Keine Sorge dieser Welt.

Zum Umgang mit Rechtspopulisten empfehle ich heute einen Shiraz aus Südafrika sowie einige weitere plausible Verhaltensoptionen. Zum Wohl!

So nahe liegen Moderne und Vergangenheit beieinander, getrennt nur durch 31.000 Stimmen. Statt eines Rechtspopulisten bekommt Österreich nun den ersten grünen Politiker als Präsidenten in Europa. Wenn das Spektakel für eines gut war, dann vielleicht für die Erkenntnis, dass man eine moderne, tolerante Gesellschaft nicht geschenkt bekommt. Im Gegenteil: Man muss sie sich jeden Tag neu erkämpfen. Damit man sich in Zukunft ein solches Foto-Finish sparen kann, hier ein paar nützliche Hinweise für Praktiker.

Die wichtigsten Erkenntnisse – das zeigt ein kurzer Blick nach Frankreich, Österreich, England usw. – sind so eindeutig, dass es schon weh tut, sie noch einmal aufschreiben zu müssen.

Erstens: Gib niemals auch nur einen Millimeter Freiheit, Rechtstaatlichkeit, Menschenwürde und Minderheitenschutz auf.

Zweitens: Versuche niemals, den Rechten durch verbale Verrenkungen und Verständnisduselei auch nur den kleinen Finger zu geben, denn sie werden nie genug bekommen. Ein humaner, empathischer Demokrat kann niemals einen Wettlauf um hassbasierten Populismus gewinnen. Niemals. Jedes Entgegenkommen wird als Schwäche gewertet. Jede Einschränkung des Rechtstaates wird Forderungen nach noch mehr Einschränkungen nach sich ziehen.

Drittens: Jede Handlung, die als Anbiederung gewertet werden kann, wird als Scheitern ausgeschlachtet, demagogisch verdreht und in der irren Welt der Rechten als Bestätigung gesehen.

Viertens: Verlasse nicht die Koalition der Demokraten. Damit geht man nur der „Establishment“ – Saga auf den Leim, die alle zum Establishment erklärt, die nicht Rechtspopulisten sind. Und zwar vom Rastafari bis zum Vorstandsvorsitzenden. Wer jetzt meint, sich herauslösen zu müssen, um damit zu punkten, wird genau das Gegenteil erreichen. Die Versuche nach dem Motto „Aber ich gehöre doch auch nicht zum Establishment – in Wahrheit bin ich doch einer von euch geblieben und spiele gerne mit Eisenbahnen“ sind nicht nur peinlich, sondern vor allem kontraproduktiv. Denn die Kernaussage wird damit bestätigt und die Verschwörungstheorie untermauert. Die große Mehrheit hat genug Realitätssinn und erwartet nicht, dass ein Spitzenpolitiker das Leben eines Durchschnittsbürgers führt. Man erwartet einfach nur, dass der Job gemacht wird, für den man ihn gewählt hat.

Fünftens: Die auch von Medien oder vor allem von Polit-Rentnern gerne gespielte Saga: „Die Politiker von heute haben den Draht zum Volk verloren“ ist reiner Bullshit. Heieiei, diese Schmerzen! Der Vorwurf ist so alt und so billig, man könnte schreien, dass er immer noch aufgegriffen wird. Wahrscheinlich war noch keine Politikergeneration näher am Volk als die heutige – und noch kein Volk näher an den Politikern. Es ist ja gerade die Distanzlosigkeit, die permanente mediale Präsenz und die gegenseitige Durchleuchtung und Transparenz, also die völlige Entmystifizierung von Volk und Regierung die wir beobachten können, und nicht das Gegenteil. Über Willy Brandt wurde einmal der schöne Satz gesprochen „Er hatte ein großes Herz für die kleinen Leute, aber er wollte um Himmels Willen nichts mit ihnen zu tun haben.“ Ja – das ging damals noch. Heute muss man mit Spitzenpolitikern Eierlikör trinken oder Mutti Merkels Kochrezepte verdauen. Man kann Politik für „kleine Leute“ machen, ohne einer von ihnen zu sein. Und die meisten „kleinen Leute“ bevorzugen es auch, nicht von ihrem Nachbarn regiert zu werden. Ich für meinen Teil möchte gerne von Leuten regiert werden, die mehr können als ich. Und ich bin überzeugt davon, dass es grundsätzlich möglich ist, mehr zu können als ich. Von diesen Selbstzweifeln sind allerdings nur wenige Brandstifter in Sachsen-Anhalt geplagt, die mindestens so gut regieren wie Fußball spielen oder Feuer legen können.

