Die Frau. Der Kopf. Das Tuch. Und ich.

Ein Mann mittleren Alters fährt eine Rolltreppe hinauf. Es scheint ein warmer Tag zu sein, denn er hat sein Jacket ausgezogen und hält es mit der rechten Hand über seiner Schulter. Sein Blick fällt auf eine Frau, die ihm auf der Rolltreppe entgegenkommt. Der Gesichtsausdruck des Mannes wirkt offen und freundlich.

Die Frau trägt eine leichte, dunkelblaue Jacke und auf ihrem Kopf ein roséfarbenes, modisch geripptes Tuch, das sie über ihre linke Schulter geschwungen hat. Sie dreht sich leicht in Richtung des Mannes. Im Hintergrund sehen wir weitere Passanten in der Unschärfe. Die Rolltreppe könnte zu einer U-Bahn oder einem Einkaufszentrum gehören.

Es handelt sich also um eine typische Begegnung in einer Metropole, wie sie weltweit täglich millionenfach stattfindet.

Das einzige Überraschende an dem Bild ist, dass es sich bei dem Mann auf der Rolltreppe um den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, handelt.

spdIM6028_Dekade_1_18-1_sRGB_7ed1Die unbekannte Dame mit Kopftuch kann vieles sein.

Eine hier lebende Ausländerin.

Eine hier geborene Deutsche.

Eine der vielen tausend Touristinnen.

Eine Flüchtende.

Eine Gläubige, die andere Religionen und Weltauffassungen akzeptiert und toleriert.

Eine Gläubige, die andere Religionen und Weltauffassungen nicht toleriert.

Eine Frau, die von ihrem Mann unter Druck gesetzt wurde, ein Kopftuch zu tragen.

Eine Frau, die sich frei entschieden hat, ein Kopftuch zu tragen.

Aber eigentlich handelt es sich ja nur um einen Menschen auf einer Rolltreppe. Geht es am Ende gar nicht um die Frau?

Es geht um uns. Wie wir denken, was wir sehen, was wir sehen wollen und was nicht.

Wer weltoffen ist, akzeptiert und respektiert Menschen, die an andere Dinge glauben, sich andere Dinge anziehen und andere Dinge tun. So lange sie sich im Rahmen unseres Grundgesetzes bewegen. Und wie viele von uns wissen, wird die persönliche Toleranzgrenze meist nicht im multikulturellen Zusammenhang getestet, sondern am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, im Verkehr, in der Verwandtschaft oder gleich zu Hause.

Tolerant ist man erst dann, wenn es schwer fällt, tolerant zu sein.

Häufig lohnt sich ein zweiter oder dritter Blick. Hinter manchem Kopftuch verbirgt sich mehr Weltoffenheit, als wir vermuten. Und hinter manchem Politiker mehr Stehvermögen.

CSD_BerlinerZeitung_25.7.16Ein Bild aus der Berliner Zeitung vom 25.7.2016. Im Bericht geht es um den Christopher Street Day. Man beachte die Dame mit Kopftuch links im Bild. Ich denke, sie hat so etwas noch nie gesehen. Ich auch nicht. Sie nimmt es mit Berliner Gelassenheit.

WELT_KopftuchEine eher traurige Meldung aus der WELT vom 19.6.2016

Am 18. September wählt Berlin.
Es geht darum, in welcher Stadt wir am 19. September aufwachen wollen.

 

 

 

 

 

Auf Messers Schneide.

Wie wir in Zukunft in unserem Land leben wollen, entscheidet sich gerade in diesen Tagen. In den Medien, in den Parteien, in uns allen.

Nach Recherchen der FAZ* handelt es sich bei dem Amokläufer von München um einen rechtsextremistischen Attentäter, der bewusst acht Jugendliche im Alter von 14 – 21 Jahren sowie eine erwachsene Frau aufgrund ihres Migrationshintergrundes erschoss. Oder hinrichtete. Nach dem Bericht der FAZ betonte der Attentäter seinen Stolz darauf, am 20. April, also „Führers Geburtstag“ geboren zu sein. Er legte seinen Anschlag bewusst auf den 5. Jahrestag des rechtsextremistischen Attentats von Oslo und Utoya. Er hat die „AfD verehrt“ wie ein Bekannter des Täters dem SPIEGEL* berichtete und er verstand sich als Arier.

