Jamaika: 26,30 (C) + 6,04 (F) + 17,49 (G) = 49,83

Insgesamt bleibt das traditionell linke Bremen mit einem Anteil von 53,62% für SPD, Grüne und Linke klar links der Republik.  Schwarz-Gelb kommt zusammen auf 32,34%, Rot-Rot auf 36,13.  Jetzt liegt es an den Grünen, ob sie für die erste Rot-Grün-Rote Landesregierung in einem der alten Bundesländer bereit sind.

Die SPD hat jedenfalls den Wählern vor der Wahl klar gesagt, wofür sie steht. Es hat ihr nicht geschadet und jetzt muss sie auch nicht rumeiern.

Game-Changer in Bremen.

Der Trend in Bremen war eindeutig: INSA veröffentlicht am Dienstag einen 5% Vorsprung für die CDU. Dann kam die Absage der SPD an die CDU. Und es sortiert sich neu.

Ein Game-Changer bricht mit bisherigen Regeln, betritt neues, unerforschtes Territorium und birgt daher hohe Risiken – oder aber die Chance, den Lauf der Dinge nachhaltig und über den Moment hinaus zu verändern. Am Freitag, den 17.5.2019 um 17:00 treten der Bremer Bürgermeister Carsten Sieling, die SPD Landesvorsitzende Sascha Aulepp und Fraktionschef Björn Tschöpe vor die Presse, um einen möglichen Game-Changer zu verkünden. Einstimmig hat soeben der Landesvorstand der SPD beschlossen, eine Zusammenarbeit mit der CDU, ja sogar Sondierungsgespräche, kategorisch auszuschließen. Es wird in Bremen keine große Koalition geben. Ebenso wird eine Zusammenarbeit mit der FDP ausgeschlossen. Das ist nur konsequent, da die Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der CDU hauptsächlich mit deren Sozial- und Mieterpolitik begründet wird – und diese Argumente gelten in Richtung FDP ebenso.

Es ist das erste Mal, dass eine der beiden Volksparteien eine Koalition mit der anderen vor der Wahl ausgeschlossen hat. Bisher hat man je nach politischer Himmelsrichtung vieles ausgeschlossen – Linke, anfangs auch Grüne, Rechte sowieso – aber keine Koalition untereinander. Auch hat die SPD es in einem der alten Bundesländer bisher nicht gewagt, offensiv für eine Rot-Rot-Grüne Koalition zu werben. Die Grünen und die Linke allerdings auch nicht. Das ist also alles neu – könnte aber die politische Landschaft über Bremen hinaus verändern.

Was keiner bisher wusste: Wie reagieren die Wählerinnen und Wähler auf eine solche klare Aussage nur neun Tage vor der Wahl? In den letzten Jahren hatten die Wähler ja gelernt, dass nach der Wahl alles möglich ist. Schwarz-Grün, Grün-Schwarz, Schwarz-Gelb-Grün, GroKo, Ampel, Rot-Grün, Grün-Rot. Es wurde immer unklarer, was die Stimmabgabe am Ende bewirkt. Und vielleicht finden das die Leute gar nicht so schlecht. Oder doch?

In der sehr diffusen Medienwelt unserer Zeit, muss man mit mindestens 5-7 Tagen rechnen, bis eine solche Nachricht tatsächlich bei den Wählerinnen und Wählern ankommt. Und dann muss man sehen, ob sie überhaupt zu irgendwelchen Reaktionen führt. Und wenn, dann welche Reaktionen sie auslöst.

Heute, am Donnerstag 22:00, ist Tag 6 nach der Gro-Ko Absage und uns liegt die erste Umfrage vor, die nach dieser Entscheidung erhoben wurde. Sie wurde im Auftrag des ZDF von der Forschungsgruppe Wahlen erhoben und zwar noch bis spät in den heutigen Donnerstag-Abend hinein. Frischer geht es nicht.