Bereits jenseits des Erträglichen sind die alltäglichen Anbiederungen, die wir aus allen Parteien in Deutschland kennen. Damit bewegt man sich zu 100% auf dem Territorium der Rechten und verunsichert kollateral auch noch eigene Anhänger.

Peinliches Anbiedern ist zum Beispiel:

  • EU-Bashing bzw. Lächerlich machen der EU als Institution (Gurkenkrümmungstheorie). Immer nach dem Motto: Die EU ist an allem schuld, das nicht funktioniert aber an nichts von dem, das funktioniert. Ist natürlich sehr bequem und großer Quatsch.
  • Verhöhnen von gesellschaftlichen Errungenschaften wie gutem Benehmen gegenüber Minderheiten (Political Correctness). Mir ist nicht ganz klar, was es unserer Gesellschaft bringen sollte, wenn man wieder von Krüppeln, Tussis, Mongos, Schwuchteln, Knoblauchfressern oder Negern sprechen dürfte. Das ist halt wie Rülpsen und Furzen im Restaurant und die meisten von uns empfinden es ja durchaus als gesellschaftlichen Konsens, dieses zu unterlassen.
  • Verächtlichmachung der Gleichberechtigung der Frau (Gender-Policy). Gleiche Geschichte. Kommt vor allem dann komisch, wenn man die Gleichberechtigung seit Jahrzehnten ganz oben auf der Agenda hat. Olle Macho-Witze haben aber meist ganz andere Ursachen (Kleinschwanztheorie).
  • Einordnung von Umweltschutz als Verhandlungsmasse und Schwadronieren über „nicht 100% sichere Forschungserkenntnisse“ bis auf Grönland die erste Palme wächst und man über ganz Schleswig-Holstein Kite-Surfen kann.
  • Einstimmen in das „das wird man doch noch sagen dürfen“ – Mantra, auf das dann immer nur pure Stahlhelm-Rhetorik folgt.
  • Grenzen schließen.

Das schleichende Gift der Ignoranz ist eben schleichend, denn sonst wäre es ja kein schleichendes Gift. Häufig geht man ihm auch mal eben mit einem schlechten Witz auf den Leim, immer frei nach dem Motto: Lieber eine gesellschaftliche Errungenschaft aufs Spiel setzen, als einen höhnischen Lacher verlieren. Dabei gibt es auch super Witze, die ohne Vorurteil auskommen. Wie zum Beispiel: „Ich kann auch ohne Alkohol fröhlich sein.“ Gut. Das ist jetzt ein anderes Thema. Wo war ich? Ach ja:

Klare Kante. Klare Haltung. Kein Anbiedern. Klare Abgrenzung. Kein verstehen wollen, wo es kein Verständnis geben kann. Niemals – wirklich niemals – ein inhumanes Weltbild durch Meinungsfreiheit abgedeckt sehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Punkt. Punkt!

Keine Sorge dieser Welt rechtfertigt höhnische Verachtung von Minderheiten.

Keine Sorge dieser Welt rechtfertigt Hetze gegen Ausländer.

Keine Sorge dieser Welt rechtfertigt pauschale religiöse Diskreditierungen.

Keine Sorge dieser Welt rechtfertigt Einschüchterung, Bedrohung oder gar Gewalt.

Keine Sorge dieser Welt rechtfertigt es, eine Partei zu wählen, die Verhöhnung und geistige Brandstiftung zu ihrem Markenzeichen gemacht hat.

