Rechtsdrift – Der Untergang der liberalen Liberalen

Es gab Grund zu zweifeln, es gab Grund zu hoffen. Niemand konnte ahnen, ob und wie die FDP sich in der außerparlamentarischen Opposition erneuern würde, und auf dem Weg zum am Ende fulminanten Wiedereinzug in Länderparlamente und Bundestag ließ Christian Lindner auch diverse Testballons in Richtung Rechte starten. Am Ende aber setzte er auf eine Kampagne, die neben dem verbliebenen Stammkapital von 3-4% vor allem auf eine moderne, urbane und digitale Bohème setzte. Oder auf die, die sich dafür hielten.

Das machte strategisch auch großen Sinn. Die SPD ließ das Klientel nach dem Entgleisen des Schulz-Zuges eher irritiert zurück, die CDU – und vor allem die krakeelende CSU, war das Gegenteil von attraktiv, die Grünen kamen vielen modernen Wählern noch zu zauselig daher, und wenn Lindner eines kann, dann modern daherkommen.

Jetzt allerdings gibt es Konkurrenz. Die Grünen erscheinen moderner als noch 2017 und graben an eben dieser Wählerschicht, die Lindner deutlich über den Durst in den Bundestag hievte. Von nun an ging’s bergab. Nach dem kurios begründeten Ausbüxen vor tatsächlicher Verantwortung und einem bis dato sehr kümmerlichen Dasein als nicht vorkommende Oppositionspartei, macht man sich in der FDP zu recht Gedanken, wie das denn weitergehen soll. Denn natürlich ist alles sehr fragil für alle im deutschen Parteiensystem des Jahres 2018.

Aus unseren eigenen Untersuchungen – und die werden bei der FDP nicht anders aussehen – wissen wir, dass es mit der modernen FDP nur ein Jahr später nicht mehr weit her ist. Die moderne Bohème ist ein flüchtiges Völkchen und wer sich heute zur FDP in unseren Gruppen bekennt, ist stockkonservativ. Manchmal noch konservativer als die CDU. Es ist ein in weiten Teilen kleinbürgerliches, um nicht zu sagen regelrecht spießiges Mittelstandsvölkchen, das außer dem eigenen Wohlergehen absolut nichts weiter im Sinn hat. Soziale Verantwortung, ob im In- oder Ausland, ist völlige Fehlanzeige, die Grenzen sollten doch eher zu als offen sein, Umweltschutz ist Firlefranz und das Einzige, das einen Hauch an Internationalität versprüht, ist globaler Handel – solange er für die eigene Tasche mehr Kohle verspricht. Und was liberale Bürgerrechte angeht – die sind nicht ganz so wichtig. Wichtiger ist doch Recht und Ordnung.

Das ist der verbliebene FDP-Wähler 2018. Und nun blasen angesichts der Entwicklung von Chemnitz Herr Wolfgang „Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im ‚Wir schaffen das‘ von Kanzlerin Angela Merkel“ – Kubicki, Herr Sebastian „Antifaschisten sind auch Faschisten“ – Czaja und natürlich auch Herr Christian „Die Migrationspolitik von Angela Merkel hat unsere politische Kultur verändert. Zum Schlechteren.“ – Lindner innerhalb von 24 Stunden ins selbe rechte Horn. Ein Depp, der da an Zufall denkt.

Nun, man wird sehen, was weiter geschieht. Aber mit jeder weiteren Rechtsdrift wird es für die FDP schwerer werden, die Wählerkoalition von 2017 zu halten bzw. wiederzubeleben. Das ist insofern beachtlich, als es aus unserer Perspektive wesentlich leichter wäre, diese Wählerkoalition 2018 progressiv weiterzuentwickeln. Lindner und manche seiner erfolgreichen LandespolikerInnen hätten durchaus das Zeug, weit in das – übrigens stetig wachsende – progressive Klientel der Republik vorzudringen. Also gerade bisherige Merkel-Wähler der Union zu gewinnen, die mit einer rechtsdriftenden Union der Söders, Spahns etc. absolut nichts anzufangen wissen.

