Ein Mann mittleren Alters fährt eine Rolltreppe hinauf. Es scheint ein warmer Tag zu sein, denn er hat sein Jacket ausgezogen und hält es mit der rechten Hand über seiner Schulter. Sein Blick fällt auf eine Frau, die ihm auf der Rolltreppe entgegenkommt. Der Gesichtsausdruck des Mannes wirkt offen und freundlich.
Die Frau trägt eine leichte, dunkelblaue Jacke und auf ihrem Kopf ein roséfarbenes, modisch geripptes Tuch, das sie über ihre linke Schulter geschwungen hat. Sie dreht sich leicht in Richtung des Mannes. Im Hintergrund sehen wir weitere Passanten in der Unschärfe. Die Rolltreppe könnte zu einer U-Bahn oder einem Einkaufszentrum gehören.
Es handelt sich also um eine typische Begegnung in einer Metropole, wie sie weltweit täglich millionenfach stattfindet.
Das einzige Überraschende an dem Bild ist, dass es sich bei dem Mann auf der Rolltreppe um den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, handelt.
Die unbekannte Dame mit Kopftuch kann vieles sein.
Eine hier lebende Ausländerin.
Eine hier geborene Deutsche.
Eine der vielen tausend Touristinnen.
Eine Flüchtende.
Eine Gläubige, die andere Religionen und Weltauffassungen akzeptiert und toleriert.
Eine Gläubige, die andere Religionen und Weltauffassungen nicht toleriert.
Eine Frau, die von ihrem Mann unter Druck gesetzt wurde, ein Kopftuch zu tragen.
Eine Frau, die sich frei entschieden hat, ein Kopftuch zu tragen.
Aber eigentlich handelt es sich ja nur um einen Menschen auf einer Rolltreppe. Geht es am Ende gar nicht um die Frau?
Es geht um uns. Wie wir denken, was wir sehen, was wir sehen wollen und was nicht.
Wer weltoffen ist, akzeptiert und respektiert Menschen, die an andere Dinge glauben, sich andere Dinge anziehen und andere Dinge tun. So lange sie sich im Rahmen unseres Grundgesetzes bewegen. Und wie viele von uns wissen, wird die persönliche Toleranzgrenze meist nicht im multikulturellen Zusammenhang getestet, sondern am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, im Verkehr, in der Verwandtschaft oder gleich zu Hause.
Tolerant ist man erst dann, wenn es schwer fällt, tolerant zu sein.
Häufig lohnt sich ein zweiter oder dritter Blick. Hinter manchem Kopftuch verbirgt sich mehr Weltoffenheit, als wir vermuten. Und hinter manchem Politiker mehr Stehvermögen.
Ein Bild aus der Berliner Zeitung vom 25.7.2016. Im Bericht geht es um den Christopher Street Day. Man beachte die Dame mit Kopftuch links im Bild. Ich denke, sie hat so etwas noch nie gesehen. Ich auch nicht. Sie nimmt es mit Berliner Gelassenheit.
Eine eher traurige Meldung aus der WELT vom 19.6.2016
Am 18. September wählt Berlin.
Es geht darum, in welcher Stadt wir am 19. September aufwachen wollen.