Die Fehler wurden gemacht. In Österreich koalierte erst die ÖVP mit der FPÖ, heute macht es auf Länderebene sogar die SPÖ. Der Wahnsinn in Potenz. Gerne wird diese „Umarmungsstrategie“ oder auch „Entzauberungsstrategie“ als Königsweg zur Selbstdemontage totalitärer Parteien bezeichnet. Und man muss anerkennend feststellen: Die Geschichte gibt dieser Theorie in beeindruckendem Maße zu 100% Unrecht. Da muss man nicht mal bis 33 zurückblicken – aber man könnte es natürlich. Auch in jüngster Zeit hat das überall überhaupt nicht funktioniert, dafür aber ordentliche Krater der demokratischen Verwüstung hinterlassen.

Blickt man ins mehr oder minder Vereinigte Königreich, so haben dort die Tories so lange gegen Europa gewettert, bis sie die UKIP großgezogen, sich selbst gespalten und das Brexit-Movement ordentlich befeuert hatten. In Frankreich versuchen Sozialisten einen auf starken Mann zu machen und man kann nur sagen: Chapeau! Das klappt ja hervorragend.

Also: Keinen Millimeter entgegenkommen und klar bleiben. Eigentlich nur das machen, wofür das eigene Herz schlägt. Für Freiheit. Für Demokratie. Für Zusammenhalt. Für Menschlichkeit. Für Vielfalt. Für Europa. Für alles, was man eben unter einer modernen Gesellschaft versteht.

Liebe Politiker aber auch Kommentatoren: Ihr müsst der Mehrheit in Deutschland vertrauen. Der Mehrheit! Nicht der Minderheit nachlaufen. Wenn ihr euch aktuelle Umfragen anschaut, dann einfach mal den Taschenrechner rausholen und feststellen, dass man heute noch einen anderen Weg einschlagen kann, nämlich den der Bestätigung der Mehrheit, auf dem richtigen Kurs zu sein. Das gilt für die Politik, aber das gilt auch für alle Bürger, die sich als Demokraten verstehen und nicht wollen, dass sich Vorurteile und Zwietracht in unserem Land ausbreiten.

Wir sind die klare Mehrheit im Land. Wir dürfen nicht nur Zuschauer sein. Ob im politischen Umfeld, an der Arbeitsstätte oder auch im Bekanntenkreis. Nicht mal eben aus Bequemlichkeit weghören oder gar gute Miene zum bösen Spiel machen. Gegenhalten, widersprechen und wenn es gar nicht anders geht, dann eben auch den Konflikt aushalten. Es liegt nur an uns. Und an allen, die in CDU/CSU, SPD, FDP, Grünen, Linken Verantwortung tragen.

Ihr habt es mit in der Hand, ob ihr dem Stumpfsinn in Deutschland weiter Raum gebt oder klar und deutlich sagt: Bis hierhin und nicht weiter. Dazu empfehle ich heute einen 2013er Groenekloof Shiraz von Neil Ellis. Denn ein bisschen Freude am Leben muss ja auch sein. Dafür macht man das ja alles.

Im Vorwärtsgang.

Die Marktlücke „Resigniert, pessimistisch und miesepetrig“ ist in Deutschland schon perfekt besetzt. Und das ist gut so. Dann kann die SPD sich auf das konzentrieren, was sie am besten kann: Das soziale, weltoffene, moderne Deutschland. *