Sie könnten auch den Grünen-Aufschwung stoppen, denn ein Robert Habeck mag zwar für manche progressive Unionisten attraktiv erscheinen, aber der Rest seines Ladens eben nicht. Und natürlich wären auch noch vagabundierende Sozis zu holen. Nur von der AfD halt nichts. Von der ist aber so oder so nichts zu holen. So weit rechts kann die FDP gar nicht driften, um heutige AfD-Wähler, die wirklich alles, aber auch alles massiv ablehnen, was man unter Zivilisation des 21. Jahrhunderts versteht (Gleichberechtigung der Frauen, Soziale Sicherheit (außer für einen selbst), Europa, Umweltschutz, Minderheitenrechte (außer für einen selbst), Bürgerrechte (außer den eigenen), Digitalisierung (außer für die eigenen Hass-Tweets) und so weiter und so fort, für sich zurückzugewinnen.

Nun könnte man sagen, dass sich doch zwischen dem FDP und dem AfD-Wähler vor allem ein verbindendes Element aufdrängt, nämlich ein kristallklarer und ungetrübter Egoismus. Damit hätte man selbstverständlich recht. Aber es handelt sich durchaus um unterschiedliche Ausformungen des Egoismus. Der Egoismus des FDP-Wählers ist insofern klar und rein, als es ihm wirklich nur um sich selbst geht. Dem AfD-Wähler geht es um sich selbst, aber gleichzeitig soll es allen anderen auch noch richtig dreckig gehen. Es ist die Kombi von Selbstüberhöhung als meist korpulenter Herrenmensch mit Hass auf alle anderen, die diese Klientel so ungenießbar für alle anderen macht.

Kurzum – die Strategie der FDP ist auf den ersten Blick stimmig – auf den zweiten aber schon nicht mehr. Denn der FDP-Wähler sieht sich natürlich selbst auch als viel zu elitär an, als dass er sich mit dem pöbelnden Bäh der AfD-Wähler gemein machen wollte. Und für den AfD-Wähler ist die FDP die Inkarnation jener verhassten Elite, die ihn nachts dreimal mit besoffenem Kopp zum Hassposting rausmüssen lässt.

Die Rechtsdrift macht für die FDP also strategisch gar keinen Sinn. Es kann daher nur eine einleuchtende Erklärung geben. Die Herren Czaja, Kubicki und Lindner glauben einfach an das, was sie twittern. Das wäre immerhin glaubwürdig. Und abgründig.

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Die Stagnatikerin

Was Bundeskanzlerin Merkel in ihrer vierten Amtszeit anstrebt, hat mit Pragmatismus absolut nichts mehr zu tun. Es ist plumpes Taktieren, pure Stagnation und besorgniserregende Realitätsverweigerung.
Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass diese Kanzlerin absolut nichts mehr antreibt als das eigene Überleben im Amt, dann sollte man sich einfach nur ihr völlig missglücktes Sommerinterview ansehen. Im Vorfeld hatte sie mit Erzfeind Seehofer ein paar Wordings abstimmen lassen, damit wenigstens diese Front nicht schon wieder aufreißt. Ihr Ziel war es, Seehofer zu befrieden, und nicht das Land zu regieren. Um dieses Zieles willen, ließ sie ihren (eigentlichen) Parteifreund, den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein (go, google him) eiskalt auflaufen.

Das Argument, gut ausgebildete Flüchtlinge, müsse man trotz Fachkräftemangels zurückschicken, weil sie sonst nur noch mehr Flüchtlinge anlocken würden, ist mit nichts einfacher zu widerlegen, als mit einer Stichtagsregelung. Von mir aus mit dem 31.12.2016. Denn in 2015 und 2016 hat die Politik an viele Mittelständler und die Wirtschaft dringend appelliert, Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Asylbewerber zu schaffen, um die Integration zu erleichtern. Heute lässt Merkel diese Leute im Regen stehen. Mittelständler und Unternehmer, die nichts anderes gemacht haben, als dem Appell der Bundesregierung und der Kanzlerin zu folgen, können heute zusehen, wie ihre Kolleginnen und Kollegen, in die sie viel Herzblut, Einsatz und auch Geld investiert haben, die Koffer packen müssen.

Es ist wie bei der Ehe für Alle, die Merkel erst verbal einführen wollte, um dann tatsächlich im deutschen Bundestag mit Nein zu stimmen. Man kann das Taktik nennen, Strategie, Unverschämtheit oder das, was es ist: Verlogenheit und ein Förderprogramm für Politikverdrossenheit.

