Donald Henkel und der entschlossene Herr Müller.

In jeder Kampagne gibt es den entscheidenden Wendepunkt. Der Moment, an dem man weiß: Jetzt liegen alle Karten auf dem Tisch. Jetzt sind alle Katzen aus dem Sack. Jetzt hat der Wähler klare Alternativen vor sich. Jetzt geht es richtig los.

Und in jedem Wahlkampf gibt es Momente, an denen klar wird, mit wem man es am Ende wirklich zu tun hat. Für mich war ein solcher Moment der 4. Februar 2016, als sich Michael Müller in einer Sondersendung des RBB den Fragen der Bürger zur Flüchtlingsthematik stellte. Zunächst einmal hat er das überhaupt getan und sich nicht wie manche andere Ministerpräsidenten versteckt. Er war klar, er war offen. Aber vor allem hat er sofort gegengehalten, wenn er bei dem Fragesteller plumpe Vorurteile oder den typischen AfD-Pegida-Jargon heraushörte. Müller hat dann nicht laviert, sondern Haltung bewiesen.

Der andere Wendepunkt kam am 9. August, als erste Eckpunkte einer „Berliner Erklärung“ der (wenigen) CDU-Länder-Innenminister bekannt wurde. Frank Henkel stürzte sich sofort auf die Erklärung und dabei vor allem auf zwei Punkte: Die Abschaffung der Doppelten Staatsbürgerschaft und ein Burka Verbot. Reine AfD-Symbolthemen also, ohne irgendeine Relevanz für die Sicherheitslage in Deutschland.

Postwendend kam die Antwort von Michael Müller: „Eine solche Position hat im Berliner Senat keinen Platz.“ Wer wollte, konnte da schon erkennen: Diese Koalition wird es nicht noch einmal geben, wenn Henkel weiter ins Horn der Populisten bläst. Das hat Herr Henkel wohl nicht ganz richtig verstanden, denn er machte weiter in seiner Rolle als „Little Donald von der Spree“.

Aber wenn Michael Müller AfD-Positionen nur aus der Ferne riecht, reagiert er allergisch. Wenn es irgendetwas gibt, das diesen besonnenen Mann auf die Palme bringen kann, dann billiger Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass.

Nun. Seit dem 9. August riecht Frank Henkel sehr streng nach AfD. Denn wenn man sich so weit in die braune Soße setzt, wird man den Geruch auch nicht mehr los.

Frank Henkel (CDU) schafft es, den Bundespräsidenten, den Bundesinnenminister (CDU), die Bundeskanzlerin (CDU) und seinen Koalitionspartner gegen sich in Stellung zu bringen. Innenminister de Maiziere zum Henkelschen Burka-Verbot: „Mit so einem dahingeworfenen Satz kann man das nicht regeln.“ Und: „Man kann nicht alles verbieten, was einem nicht gefällt.“ De Maiziere zum Henkelschen Angriff auf die Doppelte Staatsbürgerschaft: „Ich halte es nicht für sinnvoll, die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft neu zu eröffnen.“ Bundespräsident Joachim Gauck zu de Maiziere: „Da kann ich doch gut mit leben.“

Alle reden gegen Henkel und über Henkel aber keiner mit Henkel. Er spricht wohl auch mit keinem, sonst wäre er kaum in das offene Messer gelaufen. Einen solch gravierenden innenpolitischen Vorstoß stimmt man mit dem Bundesinnenminister der eigenen Partei ab. Es sei denn, man ist bereits komplett isoliert.

Jetzt steht die CDU wieder zerstritten da und der mühsam zugeschüttete Graben wurde vom eigenen Spitzenkandidaten aufgerissen. Der klassische Konflikt: Alt-CDU (Berlin) gegen Neu-CDU (Merkel) steht wieder auf der Tagesordnung.

Die Henkel-Strategie macht weder in Bezug auf Wählerpotentiale Sinn – noch in Bezug auf Koalitionsoptionen. Ihm bleibt nur noch die AfD.

Welche Strategie verfolgt Henkel?

