„Für clever ist es ein bisschen spät.“ Im Interview auf Deutschlandradio Kultur

Wie positionieren sich die Parteien nach dem Verhandlungs-Debakel? Wie formuliert man eine gewinnende Strategie im Verlieren? Was eint Christian Lindner mit Donald Trump außer ihren Twitter Accounts?

Antworten versuche ich im Gespräch mit Liane von Billerbeck auf Deutschlandradio Kultur zu geben.

In der Mediathek vom 21.11.2017, Studio 9, 7:40 Uhr

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Nach vorne denken. Teil 1

Eine kleine, lockere Serie an Denkanstößen für sozialdemokratische Parteien im Selbstfindungsmodus. Heute: Mobilität.

In Niederbayern fährt der erste Bus ohne Fahrer. Ja gut, es fährt noch ein Begleiter mit wie früher in den Aufzügen, um den Leuten die Angst zu nehmen, aber ansonsten fährt der Zubringer von alleine. In Berlin und anderorts wird das auch gerade erprobt.

Man kann das jetzt so sehen: OH MEIN GOTT – ALLE BUSFAHRER VERLIEREN IHRE ARBEIT UND ALIENS ÜBERWINTERN AUSGERECHNET GERADE JETZT IN WEST VIRGINIA. Oder man kann es als eine große, unverhoffte Chance für die Mobilität im ländlichen Raum und in einer alternden Gesellschaft sehen. Eine Zukunft, in der wir die Menschen für Besseres gebrauchen können, als ein Fahrzeug im Kreis zu fahren. Anders ausgedrückt. Bevor es Busse gab, haben die Busfahrer auch etwas anderes gemacht – und das ist noch gar nicht so lange her. Die Welt dreht sich.

Mobilität ist ein Riesenthema der Zukunft. Der sehr nahen Zukunft. Eigentlich der Gegenwart. Aus vielerlei Gründen. Wir erleben weltweit und auch sehr deutlich in Deutschland einen Metropolentrend. Der hat bei stagnierender oder abnehmender Bevölkerungszahl automatisch eine Landflucht zur Folge. Das erleben die zurückgebliebenen Menschen in diesen ländlichen Regionen als spürbaren Niedergang. Wenn junge Leute fehlen, fehlen Kitas, Schulen, Busse, Läden, Leben. Das wird man nicht für alle Regionen ändern können, denn das ist eben der Lauf der Zeit. Es sind in der Geschichte der Welt schon blühendere Regionen untergegangen als das Erzgebirge.

Für andere Regionen gilt das aber nicht – oder nicht mehr lange. In Deutschland befinden wir uns gerade auf einem Scheideweg. Die Metropolen werden für viele junge Menschen – und hier natürlich besonders die Familien – immer unbezahlbarer. Als junger Mensch wechselt man noch häufiger den Wohnort, zieht zusammen (hin und wieder auch wieder auseinander), gründet eine Familie, bekommt Kinder, braucht mehr Raum und wechselt daher natürlich häufiger die Wohnung. Oder würde es gerne. Denn jeder Wohnungswechsel in einer Metropole wie München, Frankfurt, Hamburg, Düsseldorf, Köln, Berlin etc. ist in der heutigen Zeit eine schier unlösbare und meist auch unbezahlbare Angelegenheit.

Man kann jetzt in der zu kleinen Wohnung warten, bis Gegenmaßnahmen ziehen (so sie denn gegen den Widerstand von CDU/CSU und FDP überhaupt durchgesetzt werden können) – oder man überlegt sich, in die Umgebung zu ziehen. Die „Speckgürtel“ rund um die deutschen Metropolen boomen und dehnen sich immer weiter aus – in die ländlichen Regionen. Gerade dort hat man aber in den vergangenen Jahren die Infrastruktur zurückgebaut, sträflich vernachlässigt oder kaputtgespart. Meist alles zusammen. Nicht selten fahren Busse – wenn überhaupt – in unmöglicher Taktung (2-3-Stunden-, manchmal 4-Stunden-Takte sind keine Seltenheit), der Schienenverkehr wurde stillgelegt und Personal fehlt auch (weil die jungen Menschen weggezogen sind).