Zum Vergleich steht die bisher aktuellste Umfrage, die von dem Meinungsinstitut INSA im Auftrag der BILD am Dienstag, den 21.5.2019 veröffentlicht wurde. Diese Befragung fand noch hauptsächlich vor der Pressekonferenz der SPD statt oder so kurz danach, dass die Befragten die Absage an die CDU noch nicht mitbekommen konnten (15.5.-20.5.)

Vergleichen wir die beiden Umfragen Vor/Nach der Entscheidung:

VORHER : INSA / BILD (15.-20.5.2019):
SPD: 23%, CDU 28%, Grüne 18%, FDP 6%, Linke 11%, AfD 6%, BiW 2%

NACHHER: Forschungsgruppe Wahlen (FGW) / ZDF (21.-23.5.2019)
SPD: 24,5%, CDU 26%, Grüne 18%, FDP 5%, Linke 12%, AfD 7%, BiW 3%

Veränderungen:
SPD +1,5%, CDU -2%.
RRG wächst von 52% auf 54,5%,
Schwarz-Gelb sinkt von 34% auf 31%

Im Vergleich zu der letzten vorliegenden Umfrage schrumpft der Abstand zwischen CDU und SPD von 5% auf 1,5% um – 3,5%. Das ist sehr viel in sehr kurzer Zeit. Ab jetzt kann man wieder sehr klar sagen: Das ist ein Kopf-an-Kopf Rennen.In der Direktwahlfrage legt Bürgermeister Carsten Sieling im Vergleich zur letzten FGW-Umfrage sogar noch etwas zu auf 43%. Jetzt steht es bei 12% Vorsprung 43% zu 31%.

Fazit: Da es kein ähnlich relevantes Ereignis in den letzten Tagen des Wahlkampfes in Bremen gegeben hat, muss man davon ausgehen, dass die klare Ansage der SPD zu diesen in der Kürze der Zeit doch relevanten Verschiebungen geführt hat. Schon jetzt sind alle Auguren, die der SPD einen Zusammenbruch nach der Absage an CDU und FDP attestiert haben, widerlegt. Das Gegenteil ist der Fall. Das durchaus vorliegende Momentum der CDU in den letzten Wochen wurde gestoppt, wenn nicht sogar gedreht. Die Zustimmung zur SPD steigt. Und wir sind jetzt erst bei Tag 6 – es folgen noch 3.

Die Wählerinnen und Wähler goutieren offenbar die klare Ansage der SPD. Sie wissen jetzt zu 100%, woran sie sind, und dass die mit der SPD keine Regierungsbeteiligung von CDU oder FDP bekommen werden. Die Grünen haben entschieden, sich eine Koalition mit CDU und FDP offenzuhalten. Das bringt sie nicht wirklich weiter. Da sie bei der letzten Wahl bereits 15,5% erreicht hatten, ist ihr jetziger Stand gemessen an der Entwicklung im Bund unterdurchschnittlich.

Das alles heißt noch lange nicht, dass die Wahl am Sonntag entschieden ist. Aber sie ist wieder offen. Für die SPD Bremen hat sich das volle Risiko bisher als Game-Changer mit positiver Tendenz erwiesen. Durch die Basis ging ein spürbarer Motivationsschub und an den Infoständen wird viel Zustimmung zu dem klaren Kurs deutlich.

In Bremen gibt es wieder ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Das Momentum liegt für die letzten drei Tage wieder auf Seiten der SPD. Vieles deutet auf eine sehr volatile Wählerschaft mit vielen Unentschlossenen hin. Es ist übrigens längst nicht das erste Kopf-an-Kopf Rennen zwischen SPD und CDU in Bremen. Bei der Wahl 1995 trennten beide nur 0,8 Prozentpunkte beim Endstand von 33,4%: 32,6% zugunsten der SPD.