Wen also wollte Frank Henkel mit dem alten Julia Klöckner Flop „The Burka Rap“ erreichen?  Julia Klöckner, der ja das Kunststück gelang, aus einem 11%-Vorsprung in nur 12 Wochen eine 4,4% Niederlage zu basteln, hatte jedenfalls in ihrem Wahlkampf die AfD fest im Blick. Sie kämpfte mit Horst Seehofer tapfer gegen die Burka-Trägerinnen in Rheinland Pfalz- obwohl die Wahrscheinlichkeit vermutlich größer ist, an der Loreley einem Grizzlybären zu begegnen, als einer Burka. Das sahen die Wähler am Ende auch so und bescherten der CDU das schlechteste Wahlergebnis in der Geschichte von Rheinland-Pfalz.

Die Henkel-Strategie bleibt angesichts möglicher Potentiale in Berlin ebenfalls ein Rätsel. Hier lohnt ein Blick auf die vergangenen drei Wahlen mit ihren recht stabilen Lagerergebnissen.

Zählt man die Grünen zum progressiven Lager, was angesichts ihres gluten-, laktose-, meinungs- und inhaltsfreien Gänseblümchen-Wahlkampfes zumindest diskussionswürdig ist, sieht das so aus:

Wahlergebnisse 2001 – 2011:
SPD, Linke, Grüne: Im Mittel: 58,7%

Aktuelle Umfragen (Infratest, INSA, Forsa) Stand 17.8.16:
SPD, Linke, Grüne: Im Mittel: 57,6

Über 15 Jahre gesehen würde ich sagen: Punktlandung.

Wen man auf der anderen Seite verorten soll, weiß man nicht so recht. Ich versuche es einmal mit dem Klassiker:

Wahlergebnisse 2001 – 2011:
CDU, FDP: Im Mittel 29,6
Aktuelle Umfragen CDU, FDP: Im Mittel 23,6%

Neben diesen schon fast klassischen Lagern gab es dann noch immer viele bunte, mal kleinere, mal größere Pillepalleparteien, die in Berlin immer für locker 15% gut sind. Ob sie jetzt Piraten, Graue, AfD oder Gedönspartei heißen ist dabei relativ wurscht. Denn die meisten der Wähler dieser Parteien wählen einfach gerne „irgendwas mit Protest“.

Henkel blieben nur zwei Optionen.

1. Option: Als der „stabile“ Anker einer modernen großen Koalition anzutreten und auf das höhere CDU-Potential zu setzen, das die CDU in Berlin bei Bundestagswahlen erreicht (2013 waren das 28,4%). Kurz vor dem Wechsel von Wowereit auf Müller war dieses Potential auch auf Landesebene sichtbar, als die CDU im August 2014 bei 29% und damit 5% vor der SPD lag.

Die Merkel-CDU ist für viele Berliner attraktiver, da sie wesentlich liberaler daherkommt als die Hauptstadt CDU. Henkel hätte also genau diesen Weg einschlagen und seine piefige Partei modernisieren müssen. Dann wäre sie auch für die gut bürgerliche Grünen-Klientel wählbar gewesen, so wie das bereits bei der Bundestagswahl geschehen war. Ebenso hätte man Zuckungen der Zombie-FDP vermeiden können, die nun aus der liberalkonservativen Ecke angreift.

Henkel hat die Modernisierung der Berliner CDU nie vorangetrieben. An den entscheidenden Wendepunkten – etwa der CDU Mitgliederbefragung – hat er gekniffen, statt zu kämpfen. Er hat nicht an einem einzigen entscheidenden Punkt Haltung gezeigt und sich gegen die alten Männer durchgesetzt. Entscheidende Wendepunkte hat er verschlafen oder ausgesessen. Auch die Phase des Übergangs zwischen Wowereit und Müller, als die SPD noch ohne Kandidaten dastand. Er hat die Chance seines Lebens einfach vorbeiziehen lassen. Später hat er beim Czaja-Desaster seinem überforderten Senator weder eine helfende Hand gereicht, noch ihn ersetzt. Er hat einfach nichts gemacht.

Nach so vielen verpassten Chancen sehen er und seine Berater nur noch einen Ausweg: Populismus der ganz billigen Kategorie.