Ich würde gerne 150 Jahre alt werden. Nicht, weil ich mich für unersetzlich halte, sondern weil die Welt so unglaublich spannend ist, dass ich unbedingt sehen möchte, wie das weitergeht. Vor ein paar Jahren, so mit vierzig, sah ich das noch anders und dachte: Na gut, was soll jetzt noch kommen? Reiten wir den Gaul eben noch ein paar Jahrzehnte ins Abendrot. Und dann kam plötzlich alles auf einmal. Ein schwarzer Präsident in den USA, Revolutionen und Konterrevolutionen im arabischen Frühling, rückwärts-landende Raketen, der Durchbruch bei den Elektroautos (leider nicht bei uns, dank der Penner mit den Superboni), die Energiewende, technologische Fortschritte und geradezu unvorstellbare medizinische Durchbrüche (etwa bei HIV), Facebook, Twitter, die Flüchtlingswelle und eine deutsche Bevölkerung so menschlich und hilfsbereit, wie ich sie mir nicht hätte erträumen können. In Deutschland, aber auch andernorts wird an der inklusiven Gesellschaft gearbeitet, die Menschen mit Behinderung nicht mehr ausgrenzt, sondern mitten im Leben am Lernen, Lieben, Arbeiten teilhaben lässt. Zahlreiche menschenschindende Arbeitsplätze werden durch neue, gesundheitlich weniger belastende ersetzt, die Arbeitslosigkeit sinkt immer weiter und die Zufriedenheit mit der persönlichen Situation erreicht in Deutschland neue Rekordwerte. Patchworkfamilien gehören zum Alltag wie schwule oder lesbische Paare und selbst verheiratete Heterosexuelle können unbehelligt ihr Leben fristen. Der Alltag in diesem Land war noch nie so international, weltoffen und aufgeschlossen wie heute.

Nach vielen Studien, darunter auch der OECD, sind langfristig gerade jene Gesellschaften am lebenswertesten und erfolgreichsten, in denen sozialer Zusammenhalt, demokratische Teilhabe, Meinungsfreiheit und ein verlässlicher Rechtsstaat stabil und dauerhaft verankert sind. Und wer hätte vor 50, 40 oder auch 30 Jahren darauf gewettet, dass Deutschland heute weltweit zu den wenigen Ländern gehört, die Sehnsuchtsorte für so viele Menschen auf der Welt geworden sind?

Ich nicht unbedingt. Denn nichts davon ist in Deutschland selbstverständlich. Keine Demokratie, keine Meinungsfreiheit, kein sozialer Zusammenhalt und schon gar kein verlässlicher Rechtsstaat. Es war ein hartes Stück Arbeit, das moderne Deutschland zu schaffen. Und es wird ein hartes Stück Arbeit sein, das moderne Deutschland zu erhalten, auszubauen, besser zu machen, jeden Tag.

Erwerbsbiographien verändern sich rasend schnell. Junge Leute wechseln zwischen Selbständigkeit, einem angestellten Verhältnis und dann wieder einer freiberuflichen Tätigkeit. Nicht (nur), weil sie müssen – sondern viele auch, weil sie wollen. In jedem Fall brauchen wir jetzt schnell einen modernen Staat, der dafür sorgt, dass unsere sozialen Sicherungssysteme – darunter auch die Rente – mit dieser Entwicklung Schritt halten können.

Die digitale Infrastruktur wird entscheidend für die Zukunftschancen von Städten und Regionen – ach was – Ländern und Kontinenten sein. So wie Sigmar Gabriel es treffend formulierte: Wir brauchen das schnellste Internet vor allem dort, wo es zur Zeit die geringsten Aufstiegschancen gibt. In den Stadtteilen oder Landstrichen, in denen neue Chancen geschaffen werden müssen. Und in den Schulen, in denen die Kinder nicht von zu Hause aus schon den Mac in den Ranzen gesteckt bekommen.

Die alternde Gesellschaft wird auch noch ein großer Spaß. Denn die meisten von uns werden nicht dement, sondern vor allem furchtbar gelangweilt vor der Herausforderung stehen, die 20 + x Jahre zwischen dem Rentenanfang und dem Lebensende rumzukriegen. Sex alleine kann es ja nicht sein. Also: Wie gestalten wir unsere Städte und unser Zusammenleben dann? Wird, wie Minister Mike Groschek aus NRW das formuliert, die Nachbarschaft zur neuen Familie? Wenn die Kinder, wie so häufig schon der Fall, eben nicht mehr vor Ort sein können? Brauchen wir, wie Ministerpräsidentin Malu Dreyer es schon vorlebt, sehr viel mehr moderne Wohnkonzepte? In jedem Fall müssen wir uns dringend der Frage eines erfüllenden und langen Lebens im Alter stellen. Sonst bekommen besonders die alten Männer schlechte Laune und wählen peinlichen Unfug. Früher half da noch eine Modelleisenbahn, aber ich fürchte, so einfach ist das heute nicht mehr.