Als Höhepunkt ihres Auftakts ins Nichts, wurde von Merkel in ihrem Sommerinterview jede Initiative, die Renten über das Jahr 2025 hinaus zu sichern, als verantwortungslose Panikmache gebrandmarkt. 2025. Das ist übermorgen. Die Unsicherheit ist längst da und kriecht durch die gewaltig große Generation der Babyboomer, die noch vor der Pille auf die Welt kamen, aber nach der Pille nicht mehr unkontrolliert Kinder in die Welt setzten. Es ist die Generation der 50-55-Jährigen. Und überraschenderweise exakt die Generation, in der wir seit Jahren den höchsten Grad an Verunsicherung messen – unabhängig vom gegenwärtigen Wohlstand.

Und das überrascht nicht. Verunsichert sind nämlich nicht die heutigen Rentner und auch nicht die, die in den nächsten 10 Jahren in Rente gehen. Verunsichert sind vor allem die, die in den nächsten 20-25 Jahren in Rente gehen. Denn sie bewegen mehrere Faktoren:

1. Die Frage, wie weit ihr Arbeitsplatz in Zeiten der Digitalisierung weiter Bestand haben wird.
2. Die Frage, wie sie sich um ihre immer älter werdenden Eltern und ihre Kinder im Teenage-Alter kümmern sollen, während gleichzeitig die Anforderungen im Beruf weiter wachsen.
3. Die Frage, wie steigende Mieten in den Ballungsräumen oder auch Werteverfall von Eigentum auf dem Land in Zukunft zu bewältigen sind.

Warum die Jüngeren nicht so beunruhigt sind, obwohl sie mitten in diesem Umbruch in die Arbeitswelt vorstoßen? Nun, weil sie jung sind. Weil sie gefragt sind und in einer Phase aufwachsen, in der sich viele von ihnen die Arbeit aussuchen können und nicht umgekehrt. Außerdem sehen junge Menschen noch jede Menge Chancen, ihr Leben frei gestalten zu können, während sich diese Freiheit und auch Unbekümmertheit ab einem gewissen Alter legt. Auch, weil man mit 50 meist erkennen muss, doch nicht mehr Superstar, Tenor, InfluencerIn, AbteilungsleiterIn oder Ballerina werden zu können.

Nicht jede der Sorgen der Babyboomer ist begründet. Und jeder von uns hat sich an vielen Stellen auch schon unbegründet Sorgen gemacht. Aber gleichzeitig waren die Umbrüche der Arbeitswelt, der globalen Vernetzung und des demografischen Wandels in den vergangenen 50 Jahren noch nie so massiv wie heute – zumindest für den Westen Deutschlands. Der Osten erfährt wiederum die zweite Phase massiver Veränderung innerhalb von 30 Jahren. Was auch dortige noch stärkere Populismustendenzen erklärt, wenn auch nicht entschuldigt.

Es ehrt daher den Koalitionspartner, wenn er dieses Thema jetzt massiver in die jetzige Regierung einbringt. Wenn es der Anspruch dieser Regierung sein sollte, nach dem späten Start (wir erinnern uns an die Arbeitsverweigerung der FDP), jetzt Lösungen über den Tag hinaus auf den Weg zu bringen, dann sollte das auch das Ziel der Kanzlerin sein.

Es ist aber nicht ihr Ziel. Für unsere Kanzlerin ist das Nachdenken über eine der zentralen Säulen unseres sozialen Zusammenhalts über die nächsten 6 Jahre hinaus, das Schüren von Ängsten. Zumindest bis zur Bayernwahl. Und dann bis zur Europawahl und dann bis zur nächsten Landtagswahl und der übernächsten. Ab wann will Merkel eigentlich regieren?

Eine Kanzlerin der Stagnation ist der eigentliche Anlass, besorgt zu sein.

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Ein Blick nach Hessen

Man kann in Bayern viel erwarten – also das schlechteste CSU Ergebnis oder ein spannendes Rennen um die Plätze – nur keine Regierung ohne die CSU. Oder es fehlt mir die Phantasie. In Hessen kann es nach dem 28. Oktober aber durchaus eine Regierung ohne die CDU geben. Und dafür braucht es gar nicht mal viel Phantasie.