2. Option: Die Stahlhelm CDU. Ja, sie ist wieder da! Als ob seit dem Mauerfall kein Vierteljahrhundert vergangen wäre. Als ob die ganze Stadt nicht bereits zehn volle Jahre von Rot/Rot regiert worden wäre. Also ob es keine Bezirksbürgermeister der Linken oder der Grünen gäbe: Die CDU setzt den Stahlhelm auf, rückt die Scheuklappen zurecht, zieht die roten Socken an und galoppiert direkt in das tiefe Tal der Isolation. Nur die ganz Rechten klatschen Beifall, weil sie genau wissen, dass die Prozente am Ende auf ihrem Konto landen.

Mit seinem AfD-Kurs zur Inneren Sicherheit, seinem plumpen Populismus und seiner groben Spaltung der Gesellschaft hat sich Frank Henkel jede Koalitionsoption verbaut. Schlimmer noch: Um seinen eigenen Hintern zu retten, schickte er mit fragwürdigen Argumenten Polizeibeamte in sinnlose Einsätze. Ein trauriger Höhepunkt des bisherigen Wahlkampfes.

Ein neuer Anfang.

Mit Frank Henkel und der Berliner Stahlhelm-CDU können weder die Grünen noch die SPD nach dem 18. September eine Koalition eingehen. Henkel hat damit keine Machtoption. Das bedeutet: er wird in Panik weiter um sich schlagen und noch mehr Schaden in der Gesellschaft anrichten. Das ist nicht gut für das Zusammenleben in unserer Stadt.

Die Grünen sollten daher auch langsam aus ihrer Schmollecke von 2011 heraus kommen und sich bekennen. Ja, die SPD ist damals eine Koalition mit der CDU eingegangen, aber daran waren die Grünen nicht schuldlos. Erst haben sie mit Künasts verbissenem Schwarz/Grün-Wahlkampf die sichere Rot/Grüne Mehrheit in den Sand gesetzt. Und danach waren sie so zerstritten, dass sie nicht einmal mit sich selbst hätten koalieren können. Das gehört auch zur Wahrheit.

Und die Linke kann weiter so tun, als hätte sie von 2001-2011 diese Stadt nicht über ein volles Jahrzehnt regiert und alle Beschlüsse mitgetragen oder gar vorangetrieben, die sie heute kritisiert. Sie hat ab 2011 nicht mehr regiert, weil sie mit 11,7 % von den Berlinerinnen und Berlinern abgewählt wurde und nicht wegen der bösen SPD.

Geschenkt. Das war gestern. Heute ist heute.
Und morgen ist wichtiger.

Wenn man aus den vergangenen Wahlkämpfen etwas lernen kann, dann das: Wenn das progressive Lager sich ständig selbst beschädigt, gibt es am Ende Ergebnisse, die keiner will. Ob es am Ende für eine 2er oder 3er Konstellation reicht, wird man sehen. Gezählt wird am 18. September und die letzten Wahlen im März haben gezeigt, wie viel Bewegung auf den letzten Metern möglich ist.

Immer mehr Berlinerinnen und Berliner beginnen so langsam, diese Wahl ernst zu nehmen. Das spürt man in den Gesprächen, das erlebt man im Wahlkampf. Und es stimmt ja auch. Es geht diesmal um mehr. Es geht darum, welches Zeichen Berlin in die Republik und die Welt sendet.

Will diese Stadt mit AfD und CDU ins Gestern, oder mit einer progressiven Koalition nach vorne? Jetzt ist es an der Zeit, Farbe zu bekennen.

Michael Müller hat sich in diesem Wahlkampf klar und mutig positioniert. Er hält gegen billigen Populismus. Er zeigt den piefigen AfD-Spießern die kalte Schulter. Er wirbt klar und deutlich für das Berlin der Freiheit, der Toleranz, des sozialen Friedens und der Weltoffenheit. Er kämpft für dieses freie Berlin, während andere sich wegducken oder anbiedern. Müller hält gegen die von Storchs, Henkels und Wagenknechts unserer Zeit. Er setzt auf Zusammenhalt gegen Spaltung und das billige Gift der Populisten.

Und wer das auch will, der sollte jetzt mal seinen Allerwertesten in Bewegung setzen.

Dieser Wahlkampf wird in den letzten Wochen entschieden. Tage, in denen allen Berlinerinnen und Berlinern die Bedeutung dieser Wahl für ihre Stadt, ihren Alltag aber auch für den Rest der Republik klar werden muss.

Die ist keine Wahl wie andere.