Und dann gibt es noch ganz viele Fragen rund um die Kinderförderung zu klären. Dafür arbeitet Manuela Schwesig in ihrem Ministerium schon sehr konkret an neuen Modellen. Es ist doch in unserer Gesellschaft schon längst selbstverständlich, dass das Kindeswohl von Liebe, Zuneigung und Förderung durch die Bezugspersonen abhängt und nicht davon, wer mit wem verheiratet ist oder nicht. Da trifft man doch überall nur auf offene Ohren, außer vielleicht bei den Superhardlinern in CDU/CSU. Also anpacken, bitte.

Der ganze Themenkomplex Arbeiten 4.0 ist ein zentrales und enorm spannendes Thema, das übrigens Andrea Nahles mit einem sehr offenen und transparenten Prozess begleitet. (Und wer jetzt sagt: Kenn ich nicht! Dem sag ich: Dann geh halt auf die Website). Es weiß doch auch heute schon jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer, dass die Welt sich in geradezu atemberaubendem Tempo dreht und nahezu jede Arbeit von der digitalen, globalen oder mindestens europäischen Entwicklung tangiert wird. Meistens übrigens sehr positiv. Also keine Angst davor. Nicht den zum Teil schlimmen Arbeitsplätzen der Vergangenheit und Gegenwart nachtrauern und das Gestern verteidigen. Nicht wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen, sondern die Zukunft der Arbeit gestalten. Die große Herausforderung ist es, dieses soziale Deutschland zukunftssicher zu machen.

Ein wichtiger Indikator für eine erfolgreiche und zufriedene Gesellschaft ist natürlich auch der Wunsch, dass es gerecht zugeht. Nicht nur rechtstaatlich – da sind wir ja ziemlich gut – sondern auch bezüglich einer nachvollziehbaren Verteilung von Leistung, Wohlstand und Rendite. Da sieht es schon nicht mehr so gut aus. So ziemlich niemand mit klarem Verstand fordert ja eine gleiche, leistungsunabhängige Verteilung – aber eben eine nachvollziehbare. Die gerät nicht nur bei den Managergehältern immer mal wieder aus dem Lot, sondern auch bei der langfristigen Verteilung und Anhäufung von Wohlstand. Das ist ein Thema, das uns nicht loslassen wird und zu dem ich mir ein paar originellere Antworten als die bestehenden vorstellen kann.

2015 ist für mich das Jahr, in dem ich endgültig mein etwas angestaubtes Deutschlandbild korrigieren musste. Für andere war es das Sommermärchen 2006, für mich ist es das Willkommenswunder 2015. Der hilfsbereite, bis heute andauernde, unschätzbare Einsatz von Hunderttausenden, die Spendenbereitschaft von Millionen Deutschen zeigt eine Zivilgesellschaft, wie ich sie mir kaum hätte vorstellen können. Wie erhalten wir diese positive Energie? Wie entstehen auch im Integrationsprozess neue Chancen für unsere Gesellschaft – und auch neue Arbeitsplätze? Wie lenken wir auch Finanzmittel stabiler und berechenbarer in die sozialen Berufsfelder? Damit dort auch bei den Beschäftigten Sicherheiten entstehen können, die heute leider oft fehlen. Ein Thema von dem ich weiß, dass es besonders Hannelore Kraft umtreibt.

Von vielen unterschätzt in Zeiten der internationalen Migration ist auch die Binnenmigration in Deutschland. Also der Boom von Metropolen wie Berlin, München, Hamburg, Düsseldorf, Köln etc. Und die damit verbundene Abwanderung, Überalterung und auch der Preisverfall im ländlichen Raum. Das sorgt für Herausforderungen wie Preissteigerungen und Wohnungsknappheit in den Städten. Instrumente wie die Mietpreisbremse oder auch die Rückumwandlung von Ferienwohnungen in Mietwohnungen, wie Michael Müller sie in Berlin vorantreibt, sind eine Lösung. Neue Chancen für ländliche Regionen, wie Malu Dreyer sie ausbaut, sind aber ebenfalls erforderlich, damit junge Leute dort eine Zukunft sehen. Denn die Chancen der digitalen Welt von überall aus nutzen zu können, sind auch neue Chancen für ein gutes Leben und Arbeiten auf dem Land, das sich doch so viele wünschen.