Aber nur eine funktionierende öffentliche Nahverkehrsversorgung wird die Lage in den Metropolen entspannen und die ländlichen Regionen wieder attraktiv machen. Von der digitalen Infrastruktur mal ganz abgesehen, die es selbstverständlich auch dringender denn je braucht. Selbstfahrende Busse, reaktivierter Schienenverkehr, kurze Taktungen, Ladeinfrastruktur (nicht nur für e-Autos – auch für e-Roller etc.), Fahrradschnellwege, Sharingangebote für das Land – es ist so viel zu tun. So vieles kann unternommen werden, wovon die Menschen sofort profitieren und politische Entscheidungen erlebbar werden.

Aber dafür muss man – ACHTUNG – zuerst das Angebot schaffen – dann kommen auch die Menschen. Das würde aber natürlich bedeuten, dass man vorausschauende Politik macht und nicht Reparaturpolitik. Dass man in die Zukunft investiert und es auch aushält, wenn die Zukunft erst drei Jahre später vorbeischaut. Mit etwas Verwegenheit könnte man das sogar eine kleine Vision nennen. Die kann dann ja noch wachsen.

Mobilität ist eines der drängendsten, akuten Gegenwarts- und Zukunftsthemen. Ich finde, es sollte eine absolute Priorität für eine Partei sein, die sich um die Menschen kümmert. Ich finde das Thema sogar spannender als Personalgeschacher zwischen Parteilinken, Seeheimern und Netzwerkern oder Debatten über Reformprogramme von vor 20 Jahren. Aber das kann man natürlich auch anders sehen. Viele Wege führen zum Erfolg.

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Niedersachsen – da geht noch was.

Aus aktuellem Anlass wiederhole ich hier mit klugscheißenden Grüßen meinen Blogbeitrag vom 10. August 2017. Der erklärt auch im Nachhinein noch einiges.

10.8.2017:

Auf den ersten Blick sieht das mal wieder wie ein klares Rennen aus. Auf den zweiten Blick hat Stephan Weil nicht die schlechtesten Chancen, MP zu bleiben. Warum?

Jetzt sind die ersten Umfragen nach dem Seitenwechsel in Niedersachsen raus und wie zu erwarten war, sind sie nicht rosig für die SPD. Die Regierungspartei notiert bei 28-32%, die CDU bei 40-41. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass bei INSA die SPD bereits im Mai bei nur 27% lag, die Partei bei der Landtagswahl 2013 auch nur 32,6% bekam und seither in keiner Umfrage (außer einer selbst bestellten) über 33% gekommen war.

So gesehen ist die jüngste Umfrage der ARD nach einer – verhalten ausgedrückt – sehr schlechten Woche für die Rot/Grüne Koalition eine realistische aktuelle Bestandsaufnahme. Warum die SPD sich dennoch Hoffnung machen kann, am Ende als stärkste Partei aus der Wahl im Oktober hervorzugehen, liegt an den weiteren Daten der Erhebung. Und ihrer Einordnung in die Landtagswahlen der letzten 24 Monate.

Laut Niedersachsen-Trend der ARD, erhoben von Infratest Dimap vom 8.-9. August, sind heute immerhin noch 56% der Niedersachsen mit der Arbeit der Rot/Grünen Landesregierung zufrieden. Das unterscheidet sich deutlich von den abgewählten Koalitionen in NRW 2017 (nicht zufrieden: 53%) oder Berlin 2016 (nicht zufrieden: 60%).

Das kann entscheidend sein. In Rheinland-Pfalz hatte Malu Dreyer mit ihrer SPD zum Beispiel einen Rückstand von 10% rund 3 Monate vor der Wahl – aber ihre Landesregierung lag immer deutlich im Plus. Am Ende gewann sie mit 4,4% Vorsprung. Ministerpräsident Stefan Weil liegt in der Direktwahlfrage zwar keine überragenden 11% vor seinem Herausforderer (45:33), aber auch das war in Rheinland-Pfalz nicht viel besser. Im Dezember lag Malu Dreyer noch bei 43% in der Direktwahl, einen Monat später schon bei 53%.

Meine Erfahrung der letzten Jahre ist: Bei den Landtagswahlen konzentriert sich alles kurz vor der Wahl tatsächlich auf die Landespolitik und dann hat die stärkste Regierungspartei gute Chancen, auch stärkste Partei zu bleiben – sofern nicht nur der MP, sondern auch die Landesregierung positiv bewertet werden.