Der Attentäter von München hat also an einem Tag fast so viele Menschen mit Migrationshintergrund ermordet wie die rechte Terrorzelle NSU, die über Jahre hinweg in unserem Land hinterrücks Gemüsehändler und Imbissbesitzer abschlachtete.

Ich finde, die Berichterstattung und die politischen Reaktionen zu diesem rechtsextremistischen Hintergrund eines Mehrfachmörders fallen eher verhalten aus. Aber das bin vielleicht nur ich. Fakt ist: Wenn labile Menschen für IS-Propaganda anfällig sind, dann sind offenbar andere labile Menschen für AfD-Propaganda anfällig. Wer Hass sät, erntet Hass. Diese Geschichte ist so alt wie die Welt.

Weniger verhalten wiederum fällt das Polit-Floskel-Bingo zu den Attentaten von Würzburg und Ansbach aus. Die üblichen Verdächtigen von CDU/CSU, AfD und Linkspartei überbieten sich gegenseitig wieder darin, wer auf Kosten bereits genug gebeutelter Menschen noch mehr Öl ins Feuer gießen darf. Ja, liebe Linke, so lange ihr Beatrix von Wagenknecht in euren Reihen duldet, gehört DIE LINKE leider mit in diese Aufzählung. Bewusst gesetzte Aufreger-Tweets die man dann ebenso gespielt unschuldig wieder zurück nimmt, sind das Handwerkszeug eiskalt berechnender Populisten.

Berlins immer peinlicher agierender Innensenator Henkel (CDU) verstieg sich gar zu dem Zitat: „Wir haben offenbar einige völlig verrohte Personen importiert, die zu barbarischen Verbrechen fähig sind, die in unserem Land bislang kein Alltag waren.“ Nein, er sprach nicht vom Adolf aus Österreich. Und ob die von Henkel angesprochen Verbrechen Alltag werden, sei noch einmal dahingestellt. Aber dies Stunden nach dem tatsächlich tödlich verlaufenen Amok-Attentat eines Deutschen in München zu behaupten, zur selben Zeit, als die unsagbar grausamen Verbrechen eines Deutschen an zwei Kindern in Berlin verhandelt werden, in einer Zeit, in der ein Deutscher vor wenigen Wochen in Grafing wahllos auf Passanten einstach und dabei einen von ihnen tödlich verletzte, in einer Zeit, in der ein Deutscher einer Kölner Lokalpolitikerin in den Hals sticht und sie beinahe tötet und natürlich auch in einer Zeit in der nach wie vor Deutsche Brände in Flüchtlingsheimen legen, Molotowcocktails in Schlafzimmer von Familien werfen ist das schon ein starkes Stück. Und wozu Deutsche historisch betrachtet sonst noch so fähig sind, lasse ich jetzt mal stecken.

Niemand verharmlost Anschläge, Gewalt und Attentate. Aber daraus wieder die billigste aller billigen Nummern zu machen: Deutsch = Gut, Ausländisch = Böse, dafür muss man schon die radikale Einfalt im Hirn tragen, die Herr Henkel offenbar kiloweise täglich mit sich rumschleppt.

Szenenwechsel. Vor ein paar Tagen stand ich rechtzeitig zum Ferienbeginn an einem unserer improvisationserprobten Berliner Flughäfen und wartete auf einen Bekannten. Aus mir heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen hatte ich in einem Moment menschlicher Schwäche oder vielleicht auch nur Unachtsamkeit versprochen, ihn abzuholen. Da stand ich nun dumm rum und stand dumm rum und stand und guckte und sah dann einen jungen Mann mit arabisch wirkendem Aussehen, der leicht verschwitzt und hektisch auf seinem Mobiltelefon rumhackte. Neben ihm geparkt: ein sehr, sehr großer Rollkoffer.

Da ich nichts zu tun hatte, beschloss mein Unterbewusstsein, doch mal wieder die alten Angstphobien spazieren zu schicken, da sie etwas aus der Form gekommen waren. Die machten einen guten Job und ich begann, den barackenartigen Hangar nach weiteren schwitzenden vermeintlichen Arabern mit Rollkoffern abzuschreiten. Da muss man nicht weit gehen. Irgendwann, als ich gerade erneut bei meinem ersten Phobieopfer angekommen war, schaute er mich an. Ich schaute weg. Aber nicht lange. Ich versuchte jetzt die unauffällige Nummer: Mal hinter einer Säule vorbei zu ihm rüber sehen, mal vom Zeitschriftenstand hinter einer Zeitschrift hervorlugen. Er schaute mich jedes Mal an. Aha. In der Zwischenzeit hätte mich ein „Arier“ wie Anders Breivik zehn mal erschießen können.