Gerne würde ich 150 Jahre alt werden, um diese Entwicklung immer weiter begleiten zu können. Das wird mir nicht vergönnt sein. Im Gegensatz zu meiner Partei, für die schon seit 150 Jahren die Zukunft keine Bedrohung ist, sondern eine große Chance, die man anpacken und gestalten will. Das klappt nicht jeden Tag gleich gut, manchmal geht auch was daneben, aber auf lange Sicht ist das moderne – an so vielen Stellen sozialdemokratisch geprägte – Deutschland eine großartige Erfolgsgeschichte. Im internationalen Vergleich sogar eine richtige Sensation. Um die SPD muss man sich daher nicht sorgen, wenn sie so neugierig, optimistisch und zukunftsgewandt bleibt, wie die ersten 150 Jahre.

Wer in der Zukunft nur eine Bedrohung sieht, wird im Gestern sterben. Wer die Zukunft als Chance betrachtet, wird sie gestalten wollen. Und das hält ewig jung, wach im Kopf und wirkt außerdem noch ansteckend attraktiv. Die Arbeit für das beste Deutschland aller Zeiten wird jedenfalls niemals ausgehen. Und mir fällt keine Organisation ein, die für diese Aufgabe in ihrem ganzen gesellschaftlichen Umfang besser vorbereitet wäre, als die SPD. Daher jetzt bitte den Vorwärtsgang einlegen und los geht’s. Das beste Deutschland liegt noch vor uns.

* Dieser Beitrag erscheint in leicht modifizierter Form auf ZEIT ONLINE in der Serie „Meine Idee für die Sozialdemokratie.“

Das leuchtende Land. Fortschrittspreis der Berliner Republik 2016

Rede zur Entgegennahme des Fortschrittspreises der Zeitschrift Berliner Republik, Berlin, Filmhaus am Potsdamer Platz, den 17.3.2016.

Lieber Heiko Maas, herzlichen Dank für Deine wunderbare Laudatio. Es macht mich besonders stolz, dass Du heute hier bist. Denn als in Dresden die schrecklichen Demonstrationen begannen, warst Du das erste Mitglied der Bundesregierung, das klar und deutlich Stellung bezogen hat. Du warst damit Orientierungspunkt, ein Leuchtturm für alle, die auf ein klares Zeichen gewartet haben. Das war wichtig und dafür danke ich Dir.

Natürlich Danke ich der Jury und überhaupt allen Macherinnen und Machern der Berliner Republik, die als wichtiges Debattenmagazin nun schon über eineinhalb Jahrzehnte ein unersetzliches Forum ist, ein Impulsgeber für Vordenker und Nachdenker in dieser Republik. Heute versuche ich auch einmal, einige Denkanstöße zu formulieren.

Es ist erstaunlich, wie viele Dinge wir alle für selbstverständlich halten, die es so lange noch gar nicht gibt. Zumindest, wenn man die Strecke etwas ausdehnt. Und was sind schon zwanzig, fünfzig oder auch hundert Jahre in der Geschichte unseres Landes, Europas oder der Menschheit? Dabei meine ich nicht die offensichtlichen Dinge, über die wir alle sprechen – Europa, offene Grenzen, Demokratie, Frieden. Ich meine die kleineren Veränderungen, die schleichenden Widersprüche in jedem von uns.

Wir beklagen aussterbende Fußgängerzonen und kaufen im Internet.

Wir bedauern den Lohn und die Arbeitstaktung von Paketboten, klicken aber auf Samstagslieferung.

„Landlust“ ist eine der erfolgreichsten Zeitschriften der letzten Jahre – aber die ländlichen Regionen sterben aus.