Es kann Gutes aus dieser Wahl entstehen.

Oder das Gegenteil.

Move your ass – and the rest will follow.

Die Frau. Der Kopf. Das Tuch. Und ich.

Ein Mann mittleren Alters fährt eine Rolltreppe hinauf. Es scheint ein warmer Tag zu sein, denn er hat sein Jacket ausgezogen und hält es mit der rechten Hand über seiner Schulter. Sein Blick fällt auf eine Frau, die ihm auf der Rolltreppe entgegenkommt. Der Gesichtsausdruck des Mannes wirkt offen und freundlich.

Die Frau trägt eine leichte, dunkelblaue Jacke und auf ihrem Kopf ein roséfarbenes, modisch geripptes Tuch, das sie über ihre linke Schulter geschwungen hat. Sie dreht sich leicht in Richtung des Mannes. Im Hintergrund sehen wir weitere Passanten in der Unschärfe. Die Rolltreppe könnte zu einer U-Bahn oder einem Einkaufszentrum gehören.

Es handelt sich also um eine typische Begegnung in einer Metropole, wie sie weltweit täglich millionenfach stattfindet.

Das einzige Überraschende an dem Bild ist, dass es sich bei dem Mann auf der Rolltreppe um den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, handelt.

spdIM6028_Dekade_1_18-1_sRGB_7ed1Die unbekannte Dame mit Kopftuch kann vieles sein.

Eine hier lebende Ausländerin.

Eine hier geborene Deutsche.

Eine der vielen tausend Touristinnen.

Eine Flüchtende.

Eine Gläubige, die andere Religionen und Weltauffassungen akzeptiert und toleriert.

Eine Gläubige, die andere Religionen und Weltauffassungen nicht toleriert.

Eine Frau, die von ihrem Mann unter Druck gesetzt wurde, ein Kopftuch zu tragen.

Eine Frau, die sich frei entschieden hat, ein Kopftuch zu tragen.

Aber eigentlich handelt es sich ja nur um einen Menschen auf einer Rolltreppe. Geht es am Ende gar nicht um die Frau?

Es geht um uns. Wie wir denken, was wir sehen, was wir sehen wollen und was nicht.

Wer weltoffen ist, akzeptiert und respektiert Menschen, die an andere Dinge glauben, sich andere Dinge anziehen und andere Dinge tun. So lange sie sich im Rahmen unseres Grundgesetzes bewegen. Und wie viele von uns wissen, wird die persönliche Toleranzgrenze meist nicht im multikulturellen Zusammenhang getestet, sondern am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, im Verkehr, in der Verwandtschaft oder gleich zu Hause.

Tolerant ist man erst dann, wenn es schwer fällt, tolerant zu sein.

Häufig lohnt sich ein zweiter oder dritter Blick. Hinter manchem Kopftuch verbirgt sich mehr Weltoffenheit, als wir vermuten. Und hinter manchem Politiker mehr Stehvermögen.

CSD_BerlinerZeitung_25.7.16Ein Bild aus der Berliner Zeitung vom 25.7.2016. Im Bericht geht es um den Christopher Street Day. Man beachte die Dame mit Kopftuch links im Bild. Ich denke, sie hat so etwas noch nie gesehen. Ich auch nicht. Sie nimmt es mit Berliner Gelassenheit.

WELT_KopftuchEine eher traurige Meldung aus der WELT vom 19.6.2016

Am 18. September wählt Berlin.
Es geht darum, in welcher Stadt wir am 19. September aufwachen wollen.

 

 

 

 

 

Auf Messers Schneide.

Wie wir in Zukunft in unserem Land leben wollen, entscheidet sich gerade in diesen Tagen. In den Medien, in den Parteien, in uns allen.

Nach Recherchen der FAZ* handelt es sich bei dem Amokläufer von München um einen rechtsextremistischen Attentäter, der bewusst acht Jugendliche im Alter von 14 – 21 Jahren sowie eine erwachsene Frau aufgrund ihres Migrationshintergrundes erschoss. Oder hinrichtete. Nach dem Bericht der FAZ betonte der Attentäter seinen Stolz darauf, am 20. April, also „Führers Geburtstag“ geboren zu sein. Er legte seinen Anschlag bewusst auf den 5. Jahrestag des rechtsextremistischen Attentats von Oslo und Utoya. Er hat die „AfD verehrt“ wie ein Bekannter des Täters dem SPIEGEL* berichtete und er verstand sich als Arier.

