Merkel erklärt die deutsche Automobilwirtschaft zum Problemfall – und wir reden über den Islam.

Während unsere Leitmedien die intellektuell wirklich sehr unterfordernde „Islam – Debatte“ zum Headliner der Regierungserklärung wählten (vermutlich, um sich möglichst viele Clicks der AfD-Trolle abzuholen), ließ Merkel einen Hammerschlag nach dem anderen auf die deutsche Wirtschaft nieder.

Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen, dieses Zitat: „Fehler in einzelnen Branchen können sich sehr schnell zu systemischen Problemen entwickeln.“ Systemische Probleme kennen wir spätestens seit dem Zusammenbruch der Finanzmärkte und den Bankenrettungsbemühungen, um eben diesen Kollaps einzudämmen. Aber die Kanzlerin sagte diesen Satz nicht im Zusammenhang mit Banken und Finanzmärkten. Sie sprach ihn im Zusammenhang mit dem Dieselskandal: „Wie schnell das gehen kann, sehen wir beim Dieselthema“ Und sie machte noch eines deutlich: „Es ist nicht garantiert, dass wir in 5 oder 10 Jahren noch so erfolgreich sind wie heute.“ In fünf Jahren ist 2023. Das ist bald.

Merkel betonte auch, dass die Welt sich „epochal“ verändere. Und nannte Nokia als beeindruckendes Fail-Beispiel. Von 50% Marktanteil bei Mobiltelefonen auf 1% in zehn Jahren. Die Kanzlerin sprach über Künstliche Intelligenz, den technologischen Rückstand unserer Wirtschaft, die Anforderungen an die Politik, Datensouveränität gegen Datenausbeutung zu setzen und benannte, was so wenige Menschen wahrhaben wollen: „Was immer digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden.“

Bildschirmfoto 2018-03-22 um 09.16.42

Den Anschluss nicht zu verlieren, gegenüber den USA, Indien, China sieht sie nicht nur als wichtigste Aufgabe Europas, sondern eben auch als „Bewährungsprobe für die soziale Marktwirtschaft.“ Wie sozial ist digital?  – Das ist tatsächlich eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Schade nur, dass sie in der deutschen Debatte keine Rolle spielt.

Deutschlands größte Herausforderungen sind nicht die Rente, das Kindergeld und schon gar nicht die Religionsfreiheit. Deutschlands größte Herausforderungen heißen Diesel, Digitalisierung und Demographie. Und das erschütternde ist, dass wir nicht nur einen tattrigen Heimatschutzminister haben und die CDU sich von Merkel in dem Augenblick abwendet, in dem sie ihre beste Stunde hat. Das schlimmste ist, dass unsere Medien die wichtigsten Herausforderungen überhaupt nicht wahr genommen haben.

Ein Land, das sich so mit Nebensächlichkeiten beschäftigt wie Deutschland, wird die Zukunft nicht gewinnen können. Wir sollten daher jegliche Scheindebatten beenden und uns den wirklichen Herausforderungen der Gegenwart stellen. Folgt man Merkel, so heißen die drei größten Probleme Deutschlands Volkswagen, BMW und Mercedes. Denn „Fehler in einzelnen Branchen können sich sehr schnell zu systemischen Problemen entwickeln“ heißt nichts weniger, als dass der Zusammenbruch der deutschen Automobilindustrie den Zusammenbruch der Zulieferindustrie und damit den Zusammenbruch eines Großteils der deutschen Wirtschaft nach sich ziehen wird.

Natürlich hat Merkel in diesen klaren Worten auch ihr eigenes Scheitern, das der Autobosse, der Autolobby und vor allem das ihrer CSU-Verkehrsminister beschrieben. Denn alle haben so lange auf den Diesel gesetzt, bis er ihnen unterm Hintern explodiert ist. Aber dennoch: Sie hat für ihre Verhältnisse jetzt so klar und deutlich die Probleme benannt, wie selten zuvor. Es wollte nur keiner hinhören.

In diesem Sinne: lasst uns über Islam, Flüchtlinge und weitere drittrangige Themen sprechen, während die deutsche Bundeskanzlerin in einem beispiellosen Vorgang gerade in ihrer Regierungserklärung die deutsche Schlüsselindustrie zur gefährdeten Spezies erklärt hat.

Glück auf!

Was mir Call me by your Name über Dich sagt

Nach dem Interview mit Marietta Slomka im heute- journal erreichten mich doch recht viele Hinweise von Menschen, die mir mitteilten, dass sie jetzt erst verstanden hätten, was ein Facebook-Like eigentlich aussagt. Das kann einen jetzt erschüttern, amüsieren, besorgen oder alles gleichzeitig – aber das ist der Stand der Dinge.

Alles was ich sagte war, dass wenn man den wirklich wunderbaren Film „Call me by your Name“ gesehen und danach geliked hat, man natürlich auch ein politisches Profil hinterlassen hat.