Journalisten werfen den Volksparteien mangelnde Bindungskraft vor und schreiben für Zeitungen, die keiner mehr kauft.

Wir sagen oder hörten Sätze wie:

„Das Internet führt uns direkt in den Überwachungsstaat – das habe ich schon vor drei Jahren gepostet.“

„Die Wahlbeteiligung sinkt immer weiter (oder doch nicht mehr?)“

„Ich geh auf Nummer sicher mit einer Lebensversicherung.“

„Bei Autos macht uns keiner was vor.“

„Junge, studieren kannst Du immer noch – mach erst mal eine Banklehre.“

„Das Altersheim von der Oma zahlen wir mit ihrem Häuschen.“
„Omas Häuschen will keiner kaufen.“

„Das Handy bleibt aus dem Schlafzimmer!“

„Integration ist das Wichtigste!“
„Nina hat nur fünf deutsche Mitschüler.“

Und so weiter und so fort.

Ich werte das alles nicht. Es ist so. Und kaum einer von uns ist konsequent genug, ohne Widersprüche auszukommen.

Die Erde dreht sich rasant. Kontinente verschmelzen digital, Giganten wanken, neue Giganten entstehen, Dinge verschwinden, neue kommen. Immer schneller.

Das ist so. Und nur die wenigsten von uns werden sich auf eine autarke Wasserbüffelfarm in der Uckermark flüchten können. Oder wollen.

Was wir in unserem Land – und nicht nur in unserem – erleben, ist eine Verunsicherung, die sehr viele Menschen umtreibt – selbst diejenigen, denen es sehr, sehr gut geht.

Es ist eine Verunsicherung, die Menschen in Zeiten des Umbruchs befällt und die nachvollziehbar ist. Vor allem aber ist es eine Verunsicherung, die schon vorhanden war, bevor auch nur ein einziger Flüchtender sich aus Syrien auf den Weg machte. Sie ist sogar schon länger da, als es den Bürgerkrieg in Syrien überhaupt gibt.

Sie hat mit einem sich immer schneller drehenden Veränderungstempo zu tun, das bisher felsenfeste Anker im Leben der Menschen erschüttert.

Es sind viele kleine Dinge – die weder auf dem Radar der Medien noch der Parteien wirklich messbar sind.

Sicherheiten gehen verloren:

In Zeiten der Niedrig- oder sogar Negativzinspolitik schmilzt Erspartes. Gleichzeitig verlieren in vielen Regionen und Städten Immobilien deutlich an Wert und des Deutschen liebstes Kind – die Lebensversicherung geht den Bach runter.

In vielen Bundesländern – nicht nur im Osten – beobachten wir massive Binnenmigration. Attraktive Städte platzen aus den Nähten und auf dem Land bleiben die Alten ohne Arzt und Apotheke, ohne Bus und zum Teil auch immer noch ohne Internet.

Unsere Automobilindustrie eilt von Rekord zu Rekord und dennoch fragen sich viele: Wie lange noch? Werden wir am Ende zur verlängerten Werkbank vom Silicon Valley?

Es gibt noch ganz viele kleine und große Verunsicherungen, die ich heute gar nicht alle aufzählen will, denn im Grunde geht es dann wieder um die großen Fragen:

Wie wollen wir morgen leben und arbeiten?

Wie kann der digitale Wandel uns auch beim demographischen Wandel helfen?

Wie wird Deutschland wirklich ein modernes, offenes Einwanderungsland, in dem Menschen mit Migrationshintergrund einfach Deutsche sind?

Wie organisieren wir sozialen Zusammenhalt in Zeiten des Umbruchs?

Wie geben wir jeder Form von Familie die Unterstützung, die sie braucht? Und das ist nicht immer Geld!

Auch das ist nur ein Ausschnitt.

Das alles ist doch wahnsinnig spannend!

Lasst uns über den Tellerrand hinaus blicken. Lasst uns offen diskutieren, wie andere Länder etwas geschafft haben, wo manche schon weiter sind als wir und manche Fehler gemacht haben, die wir vermeiden können.