Der Attentäter von München hat also an einem Tag fast so viele Menschen mit Migrationshintergrund ermordet wie die rechte Terrorzelle NSU, die über Jahre hinweg in unserem Land hinterrücks Gemüsehändler und Imbissbesitzer abschlachtete.

Ich finde, die Berichterstattung und die politischen Reaktionen zu diesem rechtsextremistischen Hintergrund eines Mehrfachmörders fallen eher verhalten aus. Aber das bin vielleicht nur ich. Fakt ist: Wenn labile Menschen für IS-Propaganda anfällig sind, dann sind offenbar andere labile Menschen für AfD-Propaganda anfällig. Wer Hass sät, erntet Hass. Diese Geschichte ist so alt wie die Welt.

Weniger verhalten wiederum fällt das Polit-Floskel-Bingo zu den Attentaten von Würzburg und Ansbach aus. Die üblichen Verdächtigen von CDU/CSU, AfD und Linkspartei überbieten sich gegenseitig wieder darin, wer auf Kosten bereits genug gebeutelter Menschen noch mehr Öl ins Feuer gießen darf. Ja, liebe Linke, so lange ihr Beatrix von Wagenknecht in euren Reihen duldet, gehört DIE LINKE leider mit in diese Aufzählung. Bewusst gesetzte Aufreger-Tweets die man dann ebenso gespielt unschuldig wieder zurück nimmt, sind das Handwerkszeug eiskalt berechnender Populisten.

Berlins immer peinlicher agierender Innensenator Henkel (CDU) verstieg sich gar zu dem Zitat: „Wir haben offenbar einige völlig verrohte Personen importiert, die zu barbarischen Verbrechen fähig sind, die in unserem Land bislang kein Alltag waren.“ Nein, er sprach nicht vom Adolf aus Österreich. Und ob die von Henkel angesprochen Verbrechen Alltag werden, sei noch einmal dahingestellt. Aber dies Stunden nach dem tatsächlich tödlich verlaufenen Amok-Attentat eines Deutschen in München zu behaupten, zur selben Zeit, als die unsagbar grausamen Verbrechen eines Deutschen an zwei Kindern in Berlin verhandelt werden, in einer Zeit, in der ein Deutscher vor wenigen Wochen in Grafing wahllos auf Passanten einstach und dabei einen von ihnen tödlich verletzte, in einer Zeit, in der ein Deutscher einer Kölner Lokalpolitikerin in den Hals sticht und sie beinahe tötet und natürlich auch in einer Zeit in der nach wie vor Deutsche Brände in Flüchtlingsheimen legen, Molotowcocktails in Schlafzimmer von Familien werfen ist das schon ein starkes Stück. Und wozu Deutsche historisch betrachtet sonst noch so fähig sind, lasse ich jetzt mal stecken.

Niemand verharmlost Anschläge, Gewalt und Attentate. Aber daraus wieder die billigste aller billigen Nummern zu machen: Deutsch = Gut, Ausländisch = Böse, dafür muss man schon die radikale Einfalt im Hirn tragen, die Herr Henkel offenbar kiloweise täglich mit sich rumschleppt.

Szenenwechsel. Vor ein paar Tagen stand ich rechtzeitig zum Ferienbeginn an einem unserer improvisationserprobten Berliner Flughäfen und wartete auf einen Bekannten. Aus mir heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen hatte ich in einem Moment menschlicher Schwäche oder vielleicht auch nur Unachtsamkeit versprochen, ihn abzuholen. Da stand ich nun dumm rum und stand dumm rum und stand und guckte und sah dann einen jungen Mann mit arabisch wirkendem Aussehen, der leicht verschwitzt und hektisch auf seinem Mobiltelefon rumhackte. Neben ihm geparkt: ein sehr, sehr großer Rollkoffer.

