Ein leichter, frühsommerlicher Essay an Rucolasalat über einen Hauptstadtwahlkampf, dessen heiße Phase erst nach der heißen Phase beginnt.
Die Sonne lacht, Fahrräder werden erst abgestaubt, aufgepumpt, geölt und dann geklaut, die Liegestühle an der Spree sind alle besetzt, Trolleys rumpeln über Trottoir-Platten mit canyonartigen Spaltmaßen, Mas Que Nada ertönt in den schauerlichsten und schönsten Variationen auf Plätzen und in U- und S-Bahnen, parliert wird in jeder Sprache der Welt oder gleich in broken english, die Kellnerin grüßt jetzt auch im Wedding mit einem fröhlichen „How are we today, guys?“, hin und wieder bellt ein freundliches „Watt weeß denn icke, heeß ick Siri oder watt?“ zwischen den Suchenden aus aller Welt, Tattoos werden von der Sonne geküsst und kein Mensch interessiert sich für Politik. Es muss Wahlkampf sein in Berlin. Oder fast. Denn bis zum 18. September ist es ja noch etwas hin. Und zurzeit kennt daher auch kaum jemand diesen Wahltag außer den Kandidaten, fünf bis sechs Journalisten und Menschen wie ich, die dafür bezahlt werden.
Es ist jetzt der vierte Wahlkampf seit 2001, den ich mit BUTTER. bzw. diesmal mit BUTTERBERLIN begleiten darf. Der erste war gleich eine Sensation. Die SPD kündigte die „Große Koalition“ mit der Diepgen-CDU auf, Klaus Wowereit ließ sich mit den Stimmen von Grünen und PDS (formerly known as SED, later on known as PDS, currently known as Linkspartei) zum Regierenden Bürgermeister wählen und rief dann Neuwahlen aus. Insofern können wirklich alle, die mit Wahlkampf zu tun haben, für das Timing dankbar sein. Ein luftiger Sommerwahlkampf ist doch etwas feines, etwa im Vergleich zu Hamburg, wo man sich durch schlechtes Neuwahltiming bei Minusgraden durch den Eisregen zum vermummten Wähler vorkämpfen muss. Der Nachteil wurde bereits erwähnt und lässt sich in dem Kandidatenblues „Kein Schwein interessiert sich für mich“ zusammenfassen.
Das wird sich ändern. Aber erst sehr spät. Die Sommerferien in Berlin beginnen am 21. Juli und enden am 4. September – dem Wahltag in Mecklenburg-Vorpommern. Zwei Wochen später, am 18. September wird in Berlin gewählt. Und schon wird das Ganze doch schon wieder interessant auch für viele außerhalb Berlins. Konzentrieren wir uns also auf die Hauptstadt der Republik, denn dort sorgen noch einige weitere Komponenten für Würze.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, stellt sich erstmals zur Wahl. Er übernahm das Amt am 11. Dezember 2014 von Klaus Wowereit, nachdem er sich bei einer Urwahl der SPD Parteimitglieder deutlich gegen zwei Mitbewerber durchsetzen konnte. Im April dieses Jahres wurde er auch zum Vorsitzenden und Spitzenkandidaten in Berlin gewählt. Für viele Beobachter war es überraschend, wie rasch sich Müller aus dem Schatten des charismatischen Vorgängers lösen konnte, und auch zwei Jahre später führt er die Beliebtheitsskala der Berliner Spitzenpolitiker deutlich an. Und da haben wir schon die zweite Sonderrolle in Berlin: Wer ist eigentlich der Gegner?
Von irrlichternden Stimmen und Instituten.
Die Berliner Parteienlandschaft ist aufgrund zahlreicher historischer Besonderheiten stark partikularisiert. (Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich die Seiten 46-57 in meinem Buch „Höllenritt Wahlkampf“). Eine Beobachtung ist aktuell zusätzlich wichtig: Obwohl wir mit SPD, CDU, Linkspartei, Grünen und optional auch der FDP bereits ein breites Parteienspektrum zur Auswahl haben, splittet sich der Wählermarkt noch zusätzlich auf: Bei der Wahl 2006 gab es zum Beispiel satte 13,7% Stimmen für die „Sonstigen“, darunter irritierende 3,8% für „Die Grauen“, aber auch 2,6% für die NPD. Im Jahre 2011 reduzierten sich zwar die „Sonstigen“ auf 8,3% (mit immerhin immer noch 2,1% NPD), dafür schafften aber die Piraten mit starken 8,9% den Einzug in das Abgeordnetenhaus. Wie wir auch aus anderen Bundesländern wissen, nährten sich die Piraten nur zu einem geringeren Teil aus Cyber-Nerds sondern vor allem aus Offlinern, die nur „irgendwie Protest“ wählen wollten. Im Jahr 2016 sind also insgesamt 17,2% irrlichternde Stimmen aus Piraten und Sonstigen von 2011 zu vergeben. Ein nicht unerheblicher Teil davon wird dann weiter „Protest“ wählen. Nur eben nicht in fröhlich anarchistischer Piraten-Laune, sondern in übellauniger Rechts-Verstumpfung. Sinn macht das alles nicht, aber Unsinn ist eben auch ein Menschenrecht.