Nun wird die kurz zuvor stattfindende Bundestagswahl auch noch Auswirkungen haben und was aus Wolfsburg noch alles kommt, da fehlt einem doch bald die Phantasie– andererseits sind die erdverwachsenen Niedersachsen auch ein ganz eigenes Volk mit eigenem Dickkopf, das sich von äußeren Einflüssen wenig beeindrucken lässt.

Niedersachsen wird wohl spannender werden, als es der erste Blick vermuten lässt.

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PS: Nein, ich habe mit diesem Wahlkampf nichts zu tun. Ich sehe das nur so.

Lasst sie gehen.

Vor vier Jahren gab es sehr gute Gründe für einen Einstieg in die Große Koalition und das Mitgliedervotum der SPD unterstützte diesen Kurs. Heute gibt es sehr gute Gründe, andere regieren zu lassen und auf Macht, Einfluss und Gestaltungsspielraum zu verzichten.

Nein, es war kein Automatismus, dass die SPD zwingend so geschwächt aus einer Großen Koalition gehen würde. Dazu gehörten schon auch eine gehörige Portion Gabrielscher Zick-Zack-Kurs mit dem wiederholt verantwortungslosen Umgang bei der Vorbereitung von Kanzlerkandidatur und Wahlkampfstrategie, sowie der immer noch herumspukende Irrglaube, man könne die SPD mit den Rezepten von gestern und vorgestern neu aufstellen.

Wie schwach Merkel und die Union tatsächlich aufgestellt waren, zeigte sich nicht nur im Aufglimmen der SPD nach der Nominierung von Martin Schulz – sondern eben auch am Wahltag selbst. Merkel war schlagbar, doch ein Wahlkampf der verpassten Chancen ließ sie noch einmal davonkommen.

Noch schlimmer verlief allerdings der Wahlkampf der Union. Ende Juni noch bei 40% in den Umfragen – und erst dann begann ja die heiße Phase – verlor die Union satte 7% durch die wohl bräsigste, arroganteste und selbstgefälligste Bundestagswahlkampagne der Neuzeit. „Für ein Deutschland in dem wir gut und gerne leben“ eignet sich vielleicht als Motto für das Dr. Oetker Kochstudio, aber mit Sicherheit nicht als Guideline für die Kanzlerpartei in einer massiven Zeitenwende. Die Wähler fühlten sich zu recht veräppelt und flüchteten sich – nicht vordringlich zur AfD – sondern vor allem zur FDP oder in die Nichtwählerschaft.

Das Versagen aller drei Regierungsparteien – und auch die intellektuelle Unterforderung der progressiven Wählerinnen und Wähler im Wahlkampf – machte das Ausfransen an den Rändern erst möglich. An manchen Tagen fühlte ich mich wie ein Telefonseelsorger und beantwortete Fragen wie: „Ich möchte nicht, dass die SPD untergeht, aber ich möchte auch nicht, dass sie weiter regiert – was soll ich tun?“ Antwort: Wähl sie trotzdem, es wird schon schlimm genug werden. Oder: „Ich kann das Grünen-Duo nicht leiden, bei der Linken stören mich die Putin-Lover und die SPD soll nicht mehr regieren – wen soll ich wählen?  Antwort: „Dann wähl halt die Grünen, wenn es sonst passt, es ist ja kein Sympathiewettbewerb.“ Und dann kamen natürlich auch einige, die Frau Merkel unterstützen wollten, aber nicht auf die Gefahr hin, damit Herrn Seehofer zu stärken. Tja. Eine Antwort auf die Schizophrenie der Union hatte ich nicht. Die FDP kam natürlich auch vor, weil sie im Gegensatz zu allen anderen auch einen Grafiker bezahlt hatte. Dort störte wiederum die legere Haltung zum Umweltschutz (Motto: Nur nicht einmischen, das wächst von alleine nach).

Beim Wahl-O-Mat siegten bei mir erstmals in meiner persönlichen Geschichte die Grünen. Ich nehme an, es war die Braunkohle. Aber am Ende lasse ich mir von einem schnöden Programm meine Fehlentscheidungen nicht verbieten. Die Grünen landen dann auch ohne mich – nach 13% in den Umfragen im November letzten Jahres – auf einem sehr mageren letzten Platz mit einem Ergebnis von 8,9%, für das Jürgen Trittin vor vier Jahren sofort zurücktreten musste (8,4%). Sie feiern sich dusselig.