Der Film spielt im Italien der frühen 80er Jahre in einem internationalen, französisch-italienisch-amerikanischen Umfeld und erzählt die Liebesgeschichte eines Sommers – zwischen zwei Jungs. Hat man den Film gesehen und geliked, ist man mit großer Wahrscheinlichkeit nicht homophob, eher pro-europäisch, eher progressiv und weltoffen. Erkennt der Algorithmus noch 3-4 weitere Likes über ein Buch, einen Artikel, ein Video etc. kann er mit großer Wahrscheinlichkeit neben vielen anderen Dingen auch das Wahlverhalten treffend voraussagen. Und damit auch, ob ich zu einer Zielgruppe für eine Partei gehöre oder nicht.

Bildschirmfoto 2018-03-21 um 11.23.34

Wir hinterlassen also alle täglich Spuren, die für das politische Profiling genutzt werden können, ohne auch nur einen einzigen politischen Kommentar abgegeben zu haben. Einfach so.

Ich würde Ihnen aber dennoch dringend raten, Call me by your Name zu sehen. Es ist einer der schönsten Filme, die je gedreht wurden. Ganz unabhänging von Ihrer sexuellen Orientierung oder ob Sie ihn danach auf Facebook liken oder nicht.

Bildschirmfoto 2018-03-20 um 09.17.02

heute – journal – Interview mit Christian Sievers

Zur personellen Aufstellung der SPD nach den Turbulenzen der letzten Tage führte Christian Sievers ein längeres Gespräch mit mir für das ZDF heute-journal. Darin ging es auch um die wunderheilenden Kräfte des Außenministerium, die dem Amtsinhaber Sympathiepunkte bringen wo zuvor keine waren. Hierzu verweise ich auf meinen vorherigen Blogbeitrag „Rehazentrum Werderscher Markt 1“

Zum heute journal vom 12.2.2018 geht es hier:

Bildschirmfoto 2018-02-13 um 10.40.06

Es lohnt sich, das Interview mit dem einführenden Beitrag zusammen zu sehen.

Rehazentrum Werderscher Markt 1

Man könnte den Eindruck gewinnen, das Auswärtige Amt sei ein Top-Reha-Zentrum für angeschlagene Politiker. Und man hätte damit Recht.

Um es vorweg zu sagen und obwohl mich nie jemand fragen würde: Ich möchte den Job nicht machen. Er ist arbeitsintensiv, mit sehr, sehr vielen Reisen und der Begegnung mit vielen sympathischen aber auch sehr, sehr vielen unsympathischen Menschen verbunden. Und wenn man einmal nach sehr, sehr langen Sitzungen mit sehr, sehr vielen Beteiligten etwas Klitzekleines erreicht hat, darf man es meist nicht lauthals für sich reklamieren – denn auch das gehört zum Schicksal des Diplomaten. Nein, das will man nicht zwingend machen müssen. Aber es ist der begehrteste Job, den Berlin neben dem Kanzleramt und der Bauaufsicht am Flughafen zu vergeben hat: Chef des Auswärtigen Amtes (AA) am Werderschen Markt zu Berlin. Oder vulgo: Außenminister.

Die Begehrlichkeit entstammt aber nicht dem Amt selbst, sondern dessen mirakulösen, magischen Kräften. Das Geheimnis des Jungbrunnens im AA ist eines der bestgehüteten der Republik, doch irgend wann einmal fliegt jedes Geheimnis auf. Wie ich von einem russischen Troll nach langer Folter durch Alkohol- und Twitterentzug erfahren konnte, befindet sich direkt gegenüber des AA ein unterirdisches Wellnesszentrum für lang-, aus- oder gar ungediente Politiker, das nun durch die Arbeiten am neuen Stadtschloss kurzzeitig freigelegt wurde. In den Wirren der Nachwendezeit wurde das Wellnesszentrum nach Bonner Plänen 1:1 nachgebaut, denn die Geschichte des Jungbrunnens reicht weit in die bundesrepublikanische Geschichte zurück.

Konrad Adenauer führte das Amt von 1951-55 in Personalunion mit dem Amt des Bundeskanzlers und wie wir wissen, hat das weder seinem Ansehen noch seiner Gesundheit geschadet. Er wurde 178 Jahre alt und verbrachte davon 169 in irgendeinem Amt. Viel Außenpolitik war Anfangs auch nicht, weil die eine Hälfte der Welt uns nicht so gut leiden konnte und die andere hatten wir erschossen. Erst später war wieder mehr Diplomatie gefragt und dann gab der Alte das Amt auch schon ab an Heinrich von Brentano auf den Gerhard Schröder (der andere, also der erste, der von der CDU) folgte.