Betrachtet man die großen Schlachten in den Flächenländern der letzten zwei Jahre – also Niedersachsen, Schleswig-Holstein, NRW und Rheinland-Pfalz so haben sie eines gemeinsam: Es hat nie die Partei gewonnen, die acht Wochen vor der Wahl in Führung lag. Und zwar zum Teil deutlich in Führung.

Niedersachsen:
Ergebnis am 15.10.2017: CDU 33,6%, SPD 36,9%
Infratest am 10.8. 2017: CDU 40%, SPD 32%

NRW:
Ergebnis am 14.5.2017: CDU 33%, SPD 31,2%
Infratest am 19.3.2017: CDU 30%, SPD 37%

Schleswig-Holstein
Ergebnis am 7.5.2017: CDU 32%, SPD 27,2%
Infratest am 16.3.2017: CDU 27%, SPD 33%

Rheinland-Pfalz
Ergebnis am 13.3.2016: CDU 31,8%, SPD 36,2%
Infratest am 14.1.2016: CDU 37%, SPD 31%

Das bestätigt die These, dass sich besonders bei Landtagswahlen die Wählerinnen und Wähler spät auf diese Wahl konzentrieren und die Umfragen in den Monaten zuvor maßgeblich von bundespolitischen Themen beeinflusst werden. Tatsächlich rückt die LTW immer später in den Fokus – vermutlich erst in den letzten sechs Wochen.

Das nur als kleiner Reminder an alle, die jetzt schon die Messe singen – so wie sie die Messen auf Malu Dreyer, Armin Laschet, Daniel Günther und Stephan Weil gesungen haben. It ain’t over until the fat lady sings, wie alle Opernfreunde wissen.

Entscheidend ist dann, welche Themen den Leuten in dem jeweiligen Bundesland unter den Nägeln brennen – und wem sie am ehesten zutrauen, diese Probleme zu lösen. Es findet auch ein Fokus auf die Probleme statt, die durch eine Landesregierung gelöst werden können – und nicht auf nationaler oder gar internationaler Ebene.

Zur Überraschung vieler nichthessischer Beobachter, steht die Schwarz-Grüne Landesregierung von Volker Bouffier schon über viele Umfragemonate und bei verschiedenen Instituten ohne Mehrheit da. Das ist insofern überraschend, als diese Regierung national als eine Art Probelauf für Schwarz-Grün auf Bundesebene gesehen wurde. Zumindest bis die Grünen 2017 auf dem letzten Platz landeten und die CDU das schlechteste Ergebnis seit 1953 einfuhr. Der Rest ist Geschichte.

Seit ihrem Umfragespitzenwert im Sommer 2015 von 55% ist Schwarz/Grün auf heute 45% um 10 Prozentpunkte abgefallen.

Betrachtet man die drei wichtigsten Themen, die den Hessinnen und Hessen unter den Nägeln brennen und die direkt auch mit der Landesregierung in Verbindung gebracht werden können, so führt mit Abstand das Thema Bildung / Zustand der Schulen vor Infrastruktur/Mobilität und Wohnen/Mieten.

Je näher die Wahl rückt, desto stärker werden diese landespolitischen Themen die Wahlentscheidung beeinflussen und nach den uns vorliegenden eigenen Umfragen sehen die Kompetenzwerte der CDU und des Ministerpräsidenten in allen drei Bereichen nicht gut aus. Um es vorsichtig auszudrücken. Gleichzeitig fällt der MP als Zugpferd ebenfalls aus, notiert er doch beständig deutlich unter den relevanten 50 % (zur Zeit 45%) in der Direktwahlfrage.

Des Weiteren lassen sich übrigens Wählerinnen und Wähler nicht im Geringsten davon beeindrucken, wie in anderen Wahlen entschieden wird. So gaben bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 in Niedersachsen der SPD 27,4% ihre Zweitstimme. Drei Wochen später und nach der herben Niederlage der SPD im Bund entschieden sich im selben Land 36,9% für die SPD.

Man kann daher erwarten, dass die Wahl in Bayern den Hessen völlig zu Recht am Äppler vorbei geht und sie ihre Entscheidung davon abhängig machen, wer Hessen regieren soll.

Im Windschatten von Bayern ist am 28. Oktober in Hessen also so ziemlich alles möglich. Das Wahlverhalten ist so volatil wie noch nie und lässt alles zu: dramatische Last-Minute-Siege ebenso wie dramatische Klatschen und bezüglich der möglichen Regierungskonstellationen auch einen Reigen an 3-er Kombinationen in denen die CDU eine Rolle spielen kann – aber auch nicht. Das wird sich in den nächsten Wochen zeigen – und vielleicht auch erst nach dem 28. Oktober.