Da ich nichts zu tun hatte, beschloss mein Unterbewusstsein, doch mal wieder die alten Angstphobien spazieren zu schicken, da sie etwas aus der Form gekommen waren. Die machten einen guten Job und ich begann, den barackenartigen Hangar nach weiteren schwitzenden vermeintlichen Arabern mit Rollkoffern abzuschreiten. Da muss man nicht weit gehen. Irgendwann, als ich gerade erneut bei meinem ersten Phobieopfer angekommen war, schaute er mich an. Ich schaute weg. Aber nicht lange. Ich versuchte jetzt die unauffällige Nummer: Mal hinter einer Säule vorbei zu ihm rüber sehen, mal vom Zeitschriftenstand hinter einer Zeitschrift hervorlugen. Er schaute mich jedes Mal an. Aha. In der Zwischenzeit hätte mich ein „Arier“ wie Anders Breivik zehn mal erschießen können.

Irgendwann ging eine Frau auf den jungen Mann zu und er ging mit ihr weg, mein Bekannter kam und wir fuhren nach Hause. Auf der Rückfahrt dachte ich: wie muss sich eigentlich ein junger Mann mit südländischem oder arabischen Aussehen gerade auf deutschen Flughäfen fühlen? Wie eine junge Frau mit Kopftuch? Wie soll das eigentlich weiter gehen, wenn wir uns nur noch abchecken, ob Gefahr droht?

Ich habe keine Antwort. Aber ich weiß, dass wir ganz dringend auf der Hut sein müssen, dass Vorurteile, Hass, Misstrauen und das schleichende Gift des Rassismus nicht noch weiter in unser Leben dringen. Das ist es, was der IS will, das ist es, was die Nazis wollen, das ist es, was Pegida und Teile der AfD wollen. Das ist ihr schäbiges Geschäft und wir müssen klar sein in unserer Haltung. Alle. Auch alle Politiker. Und auch alle Wählerinnen und Wähler. Man nennt es Verantwortung, genau dann gegen zu halten, wenn ein Panikkreislauf beginnt.

Deshalb sollten wir in diesen Tagen sehr genau darauf achten, wer wie Henkel, Seehofer, Wagenknecht oder auch die Orbans, Kazcinskys, Johnsons oder Trumps dieser Welt Populismus mit Populismus anfeuert. Wer nicht von solchen Leuten regiert werden will, wer nicht in solchen Gesellschaften leben will, der muss jetzt aufstehen und gegen halten.

* „Täter von München war Rassist mit rechtsextremistischem Weltbild. Hass auf Türken und Araber.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.7.2016, Seite 1; “Neunfacher Mord in München – Hinweise auf rassistisches Motive verdichten sich.“ SPIEGEL ONLINE, 27.7.2016.

Manchmal sagt ein Bild doch mehr als 1000 Worte:

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„Hass kann niemals die Antwort auf Hass sein. Noch nie ist etwas Gutes aus Intoleranz und Ignoranz entstanden.“ Michael Müller

Ansprache des Regierenden Bürgermeisters von Berlin nach dem Anschlag von Nizza, Brandenburger Tor, Berlin, 15.7.2016.

 

How not to do it.

Das Cleverle Cameron hat erneut eindrucksvoll bewiesen, wie man Nationalismus, Rechtspopulismus oder schlichtweg Altersstarrsinn nicht begegnen sollte: Mit Zweideutigkeit, Opportunismus und Nachsicht.

Es ist zum wahnsinnig werden, wenn man zusehen muss, wie die immer gleichen Fehler gemacht werden. Man könnte sich ja noch irgendwie hinwegtrösten, wenn es nur irgendwelche Dorfdödel in Randregionen beträfe. Aber mal eben aus reiner Dummheit sein komplettes Land aus der größten zivilisatorischen Errungenschaft der Menschheitsgeschichte zu manövrieren und dabei auch noch dem innerstaatlichen Zerfall auszusetzen, das setzt schon neue Maßstäbe.

Aus gegebenem Anlass verweise ich daher noch einmal eindringlich auf den Beitrag „Keine Sorge dieser Welt“ auf diesem Blog, der mit schönen Fehl-Fallbeispielen aus Österreich, Frankreich oder auch Bayern aufwartet.

Das Cameronsche Kalkül lautete kurz zusammengefasst: „Wenn ich den Menschen über Jahre hinweg erzähle, wie richtig scheiße die EU ist, dann werden sie mir am ehesten zutrauen, die Interessen des Vereinigten Königreiches in der EU durchzusetzen.“

Ja. Genau. Und das kannst Du ja jetzt auch mit aller Macht ohne Amt, ohne EU und bald auch ohne Vereinigtes Königreich, Du Vollhonk.