Es war ein Trauerspiel.

Ein völlig unnötiges Trauerspiel. Spannende Themen lagen zu Hauf auf der Straße, wurden aber ignoriert. Auch von den mindestens ebenso denkfaulen Fragestellern in den meisten Talkrunden und dort vor allem in dem unsäglichen „DUELL“. Ein in den ersten 40 Minuten lupenreines AfD-Förderprogramm (Maischberger: „Man hat uns versprochen, dass nur gut ausgebildete Akademiker kommen“ Wer? Wann? Quelle?), bei dem ich zum ersten Mal im Leben ernsthaft Zweifel an meinen Gebühren für die Öffentlich-Rechtlichen bekam. Man nimmt ja vieles an Volksberieselung in Kauf in der Annahme, dafür Qualitätsjournalismus zu bekommen. In diesem Wahlkampf leider Fehlanzeige bis hin zur Elefantenrunde danach. Bei der ich erstmals Sympathie für Frau Kipping empfand, die auch dort einmal auf ein paar wirkliche Themen zu sprechen kommen wollte. Der Moderator verhinderte dies erneut mit aller Kraft.

Jetzt will die SPD nicht mehr und ich kann sie verstehen. Wenn mir jetzt wieder einer damit kommt, dass die SPD Verantwortung übernehmen müsse, dann wäre hier meine Antwort: Deutschland ist nicht im Krisenmodus und es steht auch nicht der Untergang vor der Türe. 87% der Deutschen haben nicht AfD gewählt, dafür die Union zur stärksten Kraft gemacht und zwei kleinere, demokratische Parteien ins Parlament gewählt, die in einem Bundesland bereits miteinander koalieren.

Sowohl die Grünen als auch die FDP haben die Regierung in diesem Wahlkampf hart angegriffen – was ja ihr Job ist – und haben jetzt die Gelegenheit, mit ihren Konzepten zu liefern. Diese Chance haben sie sich redlich verdient. Die Grünen wollten ja eh mit Frau Merkel regieren, die FDP auch, dann wird ja auch einem flotten Dreier nichts im Wege stehen. Frau Merkel jedenfalls nicht.

Die SPD wurde nach allgemein anerkannten politischen Erfolgen in der Regierung mit dem schlechtesten Ergebnis in der Geschichte nach Hause geschickt. Man kann beim besten Willen von ihr nicht verlangen, diesen Wählerwillen zu ignorieren und weiter zu regieren.

Sie stand nun vor der Frage, der AfD die Position der stärksten Oppositionspartei zukommen zu lassen, oder selbst diese Rolle zu übernehmen. Sie verzichtet auf entscheidende Häuser: Das Arbeits- und Sozialministerium, das Wirtschaftsministerium, Justiz-, Familien-, Umweltministerien mit all den politischen Einflussmöglichkeiten und auch den entsprechenden Posten. Das ist ein bisher einmaliger Vorgang.

Die SPD leistet mit ihrem Gang in die Opposition einen wichtigen Beitrag für die Demokratie. Es ist dabei trotz allem ein mutiger Schritt. Denn Opposition alleine bedeutet noch keine Rekonvaleszenz, wie die Jahre 2009-2013 – und vor allem auch dort mal wieder die versemmelte K-Frage gezeigt haben.

Diesmal aber geht es um alles – auch um die Existenz. Die SPD befindet sich seit 2002 in einem permanenten Niedergang. Sie wird daher auch einen langen Weg gehen müssen, um wieder stark zu werden. Sie wird ihre Programmatik aktualisieren müssen – und das bei einer alternden Mitgliedschaft- und Gesellschaft. Sie wird intensiv junge Talente suchen und fördern müssen. Sie wird sich in den Ländern organisatorisch neu aufstellen – und vermutlich auch den finanziellen Kahlschlag der letzten Jahre verarbeiten müssen.

Und dann muss sie eine überzeugende Oppositionsarbeit leisten, die nicht nur die neue Regierung herausfordert, sondern auch die Feinde der Demokratie rechts von ihr.

Das wird ein hartes Stück Arbeit. Dafür braucht die SPD alle verfügbaren Kräfte. Und unsere Hochachtung für diesen Dienst an der Demokratie. Lasst sie gehen.

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