Irgendwann ging eine Frau auf den jungen Mann zu und er ging mit ihr weg, mein Bekannter kam und wir fuhren nach Hause. Auf der Rückfahrt dachte ich: wie muss sich eigentlich ein junger Mann mit südländischem oder arabischen Aussehen gerade auf deutschen Flughäfen fühlen? Wie eine junge Frau mit Kopftuch? Wie soll das eigentlich weiter gehen, wenn wir uns nur noch abchecken, ob Gefahr droht?

Ich habe keine Antwort. Aber ich weiß, dass wir ganz dringend auf der Hut sein müssen, dass Vorurteile, Hass, Misstrauen und das schleichende Gift des Rassismus nicht noch weiter in unser Leben dringen. Das ist es, was der IS will, das ist es, was die Nazis wollen, das ist es, was Pegida und Teile der AfD wollen. Das ist ihr schäbiges Geschäft und wir müssen klar sein in unserer Haltung. Alle. Auch alle Politiker. Und auch alle Wählerinnen und Wähler. Man nennt es Verantwortung, genau dann gegen zu halten, wenn ein Panikkreislauf beginnt.

Deshalb sollten wir in diesen Tagen sehr genau darauf achten, wer wie Henkel, Seehofer, Wagenknecht oder auch die Orbans, Kazcinskys, Johnsons oder Trumps dieser Welt Populismus mit Populismus anfeuert. Wer nicht von solchen Leuten regiert werden will, wer nicht in solchen Gesellschaften leben will, der muss jetzt aufstehen und gegen halten.

* „Täter von München war Rassist mit rechtsextremistischem Weltbild. Hass auf Türken und Araber.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.7.2016, Seite 1; “Neunfacher Mord in München – Hinweise auf rassistisches Motive verdichten sich.“ SPIEGEL ONLINE, 27.7.2016.

Manchmal sagt ein Bild doch mehr als 1000 Worte:

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„Hass kann niemals die Antwort auf Hass sein. Noch nie ist etwas Gutes aus Intoleranz und Ignoranz entstanden.“ Michael Müller

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin nach dem Anschlag von Nizza, Brandenburger Tor, Berlin, 15.7.2016.

 

How not to do it.

Das Cleverle Cameron hat erneut eindrucksvoll bewiesen, wie man Nationalismus, Rechtspopulismus oder schlichtweg Altersstarrsinn nicht begegnen sollte: Mit Zweideutigkeit, Opportunismus und Nachsicht.

Es ist zum wahnsinnig werden, wenn man zusehen muss, wie die immer gleichen Fehler gemacht werden. Man könnte sich ja noch irgendwie hinwegtrösten, wenn es nur irgendwelche Dorfdödel in Randregionen beträfe. Aber mal eben aus reiner Dummheit sein komplettes Land aus der größten zivilisatorischen Errungenschaft der Menschheitsgeschichte zu manövrieren und dabei auch noch dem innerstaatlichen Zerfall auszusetzen, das setzt schon neue Maßstäbe.

Aus gegebenem Anlass verweise ich daher noch einmal eindringlich auf den Beitrag „Keine Sorge dieser Welt“ auf diesem Blog, der mit schönen Fehl-Fallbeispielen aus Österreich, Frankreich oder auch Bayern aufwartet.

Das Cameronsche Kalkül lautete kurz zusammengefasst: „Wenn ich den Menschen über Jahre hinweg erzähle, wie richtig scheiße die EU ist, dann werden sie mir am ehesten zutrauen, die Interessen des Vereinigten Königreiches in der EU durchzusetzen.“

Ja. Genau. Und das kannst Du ja jetzt auch mit aller Macht ohne Amt, ohne EU und bald auch ohne Vereinigtes Königreich, Du Vollhonk.

Doch bevor jetzt irgendjemand in Deutschland auf die Idee kommt, dass der Euro-Skeptizismus doch in ganz Europa ausgebreitet sei und damit auch in Deutschland – und dass das doch im Umkehrschluss auch bedeuten müsste, dass auch wir viel, viel stärker die EU bekämpfen müssten um sie zu reformieren, erlaube ich mir eine Blutgrätsche:

NEIN!