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Dieser Beitrag stammt aus dem Blog von richelstauss.de

Alles ist politisch. Auch das Schweigen.

Wir leben in einer Zeit, in der es kein unpolitisches Leben mehr geben kann. Denn das Politische ist viel zu präsent und viel zu laut, um übersehen oder überhört zu werden.

Es gab mal eine Zeit – und die ist gar nicht so lange her – da kam man mit dem Satz: „Ich interessiere mich nicht so für Politik “ noch einigermaßen unbeschadet durch den Tag. Es interessierte sich ein gutes Jahrzehnt lang zwischen 2005 bis 2015 ja noch nicht einmal die Politik besonders für Politik. Merkel regierte mal mit diesem, mal mit jenem Partner emotions- und geräuschlos vor sich hin, Konfliktpotential gab es kaum und für das globale Wohlempfinden sorgte Barack Obama im Weißen Haus. Fußball war Fußball, die multikulturelle Nationalmannschaft eilte vom Sommermärchen zum WM-Titel und die Wirtschaft von der Finanzkrise zu neuen Rekorden. Europa hatte zwar ein großes Problem in Folge der Finanzkrise, aber alles in allem blieb man doch zusammen und griff Spanien, Portugal und Griechenland unter die Arme.

Wie jeder Blick zurück romantisiert auch dieser, um den Blick auf die Gegenwart zu dramatisieren.

Aber die Gegenwart braucht vielleicht gar keine zusätzliche Dramatisierung. Sie ist schon dramatisch genug und jedes Schweigen ein Statement.

Das Schweigen der DAX-Vorstände und anderer prominenter Unternehmer, die zu feige und zu sehr in ihren Krämerseelen gefangen sind, um den Aufruf von Siemens-Chef Kaeser gegen die AfD zu unterstützen.

Das Schweigen und die Feigheit der „Mannschaft“ und ihres Trainers, den offensichtlichen Rassismus der DFB-Spitze bei der „Aufarbeitung“ des WM-Desasters zu kommentieren.

Das Schweigen vieler Kulturschaffenden, die sich zu fein sind, gegen Tellkamp, Safranski, Maron, Sloterdijk und die anderen intellektuellen Trittbrettfahrer der Neuen Rechten Stellung zu beziehen.

Es hat scheinbar einige gegeben, die darauf gewartet haben, dass man endlich wieder von Kopftuchmädchen, Messerstechern, Asyltouristen oder Sozialschmarotzern sprechen darf – und gleichzeitig für AfD, CDU oder CSU im Parlament sitzen kann. Und diese, die gewartet haben, mühen sich jetzt, das Rad weiter zu drehen. Sie mühen sich nun, dem Hass, der Ausgrenzung und der Sündenbockpolitik den philosophischen Unterbau nachzureichen. Oder sie nutzen die neue Verrohung, um sich schnell selbst aus der Schusslinie zu nehmen und andere in diese zu schubsen. Und zwar gerne die, die sowieso schon anders sind.

Nein, es gibt nichts unpolitisches mehr im Alltag. Einem Alltag, in dem schon der Besitz von Kochbüchern Anlass zur Einordnung in „National“ oder „Antideutsch“ geben kann.

In dem der Name eines Menschen Anlass zur anlasslosen Beschimpfung wird. Ein Alltag, in dem Hilfeleistende beschimpft oder gleich verhaftet werden.

Es ist ein Alltag, der denen, die gegensteuern vorwirft, sie würden immer gleich die Nazikeule schwingen. Während die Nazis längst keulenschwingend durch die Straßen, Verbände, Parlamente und Feuilletons ziehen. Aber in welchem Land soll man denn mehr vor Nazis warnen, als in der Heimat der Nazis?

Es ist das Jahr 2018 und es gibt kein unpolitisches Leben mehr. Es sei denn, wir wollen von der Nachwelt später zu denen gezählt werden, die so lange auf dem Vulkan tanzten, bis er sie verbrannte. Aber vorher hatten wir unseren Spaß und unser bequemes, unpolitisches Leben auf der Tribüne.

Dieser Text erschien zuerst auf richelstauss.de