Wie sieht es denn nun heute aus? Tja. Wenn man das wüsste. In Berlin sind traditionell zwei Institute langfristig und regelmäßig aktiv: Infratest dimap und Forsa. Werfen wir nur mal einen Blick auf die AfD Zahlen: Forsa, 29. März: 9%, Infratest, 13. April: 13%, Forsa, 29. April: 7%, Infratest, 11. Mai: 15%, Forsa, 27. Mai: 8%, Infratest, 15. Juni: 15% Nochmal zum Mitschreiben: 9,13,7,15,8,15 und die Zusatzzahl wäre dann? So kann ich nicht arbeiten! Ähnlich wirr sind auch alle anderen Zahlen auf dem Markt, aber das ist natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass sich noch niemand für diese Wahl interessiert. Das wird sich aber ändern. In dem zuletzt von uns begleiteten Wahlkampf in Rheinland-Pfalz änderte sich tatsächlich alles rapide in den letzten 4 Wochen und ganz deutlich in den letzten Tagen. Bis die Kollegen ihre Algorithmen sortiert haben, kümmern wir uns daher erst mal um anderes.
Boom-Boom-Boomtown.
Berlin ist heute eine Boomtown und hat an vielen Stellen andere Probleme zu lösen als vor zehn Jahren. Es gibt viel mehr gut bezahlte Arbeit als früher, die Einkommen steigen, die Arbeitslosigkeit liegt auf dem niedrigsten Niveau seit fast einem Vierteljahrhundert. Wer in Deutschland ein Start-Up gründet, entscheidet sich zu 39% für Berlin als Standort, der Rest verteilt sich auf die anderen 15 Bundesländer. „Von wegen arm aber sexy. Die Hauptstadt ist jung, international und digital“ schreibt der STERN gerade in seinem Bericht über „Silicon Berlin“. Zu dieser Wahrheit gehört, dass die ungebrochene Attraktivität Berlins für kreative Gründer stark mit der Ausstrahlung Berlins in den Wowereit-Jahren zu tun hat. Während andere noch von alter Großindustrie fabulierten, setzte „Wowi“ auf die digitale Kreativwirtschaft, auf Medien, Fashion, Smart-City, Tech-City und alles, was noch kommt. Heute sorgen alleine die Start-Ups für 60.000 Arbeitsplätze. Investitionen ausländischer Unternehmen sind ungebrochen, aber vor allem zieht es auch immer mehr Inländer in die Hauptstadt.
Die große Aufgabe heute ist es, das Wachstum der Stadt so zu gestalten, dass weiterhin alle teilhaben können. Und war man vor zwanzig Jahren noch froh um jede leerstehende Wohnung, die renoviert und in eine Ferienwohnung gewandelt wurde, so braucht man heute eben jede nur verfügbare Wohnung für diejenigen, die hier langfristig leben wollen. Das ist der Lauf der Dinge und die Besitzer werden auch nicht enteignet, sondern sie sollen an langfristige Mieter vermieten und nicht an kurzfristige. Mit dem Verbot der Ferienwohnungen und anderen lokalen wie nationalen Maßnahmen steuert man in Berlin wie auch in anderen Boomstädten wie München, Hamburg oder Düsseldorf gegen.
Allerdings ist nichts so anziehend wie der Erfolg und Fakt ist: Berlin ist extrem attraktiv, hat eine enorme Sogwirkung – nicht nur für Touristen sondern vor allem auch für Arbeitgeber und Arbeitnehmer – entwickelt und ist natürlich auch von dem globalen Trend in die Metropolen nicht abgekoppelt. Was für die Wohnungen gilt, gilt ebenso für Kitas und Schulen. Vor Jahren noch gab es in einzelnen Stadtteilen nicht mehr genug schulpflichtige Kinder für manche Schule, die Finanzen drückten an allen Ecken und die Trendforscher taxierten Berlins Bevölkerungszahl in Richtung 3 Millionen.