WEIL:

Zur Stimmung in Deutschland ein paar aktuelle Zahlen:

Im aktuellen Politbarometer* der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF stieg der Anteil der Deutschen, die in der EU hauptsächlich Vorteile sehen auf 45%. Nur 14% sehen Nachteile, 38% sehen Vor- und Nachteile. Einen Austritt Großbritanniens aus der EU finden 69% schlecht, nur 7% gut und 22% ist es egal. Das Bedauern liegt bei den Anhängern aller Parteien bei über 72% –außer bei den AfD-Anhängern mit 37%.

Werfen wir dann noch einen Blick auf eine aktuelle europäische Vergleichsstudie des Pew Research Center**.

Auf die Frage, ob das eigene Land außenpolitisch auch Rücksicht auf die Interessen anderer Länder nehmen solle – auch wenn das Kompromisse bedeutet – antworten 67% der Deutschen mit „Ja“. Der höchste Wert in Europa vor Schweden mit 54%.

Das Engagement des Landes in der globalen Wirtschaft finden 70% der Deutschen gut. Ebenfalls ein Spitzenwert mit Schweden und den Niederlanden. Zum Vergleich: In Frankreich stimmen dem nur 51% zu.

So zieht sich das weiter durch. Wenig verwunderlich: In Ländern mit stark nationalistisch ausgerichteten Bewegungen ist auch die Bevölkerung am nationalistischsten eingestellt. Spitzenreiter sind Griechenland, Ungarn, Polen, Italien.

Pro-europäisch, global und international am solidarischsten ausgerichtet sind die Bevölkerungen in Spanien, Schweden und Deutschland.

Auf die Frage, ob die Menschenrechte eine zentrale Rolle in der Außenpolitik des jeweiligen Landes einnehmen sollten, antworten 67% der Spanier, dass ihnen das sehr wichtig ist, 27% halten es für wichtig gemeinsam mit anderen Themen und nur 7% für unwichtig.

In Deutschland halten dies sogar 62% für sehr wichtig, 27% für eher wichtig und nur 4%, für unwichtig.

Über mehrere Umfragen hinweg zeigt sich auch, dass der Front National und das teilweise Anbiedern der etablierten Parteien an dessen Thesen, Spuren in Frankreich hinterlassen haben. Hier sehen wir Abweichungen von um die 20% zwischen dem deutlich internationaler ausgerichteten Deutschland und Frankreich.

Nun, warum erzähle ich das alles: Weil ich zum wiederholten Male alle Meinungsbildner – ob Journalisten, Politiker, Blogger oder sonstwen darauf hinweisen möchte, dass die Bevölkerung in Deutschland in allen Vergleichsstudien sehr viel moderner, internationaler, europäischer und fortschrittlicher eingestellt ist, als die anderer Länder. Darunter auch die USA. Apropos: Laut Forschungsruppe Wahlen wünschen sich 88% der Deutschen Hillary Clinton als nächste Präsidentin der USA und nur 3% Donald Trump. Der scheint also selbst bei der AfD-Klientel durchzufallen. Oder sie wissen nicht, wer das ist. Was ich für wahrscheinlicher halte.

Also: Wer wieder mit mehr Begeisterung für Europa wirbt, trifft bei den Deutschen auf offene Ohren. Wer aber unbedingt ein nationalistisches Förderprogramm für Populisten unterstützen möchte, der kann ja den Cameron machen. Oder den Faymann. Oder den Sarkozy. Oder den … ach.. die hat`s ja alle zerrissen! Dann vielleicht besser doch nicht, oder Horst?

 

* ZDF Politbarometer, Juni II, 24.6.2016
** Pew Research Center, „Europeans Face the World Divided“, June 13, 2016

 

Sommer, Sonne, Hauptstadt, – Wahlkampf?

Ein leichter, frühsommerlicher Essay an Rucolasalat über einen Hauptstadtwahlkampf, dessen heiße Phase erst nach der heißen Phase beginnt.