Der legendäre Ruf des AA gründet sich aber vornehmlich auf Willy Brandt, der nach zwei gescheiterten Kanzlerkandidaturen und der Reha im AA wie durch ein Wunder doch noch Bundeskanzler wurde. Doch das war dem Mirakel nicht genug – als nächstes zog Walter Scheel aus dem AA direkt um in das Präsidialamt und begann dort auch noch zu singen – ein weiterer Beweis für die magischen Kräfte der Diplomatenschmiede.

Hans Dietrich Genscher kam, nachdem er Bundeskanzler Helmut Schmidt entgegen seiner Wahlversprechen gestürzt hatte, ebenfalls zur Image-Reha ins AA und konnte wie durch ein Wunder danach endlose und zumeist inhaltsvakuumierte Sätze sagen, die den Deutschen so gut gefielen, dass er zur ewigen Außenministerlegende mutierte. Helmut Schmidt wiederum musste mangels Personal in der Endphase seiner Regierung das AA 1982 noch für einen Monat nebenher führen. Das war zu kurz für das ganz große Wunder, reichte aber immer noch für einen Job bei der ZEIT. Und die magischen Kräfte besorgten dem kettenrauchenden Workaholic auch noch eine gesegnete Restlaufzeit von ca. 558450 Zigaretten (bei sehr vorsichtig geschätzten 45 Reyno Menthol/Tag)

Der bis dato schwierigste Job für den Jungbrunnen war die Wandlung von Klaus Kinkel in eine interessante Persönlichkeit und man ahnt, dass auch der Jungbrunnen offenbar gute und weniger gute Tage kennt. Doch diese Schwächephase hielt nur kurz an. Denn schon bald darauf wandelte das AA einen rotzigen Ex-Sponti namens Joschka Fischer in einen trotzigen Außenminister, der dem US-Kollegen Powell ­– als dieser seine Fake-News über Saddam präsentierte – ein hartes, laut hörbares „I am not convinced“ entgegenschleuderte. Ein Highlight, für das der magische Brunnen offenbar unter Kinkel noch Kräfte gesammelt hatte.

Es folgte der nächste, dramatische Coup. Mit Frank Walter Steinmeier gelang dem magischen Jungbrunnen ein verschachteltes, verwinkeltes und genial langfristig ausgeklügeltes Manöver. Zunächst machte das AA aus Steinmeier den beliebtesten Kanzlerkandidaten, der jemals eine Wahl verlor, parkte ihn dann kongenial in der Opposition zwischen, holte ihn zurück an den Werderschen Markt und katapultierte ihn ohne mit der Wimper zu zucken mit einem doppelten Rittberger direkt ins Schloß Bellevue. Chapeau! Das Meisterstück.

Da die Magie des AA mit diesem langfristigen Projekt völlig ausgelastet war, blieb zwischenzeitlich für den glücklosen Nachfolger/Vorgänger leider nichts mehr übrig.

Aber für Sigmar Gabriel. Wenn es noch eines Wunders bedurft hätte – hier ist es. Die Kraft des Jungbrunnens ist wieder aktiviert und macht das Unmögliche möglich. Gabriel kann geradeaus gehen. Vermutlich sogar ohne Zick-Zack direkt nach Goslar. Doch wird diese Kraft noch lange genug halten? Oder wird sie schon für einen neuen Herrn im Haus gebraucht? Niemand kann es Wissen.

Liest man diese beeindruckende Erfolgsgeschichte fragt man sich, ob es das Haus eigentlich überhaupt interessiert, wer es unter ihm führt. Und vielleicht stellt sich auch die Frage, ob es überhaupt großen Sinn macht, ein Amt anzustreben, bei dem man am Ende viel weniger Gestaltungsspielraum hat als in vielen anderen Ämtern? Vielleicht kann man im Arbeitsministerium, im Gesundheitsministerium, im Familienministerium, im Umweltministerium, im Justizministerium, im Verkehrsministerium, im Bildungsministerium, im Innenministerium – also eigentlich in allen anderen Ministerien und vor allem im Finanzministerium am Ende viel mehr umsetzen, als ausgerechnet im AA? Und gerade im Finanzministerium kann man vielleicht auch für Europa, für die Entwicklungshilfe und für die Deutsch-Französische Freundschaft mehr erreichen, als auf dem roten Teppich.

Aber gut, den magischen Wellnessbrunnen, den gibt es natürlich nur am Werderschen Markt. Und wie jeder Pakt mit der Magie, fordert er seinen Preis. In diesem Fall den Verzicht auf vielleicht wichtigere Ministerien.

Doch wenn man schon nicht darauf verzichten will, dann vielleicht darauf, den Job erneut mit einem Mann zu besetzen? Sondern zum ersten Mal in der Geschichte mit einer Frau? 2018 vielleicht doch deutlich überfällig. Frauen können Diplomatie vielleicht sogar noch besser als Männer. Schon mal drüber nachgedacht? Im echten Leben stimmt es meistens.

teaser_hoellenritt_wahlkampf_2017