Heute sind die Trendforscher von damals in Rente, neue dürfen falsche Prognosen aufstellen und es geht recht rasant auf die 4 Millionen zu. Alles in allem steht Berlin aber gut da – auf jeden Fall deutlich besser als vor 10 oder 15 Jahren, was wirklich jeder sehen kann, der es will. Da darf man sich von ein paar professionellen Hysterikern nicht kirre machen lassen. Es sind auch meist die gleichen, die vor ein paar Jahren noch tiefere Einschnitte in der Verwaltung gefordert haben – aber so ist das eben. Das eine klappt hier besser, das andere in Hamburg, das dritte in London und das vierte in Rom. Bei Rom bin ich noch am überlegen, was das sein könnte. Aber mache Städte sind einfach so schön, da ist alles egal. Hierzu zählte Berlin nie.
Das Thema, das den Berlinerinnen und Berlinern tatsächlich unter den Nägeln brennt, ist der Mietmarkt. Perspektivisch wird sich daher die Frage stellen, wem man am ehesten zutrauen wird, bezahlbare Mietwohnungen zu schaffen. Da kann sich jetzt jeder seinen eigenen Reim drauf machen. Die Grünen sind bisher nicht wirklich als Baufüchse in Erscheinung getreten, sondern eher als aktive Wohnungsbaublockierer. Die FDP ist sicher mehr an Luxuslofts mit ensuite Dampfdusche und Heli-Landeplatz interessiert, die CDU hat mit Mietern eh nichts am Hut und den AfD-Repräsentanten wird außer Germania auch nicht viel einfallen. Das war aber auch ein schöner Plan, damals, von dem Adolf und dem Albert. Bevor der Russe kam. Apropos. Die Linkspartei hat historisch-ästhetisch gesehen natürlich die Platte auf dem Habenkonto. Mal sehen, wer da was nachlegt.
Doch wie auch immer. Die Berliner lieben Berlin, sind sich darüber im Klaren, dass nicht alles perfekt läuft, erwarten aber auch nicht, dass alles perfekt läuft. Denn sonst wären sie ja auch nicht hier, sondern in Gundelfingen. Da war ich zwar noch nie, aber wahrscheinlich bekommt man dort seinen Reisepass schneller. Auf der anderen Seite will man von dort auch dringender weg. So schließt sich der Kreis. Auf gar keinen Fall darf man die Berliner Gelassenheit mit Resignation verwechseln, es ist eher ein natürlicher Umgang mit dem Leben in einer Millionenstadt.
Die CDU: „Komm zu mir in den Keller, hier ist es schön feucht und einsam.“
Richtig fuchsig wurden die Berliner im letzten Jahr erst, als offensichtlich wurde, dass sowohl der zuständige Sozialsenator als auch der für diese Personalentscheidung zuständige stellvertretende Regierende Bürgermeister (beide CDU) die Flüchtlinge Wochen lang im Regen stehen ließen. Man regte sich also nicht über die Flüchtlinge auf, sondern über das Missmanagement.
Vor ein paar Wochen kamen dann einige auf die großartige Idee, eine recht unsaubere Kampagne gegen Michael Müller zu lancieren. Sie verfolgten dabei offensichtlich das alte Wahlkämpfermotto: „Wenn Du nicht zu Deinem Gegner aufschließen kannst, dann zieh ihn zu Dir runter.“ Das ist immer ein gefährliches Spiel, aber in Zeiten politischer Irritationen nicht nur gefährlich, sondern saudumm. Auch in Folge des Rohrkrepierers segelt die CDU immer stabiler unter 20% und ein Ergebnis wie in Hamburg 2015, als sie in Deutschlands zweitgrößter Stadt mit 15,9% nach Hause ging, ist möglich. Der Spitzenkandidat, Frank Henkel, darf die Partei zum zweiten Mal „führen“ und hat sich daher in entscheidenden Themen klar positioniert. Etwa als er beim Mitgliederentscheid seiner Partei zur Homoehe auf einer Skala von 1-6 knallhart die Position „Bin wahrscheinlich eher ein bisschen dafür“ ankreuzte. Seine piefige Partei kreuzte „Bin voll dagegen“ an. Interessiert hat es eh keinen, aber so ungefähr kann man sich auch seinen sonstigen Regierungsstil vorstellen. Es ist eben ein schmaler Grat zwischen einer ruhigen Hand und Lethargie.