Doch bevor jetzt irgendjemand in Deutschland auf die Idee kommt, dass der Euro-Skeptizismus doch in ganz Europa ausgebreitet sei und damit auch in Deutschland – und dass das doch im Umkehrschluss auch bedeuten müsste, dass auch wir viel, viel stärker die EU bekämpfen müssten um sie zu reformieren, erlaube ich mir eine Blutgrätsche:

NEIN!

WEIL:

Zur Stimmung in Deutschland ein paar aktuelle Zahlen:

Im aktuellen Politbarometer* der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF stieg der Anteil der Deutschen, die in der EU hauptsächlich Vorteile sehen auf 45%. Nur 14% sehen Nachteile, 38% sehen Vor- und Nachteile. Einen Austritt Großbritanniens aus der EU finden 69% schlecht, nur 7% gut und 22% ist es egal. Das Bedauern liegt bei den Anhängern aller Parteien bei über 72% –außer bei den AfD-Anhängern mit 37%.

Werfen wir dann noch einen Blick auf eine aktuelle europäische Vergleichsstudie des Pew Research Center**.

Auf die Frage, ob das eigene Land außenpolitisch auch Rücksicht auf die Interessen anderer Länder nehmen solle – auch wenn das Kompromisse bedeutet – antworten 67% der Deutschen mit „Ja“. Der höchste Wert in Europa vor Schweden mit 54%.

Das Engagement des Landes in der globalen Wirtschaft finden 70% der Deutschen gut. Ebenfalls ein Spitzenwert mit Schweden und den Niederlanden. Zum Vergleich: In Frankreich stimmen dem nur 51% zu.

So zieht sich das weiter durch. Wenig verwunderlich: In Ländern mit stark nationalistisch ausgerichteten Bewegungen ist auch die Bevölkerung am nationalistischsten eingestellt. Spitzenreiter sind Griechenland, Ungarn, Polen, Italien.

Pro-europäisch, global und international am solidarischsten ausgerichtet sind die Bevölkerungen in Spanien, Schweden und Deutschland.

Auf die Frage, ob die Menschenrechte eine zentrale Rolle in der Außenpolitik des jeweiligen Landes einnehmen sollten, antworten 67% der Spanier, dass ihnen das sehr wichtig ist, 27% halten es für wichtig gemeinsam mit anderen Themen und nur 7% für unwichtig.

In Deutschland halten dies sogar 62% für sehr wichtig, 27% für eher wichtig und nur 4%, für unwichtig.

Über mehrere Umfragen hinweg zeigt sich auch, dass der Front National und das teilweise Anbiedern der etablierten Parteien an dessen Thesen, Spuren in Frankreich hinterlassen haben. Hier sehen wir Abweichungen von um die 20% zwischen dem deutlich internationaler ausgerichteten Deutschland und Frankreich.

Nun, warum erzähle ich das alles: Weil ich zum wiederholten Male alle Meinungsbildner – ob Journalisten, Politiker, Blogger oder sonstwen darauf hinweisen möchte, dass die Bevölkerung in Deutschland in allen Vergleichsstudien sehr viel moderner, internationaler, europäischer und fortschrittlicher eingestellt ist, als die anderer Länder. Darunter auch die USA. Apropos: Laut Forschungsruppe Wahlen wünschen sich 88% der Deutschen Hillary Clinton als nächste Präsidentin der USA und nur 3% Donald Trump. Der scheint also selbst bei der AfD-Klientel durchzufallen. Oder sie wissen nicht, wer das ist. Was ich für wahrscheinlicher halte.

Also: Wer wieder mit mehr Begeisterung für Europa wirbt, trifft bei den Deutschen auf offene Ohren. Wer aber unbedingt ein nationalistisches Förderprogramm für Populisten unterstützen möchte, der kann ja den Cameron machen. Oder den Faymann. Oder den Sarkozy. Oder den … ach.. die hat`s ja alle zerrissen! Dann vielleicht besser doch nicht, oder Horst?

 

* ZDF Politbarometer, Juni II, 24.6.2016
** Pew Research Center, „Europeans Face the World Divided“, June 13, 2016