Die Sonne lacht, Fahrräder werden erst abgestaubt, aufgepumpt, geölt und dann geklaut, die Liegestühle an der Spree sind alle besetzt, Trolleys rumpeln über Trottoir-Platten mit canyonartigen Spaltmaßen, Mas Que Nada ertönt in den schauerlichsten und schönsten Variationen auf Plätzen und in U- und S-Bahnen, parliert wird in jeder Sprache der Welt oder gleich in broken english, die Kellnerin grüßt jetzt auch im Wedding mit einem fröhlichen „How are we today, guys?“, hin und wieder bellt ein freundliches „Watt weeß denn icke, heeß ick Siri oder watt?“ zwischen den Suchenden aus aller Welt, Tattoos werden von der Sonne geküsst und kein Mensch interessiert sich für Politik. Es muss Wahlkampf sein in Berlin. Oder fast. Denn bis zum 18. September ist es ja noch etwas hin. Und zurzeit kennt daher auch kaum jemand diesen Wahltag außer den Kandidaten, fünf bis sechs Journalisten und Menschen wie ich, die dafür bezahlt werden.

Es ist jetzt der vierte Wahlkampf seit 2001, den ich mit BUTTER. bzw. diesmal mit BUTTERBERLIN begleiten darf. Der erste war gleich eine Sensation. Die SPD kündigte die „Große Koalition“ mit der Diepgen-CDU auf, Klaus Wowereit ließ sich mit den Stimmen von Grünen und PDS (formerly known as SED, later on known as PDS, currently known as Linkspartei) zum Regierenden Bürgermeister wählen und rief dann Neuwahlen aus. Insofern können wirklich alle, die mit Wahlkampf zu tun haben, für das Timing dankbar sein. Ein luftiger Sommerwahlkampf ist doch etwas feines, etwa im Vergleich zu Hamburg, wo man sich durch schlechtes Neuwahltiming bei Minusgraden durch den Eisregen zum vermummten Wähler vorkämpfen muss. Der Nachteil wurde bereits erwähnt und lässt sich in dem Kandidatenblues „Kein Schwein interessiert sich für mich“ zusammenfassen.

Das wird sich ändern. Aber erst sehr spät. Die Sommerferien in Berlin beginnen am 21. Juli und enden am 4. September – dem Wahltag in Mecklenburg-Vorpommern. Zwei Wochen später, am 18. September wird in Berlin gewählt. Und schon wird das Ganze doch schon wieder interessant auch für viele außerhalb Berlins. Konzentrieren wir uns also auf die Hauptstadt der Republik, denn dort sorgen noch einige weitere Komponenten für Würze.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, stellt sich erstmals zur Wahl. Er übernahm das Amt am 11. Dezember 2014 von Klaus Wowereit, nachdem er sich bei einer Urwahl der SPD Parteimitglieder deutlich gegen zwei Mitbewerber durchsetzen konnte. Im April dieses Jahres wurde er auch zum Vorsitzenden und Spitzenkandidaten in Berlin gewählt. Für viele Beobachter war es überraschend, wie rasch sich Müller aus dem Schatten des charismatischen Vorgängers lösen konnte, und auch zwei Jahre später führt er die Beliebtheitsskala der Berliner Spitzenpolitiker deutlich an. Und da haben wir schon die zweite Sonderrolle in Berlin: Wer ist eigentlich der Gegner?

Von irrlichternden Stimmen und Instituten.

Die Berliner Parteienlandschaft ist aufgrund zahlreicher historischer Besonderheiten stark partikularisiert. (Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich die Seiten 46-57 in meinem Buch „Höllenritt Wahlkampf“). Eine Beobachtung ist aktuell zusätzlich wichtig: Obwohl wir mit SPD, CDU, Linkspartei, Grünen und optional auch der FDP bereits ein breites Parteienspektrum zur Auswahl haben, splittet sich der Wählermarkt noch zusätzlich auf: Bei der Wahl 2006 gab es zum Beispiel satte 13,7% Stimmen für die „Sonstigen“, darunter irritierende 3,8% für „Die Grauen“, aber auch 2,6% für die NPD. Im Jahre 2011 reduzierten sich zwar die „Sonstigen“ auf 8,3% (mit immerhin immer noch 2,1% NPD), dafür schafften aber die Piraten mit starken 8,9% den Einzug in das Abgeordnetenhaus. Wie wir auch aus anderen Bundesländern wissen, nährten sich die Piraten nur zu einem geringeren Teil aus Cyber-Nerds sondern vor allem aus Offlinern, die nur „irgendwie Protest“ wählen wollten. Im Jahr 2016 sind also insgesamt 17,2% irrlichternde Stimmen aus Piraten und Sonstigen von 2011 zu vergeben. Ein nicht unerheblicher Teil davon wird dann weiter „Protest“ wählen. Nur eben nicht in fröhlich anarchistischer Piraten-Laune, sondern in übellauniger Rechts-Verstumpfung. Sinn macht das alles nicht, aber Unsinn ist eben auch ein Menschenrecht.