Auch diesmal wird die Wahl in Bremen wohl zu den wenigen Wahlen zählen, bei denen wir wirklich bis Sonntag um 18:00 warten müssen, bis wir ein Ergebnis haben. Oder noch länger.

No Gro-Ko – Was passiert denn da in Bremen?

Auch wenn die ganz große Aufmerksamkeit dem Thriller „Koksnasen auf Ibiza“ gehört, lohnt sich doch ein Blick ins kleinste deutsche Bundesland. Dort hat die SPD der CDU eine knallharte Absage erteilt. Und die Grünen schwallwabern bei der Koalitionsfrage mal wieder puddingleicht durch das Mäandertum.

Der SPD Landesvorstand Bremen beschließt einstimmig, dass die SPD Bremen nach der Wahl ausschließlich für eine Mitte-Links-Regierung zur Verfügung steht. Anschließend treten die Parteivorsitzende, der Fraktionschef und der Bürgermeister am Freitag gemeinsam vor die Presse, um genau das 9 Tage vor der Wahl zu verkünden. Das ist nicht nur ziemlich geschlossen, sondern in seiner Konsequenz auch einmalig in der Geschichte bisheriger Landtagswahlkämpfe in Deutschland.

Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass es jemals einen solchen Beschluss von einer der beiden Volksparteien gegeben hätte.

Gleichzeitig wäre eine nun mögliche Mitte-Links-Regierung – in diesem Fall also aus SPD, Grünen und Linkspartei, die erste Rot-Grün-Rote Landesregierung in einem der alten Bundesländer. Die Bremerinnen und Bremer könnten also den Beweis für eine funktionierende Mitte-Links Regierung „im Westen“ antreten und damit neue linke Optionen über Bremen hinaus wieder denkbar machen.

Das kann man nun diskutieren. Hier mein Beitrag.

PRO:

1. Klarheit statt Unberechenbarkeit
Die Segmentierung der Parteienlandschaft in Deutschland hat mittlerweile dazu geführt, dass kein Wähler vor der Wahl noch weiß, was er nach der Wahl bekommt. Es gibt alle, wirklich alle Modelle. Jamaika, Ampel, GroKo, RRG (mal mit der SPD vorne in Berlin, mal mit der Linken in Thüringen, Schwarz-Grün, Grün-Schwarz, Rot-Grün, Schwarz-Gelb und in Brandenburg überlegt die CDU, ob man nicht doch mit der Linken…. Was die CDU in Sachsen überlegt bzw. macht, wenn sie ihren jetzigen MP abserviert hat, will ich gar nicht wissen.

Übrig bleibt eine unüberschaubare Kakophonie, Unklarheit und Unberechenbarkeit und das in Zeiten, in denen sowieso schon sehr viel Unsicherheit und Unklarheit die Sicht trüben. Die SPD sagt jetzt den Wählern: Mitte-Links oder nichts.

2. Regieren nicht um jeden Preis – sondern mit klaren Zielen.
Nach der Ankündigung der SPD kamen natürlich gleich Kommentare wie „SPD klammert sich an die Macht.“ Sorry, aber der Gedanke muss nochmal in die Logikklinik. Genau das Gegenteil ist ja der Fall. Sie schließt mehrere Machtoptionen kategorisch aus: Rot-Schwarz, Schwarz-Rot sowie die Ampel, da die FDP in Bremen sich aufgrund jahrzehntelanger Ohnmacht völlig ins Abseits marktradikalisiert hat.

Das heißt, selbst wenn die SPD erneut stärkste Partei würde (was aufgrund der aktuellen Umfragen durchaus drin ist), geht sie ein hohes Risiko ein.  Wichtiger sind ihr die Ziele, die sie mit CDU und FDP nicht erreichen kann. Etwa beim Mieterschutz, einer verschärften Mietpreisbremse und bezahlbarem Wohnungsneubau.