Die Grünen: „Vier sind mehr als eine und vier sind mehr als zwei, wenn Du mich nicht leiden magst, dann bleiben ja noch drei“.
Die Grünen haben sich nach dem Künast-Schock 2011, bei dem vor allem die Grünen selbst von den rüden Umgangsformen ihrer Spitzenfrau geschockt waren, auf eine lustige Doppel-Doppelspitze verständigt. Nein, das ist kein Fehler von mir, sie haben tatsächlich 2×2 Spitzenkandidaten. Dies geschah vermutlich auch in Ermangelung eines strunzkonservativen rüstigen Rentners, die ja sonst zur Zeit bei den Grünen hoch im Kurs stehen. Mit Ströbele hätte man zwar einen rüstigen Rentner gehabt, aber der ist seiner Partei natürlich viel zu links und vermutlich auch ein bisschen peinlich. Tatsächliche Politik ist denen heute eher suspekt und man setzt lieber auf einen funktionierenden „Kapitalismus mit Pfiff“, wie etwa die aktuelle Plakatheadline: „Unsere wichtigsten Start-Ups: Kinder“ beeindruckend schlicht unterstreicht. Da dürfen die Helikoptereltern in ihrem Loft doch entspannt mit einem veganen Sojadrink drauf anstoßen: Die Kids werden direkt nach der dreisprachigen Privatkita bei Rocket Internet anfangen und verkratzen nicht länger die Landhausdielen.
Zurück zur Viererbande die man so nicht nennen darf, denn der Begriff ist historisch besetzt (go, google it). Quartett wäre für den Zustand der Berliner Grünen zu harmonisch. Ich entscheide mich für Quad: Macht viel Lärm, aber am Ende doch keinen Sinn. Wie auch immer: Jetzt kann sich jede Spitzenkraft hinter der anderen verstecken, frei nach dem Motto „vier sind mehr als eine und vier sind mehr als zwei, wenn Du mich nicht leiden magst, dann bleiben ja noch drei“. Das gelingt so gut, dass sie bereits an der CDU vorbeigezogen sind. Prompt werden sie von der konservativen Presse in Richtung Grün-Schwarz-Gelb geschoben. Na klar. Genau. Für ungefähr 70% aller Berliner Wählerinnen und Wähler gleichbleibend mit einer Koalition direkt aus der Hölle und einer geballten Berlin-Kompetenz von ungefähr minus 823 auf einer Skala von plus 5 bis minus 823.
Wer für die Linke antritt weiß ich nicht, aber das ist ja auch deren Wählern völlig egal. Hauptsache Gysi. Die Piraten haben sich faktisch aufgelöst, die FDP entsteigt in zombiesker Eleganz mit Retro-Themen wie „Tegel-offen“ (Gähn) langsam ihrer Gruft und die AfD rührt auch hier ihr braunes Ursüppchen aus Alles-Hassern, Putin-Lovern und „Schuld-an-meiner-beschissenen-Laune-sind-alle-nur-ich-nicht“-Frohnaturen. So weit, so absehbar.
Der Berliner: „Ist mir egal, ist mir egal.“ Oder nicht?
Doch das alles kann doch einen Berliner in der Sonne nicht erschüttern.
Aber dann, am 18. September geht es um ein bisschen mehr. Es geht darum, wie man das Wachstum dieser Stadt mit jährlich über 40.000 Neu-Berlinerinnen und Berlinern organisiert (Nettozuzug ohne Flüchtlinge). Wie man den sozialen Zusammenhalt stärkt, statt neue Gräben aufzureißen. Wie man eine Politik für die ganze Stadt macht und nicht nur für die Stammklientel in den eigenen Parteihochburgen. Es geht darum, wer das Zeug dazu hat, diese Stadt mit Verantwortungsbewusstsein, hohem persönlichem Einsatz, Kompetenz und Erfahrung zu führen.
Und es geht darum, wie klar und deutlich die Berlinerinnen und Berliner Stellung beziehen. Denn sie leben ja nicht irgendwo, sondern in der Hauptstadt der Toleranz, der Weltoffenheit, der Kultur, der Freiheit und der Kauzigkeit. In einer Stadt, die von der ganzen Welt geliebt wird und die sich alles in allem auch selbst ganz gut leiden kann. Also. Genießt den großartigen Sommer in Berlin!
Wir sehen uns dann.
Aktuelles Fallbeispiel: Wann entscheidet sich der Wähler? Hier der Verlauf von November 2015 bis März 2016 in Rheinland-Pfalz.