Wie sieht es denn nun heute aus? Tja. Wenn man das wüsste. In Berlin sind traditionell zwei Institute langfristig und regelmäßig aktiv: Infratest dimap und Forsa. Werfen wir nur mal einen Blick auf die AfD Zahlen: Forsa, 29. März: 9%, Infratest, 13. April: 13%, Forsa, 29. April: 7%, Infratest, 11. Mai: 15%, Forsa, 27. Mai: 8%, Infratest, 15. Juni: 15% Nochmal zum Mitschreiben: 9,13,7,15,8,15 und die Zusatzzahl wäre dann? So kann ich nicht arbeiten! Ähnlich wirr sind auch alle anderen Zahlen auf dem Markt, aber das ist natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass sich noch niemand für diese Wahl interessiert. Das wird sich aber ändern. In dem zuletzt von uns begleiteten Wahlkampf in Rheinland-Pfalz änderte sich tatsächlich alles rapide in den letzten 4 Wochen und ganz deutlich in den letzten Tagen. Bis die Kollegen ihre Algorithmen sortiert haben, kümmern wir uns daher erst mal um anderes.

Boom-Boom-Boomtown.

Berlin ist heute eine Boomtown und hat an vielen Stellen andere Probleme zu lösen als vor zehn Jahren. Es gibt viel mehr gut bezahlte Arbeit als früher, die Einkommen steigen, die Arbeitslosigkeit liegt auf dem niedrigsten Niveau seit fast einem Vierteljahrhundert. Wer in Deutschland ein Start-Up gründet, entscheidet sich zu 39% für Berlin als Standort, der Rest verteilt sich auf die anderen 15 Bundesländer. „Von wegen arm aber sexy. Die Hauptstadt ist jung, international und digital“ schreibt der STERN gerade in seinem Bericht über „Silicon Berlin“. Zu dieser Wahrheit gehört, dass die ungebrochene Attraktivität Berlins für kreative Gründer stark mit der Ausstrahlung Berlins in den Wowereit-Jahren zu tun hat. Während andere noch von alter Großindustrie fabulierten, setzte „Wowi“ auf die digitale Kreativwirtschaft, auf Medien, Fashion, Smart-City, Tech-City und alles, was noch kommt. Heute sorgen alleine die Start-Ups für 60.000 Arbeitsplätze. Investitionen ausländischer Unternehmen sind ungebrochen, aber vor allem zieht es auch immer mehr Inländer in die Hauptstadt.

Die große Aufgabe heute ist es, das Wachstum der Stadt so zu gestalten, dass weiterhin alle teilhaben können. Und war man vor zwanzig Jahren noch froh um jede leerstehende Wohnung, die renoviert und in eine Ferienwohnung gewandelt wurde, so braucht man heute eben jede nur verfügbare Wohnung für diejenigen, die hier langfristig leben wollen. Das ist der Lauf der Dinge und die Besitzer werden auch nicht enteignet, sondern sie sollen an langfristige Mieter vermieten und nicht an kurzfristige. Mit dem Verbot der Ferienwohnungen und anderen lokalen wie nationalen Maßnahmen steuert man in Berlin wie auch in anderen Boomstädten wie München, Hamburg oder Düsseldorf gegen.

Allerdings ist nichts so anziehend wie der Erfolg und Fakt ist: Berlin ist extrem attraktiv, hat eine enorme Sogwirkung ­– nicht nur für Touristen sondern vor allem auch für Arbeitgeber und Arbeitnehmer – entwickelt und ist natürlich auch von dem globalen Trend in die Metropolen nicht abgekoppelt. Was für die Wohnungen gilt, gilt ebenso für Kitas und Schulen. Vor Jahren noch gab es in einzelnen Stadtteilen nicht mehr genug schulpflichtige Kinder für manche Schule, die Finanzen drückten an allen Ecken und die Trendforscher taxierten Berlins Bevölkerungszahl in Richtung 3 Millionen.