Wie in allen Metropolen ist auch in Bremen der Wohnungsmarkt zu der großen sozialen Frage unserer Zeit geworden. Obwohl dort die SPD nicht die gleichen Fehler begangen hat wie viele andere Regierungen. Sie hat eben gerade nicht städtische Wohnungen gekauft, sondern im Gegenteil, sogar neue erworben. Das ist gut. Aber das reicht nicht. Es braucht dringend mehr sozialen und generell bezahlbaren Wohnraum. Denn auch Bremen boomt und steht mit seinem Wirtschaftswachstum im zweiten Jahr in Folge bundesweit auf dem Siegertreppchen.

Das Wohnungsbauprogramm der CDU:
Wenn Du kein Geld für Miete hast, warum kaufst Du nicht Wohnung? Eh?!“

In dem 100-Tage Programm der CDU findet man hierzu ein dürres Sätzchen unter Position 25 (von 33 und zwar kurz vor dem Punkt: „Wir wollen Einweggeschirr untersagen“ – was sowieso schon verboten wurde). Es lautet sinngemäß: Die Leute sollen sich was kaufen. Oder wörtlich „Unser Ziel ist es, über alle Stadtteilen (sic!) kurzfristig mindestens Grundstücke für 500 Wohneinheiten für Familien zu identifizieren um sie zur Bebauung zur Verfügung (Verkauf oder Erbpacht) zustellen.“ Dankeschön. Deutsch Sprach schwer Sprach aber übersetzt: „Wenn Du kein Geld für Miete hast, warum kaufst Du nicht Wohnung? Eh?!“. Wenn das Volk kein Brot hat, warum isst es keinen Kuchen? Hinzu kommen bei der CDU: Ablehnung der verschärften Mietpreisbremse, Ablehnung der Bebauung eines bereits ausgewiesenen Bauprojektes (Rennbahn) usw. Kurzum: Mit einer Groko wird hier absolut nichts voran gehen. Warum soll man sie dann eingehen?

Es gibt noch viele weitere Punkte, aber der reicht mir eigentlich schon.

3. Wenn ihr links wählt, bekommt ihr links.
In Bremen gibt es seit vielen Jahren und über alle Umfragen hinweg stabile Mehrheiten für SPD, Grüne und Linke zwischen 54% und 57%. Die Verteilung innerhalb des Lagers verteilt sich, die Lager selbst bleiben sehr stabil. CDU/FDP liegen auf der anderen Seite im Korridor 30-34, aktuell sind es 32%. Dann gibt es noch AfD und/oder Bürger in Wut sowie die Besonderheit, dass wer in Bremerhaven die 5% bekommt, auch dann in die Bürgerschaft einzieht, wenn es in Bremen nicht reicht. Das sorgt für zusätzliche Verwirrung.

Kurzum: Die SPD Entscheidung sagt den Wählerinnen und Wählern: Wenn ihr eine Mitte-Links Regierung wählt, dann bekommt ihr sie mit uns garantiert. Das kann man bei den Linken auch voraussetzen, bei den Grünen nicht. Die Grünen schwallwabern mal wieder puddingleicht durch das Mäandertum. Kann man machen und viele Grün-Wähler wachen dann am Ende mit der CDU auf, die sie nie wollten. Was aber ist verwerflich daran, den Wählern klar zu sagen: Wenn es für eine linke Mehrheit reicht, sind wir in jedem Fall dabei. Wenn nicht, dann gehen wir in die Opposition?

Fazit: Ein Gewinn an Klarheit für die Wählerinnen und Wähler – und wie ich finde, auch für die Demokratie. Denn am Ende gibt es wieder etwas zu entscheiden. Für die SPD ist das ein Risiko, in das noch keiner gegangen ist. Aber auch sie wird danach Klarheit haben. Auf jeden Fall kommt nochmal Schmackes in den Endspurt.

CONTRA:

Ooops, ich muss los. Eurovision-Party vorbereiten. Riiiiise like a Phoenix! Es gab sie doch, die guten Dinge – auch aus Österreich.