Heute sind die Trendforscher von damals in Rente, neue dürfen falsche Prognosen aufstellen und es geht recht rasant auf die 4 Millionen zu. Alles in allem steht Berlin aber gut da – auf jeden Fall deutlich besser als vor 10 oder 15 Jahren, was wirklich jeder sehen kann, der es will. Da darf man sich von ein paar professionellen Hysterikern nicht kirre machen lassen. Es sind auch meist die gleichen, die vor ein paar Jahren noch tiefere Einschnitte in der Verwaltung gefordert haben – aber so ist das eben. Das eine klappt hier besser, das andere in Hamburg, das dritte in London und das vierte in Rom. Bei Rom bin ich noch am überlegen, was das sein könnte. Aber mache Städte sind einfach so schön, da ist alles egal. Hierzu zählte Berlin nie.

Das Thema, das den Berlinerinnen und Berlinern tatsächlich unter den Nägeln brennt, ist der Mietmarkt. Perspektivisch wird sich daher die Frage stellen, wem man am ehesten zutrauen wird, bezahlbare Mietwohnungen zu schaffen. Da kann sich jetzt jeder seinen eigenen Reim drauf machen. Die Grünen sind bisher nicht wirklich als Baufüchse in Erscheinung getreten, sondern eher als aktive Wohnungsbaublockierer. Die FDP ist sicher mehr an Luxuslofts mit ensuite Dampfdusche und Heli-Landeplatz interessiert, die CDU hat mit Mietern eh nichts am Hut und den AfD-Repräsentanten wird außer Germania auch nicht viel einfallen. Das war aber auch ein schöner Plan, damals, von dem Adolf und dem Albert. Bevor der Russe kam. Apropos. Die Linkspartei hat historisch-ästhetisch gesehen natürlich die Platte auf dem Habenkonto. Mal sehen, wer da was nachlegt.

Doch wie auch immer. Die Berliner lieben Berlin, sind sich darüber im Klaren, dass nicht alles perfekt läuft, erwarten aber auch nicht, dass alles perfekt läuft. Denn sonst wären sie ja auch nicht hier, sondern in Gundelfingen. Da war ich zwar noch nie, aber wahrscheinlich bekommt man dort seinen Reisepass schneller. Auf der anderen Seite will man von dort auch dringender weg. So schließt sich der Kreis. Auf gar keinen Fall darf man die Berliner Gelassenheit mit Resignation verwechseln, es ist eher ein natürlicher Umgang mit dem Leben in einer Millionenstadt.

Die CDU: „Komm zu mir in den Keller, hier ist es schön feucht und einsam.“

Richtig fuchsig wurden die Berliner im letzten Jahr erst, als offensichtlich wurde, dass sowohl der zuständige Sozialsenator als auch der für diese Personalentscheidung zuständige stellvertretende Regierende Bürgermeister (beide CDU) die Flüchtlinge Wochen lang im Regen stehen ließen. Man regte sich also nicht über die Flüchtlinge auf, sondern über das Missmanagement.

Vor ein paar Wochen kamen dann einige auf die großartige Idee, eine recht unsaubere Kampagne gegen Michael Müller zu lancieren. Sie verfolgten dabei offensichtlich das alte Wahlkämpfermotto: „Wenn Du nicht zu Deinem Gegner aufschließen kannst, dann zieh ihn zu Dir runter.“ Das ist immer ein gefährliches Spiel, aber in Zeiten politischer Irritationen nicht nur gefährlich, sondern saudumm. Auch in Folge des Rohrkrepierers segelt die CDU immer stabiler unter 20% und ein Ergebnis wie in Hamburg 2015, als sie in Deutschlands zweitgrößter Stadt mit 15,9% nach Hause ging, ist möglich. Der Spitzenkandidat, Frank Henkel, darf die Partei zum zweiten Mal „führen“ und hat sich daher in entscheidenden Themen klar positioniert. Etwa als er beim Mitgliederentscheid seiner Partei zur Homoehe auf einer Skala von 1-6 knallhart die Position „Bin wahrscheinlich eher ein bisschen dafür“ ankreuzte. Seine piefige Partei kreuzte „Bin voll dagegen“ an. Interessiert hat es eh keinen, aber so ungefähr kann man sich auch seinen sonstigen Regierungsstil vorstellen. Es ist eben ein schmaler Grat zwischen einer ruhigen Hand und Lethargie.

Die Grünen: „Vier sind mehr als eine und vier sind mehr als zwei, wenn Du mich nicht leiden magst, dann bleiben ja noch drei“.

Die Grünen haben sich nach dem Künast-Schock 2011, bei dem vor allem die Grünen selbst von den rüden Umgangsformen ihrer Spitzenfrau geschockt waren, auf eine lustige Doppel-Doppelspitze verständigt. Nein, das ist kein Fehler von mir, sie haben tatsächlich 2×2 Spitzenkandidaten. Dies geschah vermutlich auch in Ermangelung eines strunzkonservativen rüstigen Rentners, die ja sonst zur Zeit bei den Grünen hoch im Kurs stehen. Mit Ströbele hätte man zwar einen rüstigen Rentner gehabt, aber der ist seiner Partei natürlich viel zu links und vermutlich auch ein bisschen peinlich. Tatsächliche Politik ist denen heute eher suspekt und man setzt lieber auf einen funktionierenden „Kapitalismus mit Pfiff“, wie etwa die aktuelle Plakatheadline: „Unsere wichtigsten Start-Ups: Kinder“ beeindruckend schlicht unterstreicht. Da dürfen die Helikoptereltern in ihrem Loft doch entspannt mit einem veganen Sojadrink drauf anstoßen: Die Kids werden direkt nach der dreisprachigen Privatkita bei Rocket Internet anfangen und verkratzen nicht länger die Landhausdielen.

Zurück zur Viererbande die man so nicht nennen darf, denn der Begriff ist historisch besetzt (go, google it). Quartett wäre für den Zustand der Berliner Grünen zu harmonisch. Ich entscheide mich für Quad: Macht viel Lärm, aber am Ende doch keinen Sinn. Wie auch immer: Jetzt kann sich jede Spitzenkraft hinter der anderen verstecken, frei nach dem Motto „vier sind mehr als eine und vier sind mehr als zwei, wenn Du mich nicht leiden magst, dann bleiben ja noch drei“. Das gelingt so gut, dass sie bereits an der CDU vorbeigezogen sind. Prompt werden sie von der konservativen Presse in Richtung Grün-Schwarz-Gelb geschoben. Na klar. Genau. Für ungefähr 70% aller Berliner Wählerinnen und Wähler gleichbleibend mit einer Koalition direkt aus der Hölle und einer geballten Berlin-Kompetenz von ungefähr minus 823 auf einer Skala von plus 5 bis minus 823.

Wer für die Linke antritt weiß ich nicht, aber das ist ja auch deren Wählern völlig egal. Hauptsache Gysi. Die Piraten haben sich faktisch aufgelöst, die FDP entsteigt in zombiesker Eleganz mit Retro-Themen wie „Tegel-offen“ (Gähn) langsam ihrer Gruft und die AfD rührt auch hier ihr braunes Ursüppchen aus Alles-Hassern, Putin-Lovern und „Schuld-an-meiner-beschissenen-Laune-sind-alle-nur-ich-nicht“-Frohnaturen. So weit, so absehbar.

Der Berliner: „Ist mir egal, ist mir egal.“ Oder nicht?

Doch das alles kann doch einen Berliner in der Sonne nicht erschüttern.

Aber dann, am 18. September geht es um ein bisschen mehr. Es geht darum, wie man das Wachstum dieser Stadt mit jährlich über 40.000 Neu-Berlinerinnen und Berlinern organisiert (Nettozuzug ohne Flüchtlinge). Wie man den sozialen Zusammenhalt stärkt, statt neue Gräben aufzureißen. Wie man eine Politik für die ganze Stadt macht und nicht nur für die Stammklientel in den eigenen Parteihochburgen. Es geht darum, wer das Zeug dazu hat, diese Stadt mit Verantwortungsbewusstsein, hohem persönlichem Einsatz, Kompetenz und Erfahrung zu führen.

Und es geht darum, wie klar und deutlich die Berlinerinnen und Berliner Stellung beziehen. Denn sie leben ja nicht irgendwo, sondern in der Hauptstadt der Toleranz, der Weltoffenheit, der Kultur, der Freiheit und der Kauzigkeit. In einer Stadt, die von der ganzen Welt geliebt wird und die sich alles in allem auch selbst ganz gut leiden kann. Also. Genießt den großartigen Sommer in Berlin!

Wir sehen uns dann.

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Aktuelles Fallbeispiel: Wann entscheidet sich der Wähler? Hier der Verlauf von November 2015 bis März 2016 in Rheinland-Pfalz.