Und da es ja eine „lockere Verbindung“ zwischen der „Berliner Republik“ und der SPD gibt, möchte ich diesen Teil der Rede auch als Appell an meine gute alte SPD formulieren:

Lasst uns eine Partei sein, die offen ist für Ideen, ohne Scheuklappen durch die Welt geht, und die Entwicklungen einordnet in ihr Wertefundament, das so zeitlos und so dringlich ist, wie am ersten Tag.

Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Solidarität. Wie schreibe ich diese Werte fort in einer Welt, die sich scheinbar immer schneller dreht?

Nun – gerade weil die Welt sich immer schneller dreht, ist Haltung immer wichtiger.

Lasst uns nicht zu den zeternden Alten aus der Muppet-Show werden, die alles gut fanden, was einmal war und alles schlecht finden, was morgen kommt.

Das können wir nicht sein.

Wir Sozialdemokraten haben die Zukunft immer umarmt, sie gestaltet, und versucht, sie nach unseren Wertevorstellungen zu verbessern.

Und das ist uns verdammt nochmal auch gelungen.

Dieses Land ist heute demokratischer, offener, moderner, erfolgreicher, freier und attraktiver als es sich jede Generation vor der unseren hätte träumen lassen. Deutschland ist heute das leuchtende Land in der Welt – Vorbild für Millionen, wenn nicht Milliarden von Menschen – ein Sehnsuchtsort. Und das bei diesem Wetter!

Das ist zu großen Teilen der SPD zu verdanken.
Das werden wir weiter fortschreiben.

Ich glaube an die Kraft der sozialen Demokratie.
Ich glaube daran, dass sie die besten Antworten auf die Fragen unserer Zeit geben kann.

Aber ich habe keinen Bock darauf, dass wir mit manchen Themen nur noch als Vorletzte vor der CDU aufschlagen und andere den Weg bereiten lassen. Das kommt leider auch noch vor. Etwa bei der Homoehe und mit der kenne ich mich aus.

Lasst uns wieder wach im Kopf werden. Lasst uns diese so spannende Welt neugierig betrachten. Die Chancen erkennen, die Menschen mitnehmen, auch an manchen Stellen wieder mutig den Weg bereiten für eine neue Fortschrittspolitik im 21. Jahrhundert.

Politik ist häufig Kompromiss. Das weiß ich.
Wer mich kennt, weiß auch, dass ich Kompromisse aushalten kann.
Sie sogar zu schätzen weiß.
Ich bin verheiratet.

Aber als Sozialdemokrat sage ich auch: Es gibt unerschütterliche Grundsätze meiner Überzeugung, an denen gibt es nichts zu rütteln.
Da gibt es keinen Kompromiss.
Und auch kein Zurückweichen.
Und auch kein Verständnis.

Diese unsere Partei ist von Frauen und Männern gegründet worden, die sich auch kompromisslos auf den Weg gemacht haben, ihr Land zu ändern.

Sie haben für eine Sache gekämpft, auch wenn sie aussichtslos schien.

Sie haben für Themen und Programme gekämpft, obwohl sie anfangs keine Mehrheitsmeinung waren.

Die SPD ist die progressive Kraft in der Geschichte Deutschlands.
Sie darf nicht zur pragmatischen Kraft in der Geschichte Deutschlands verkommen.
Sie darf nicht beliebig werden.

Sie wurde nicht gegründet von Männern und Frauen, die sich gesagt haben: „Warum sollen wir denn eine Partei gründen – es gibt doch gar keine Demokratie?“

Sie haben nicht gesagt: „Wofür brauchen wir denn einen Kanzlerkandidaten, wir haben doch einen Kaiser.“

Willy Brandt hat nicht gesagt: „Das mit der Ostpolitik, das lassen wir lieber sein, der Güllner sagt, das ist nicht mehrheitsfähig.“

Progressiv ist progressiv
und konservativ ist konservativ.
Gestern können die anderen besser!

Ich komme aus der Werbung, aber ich verfluche den Tag, als Politiker begonnen haben, über Zielgruppen, Potentiale und Framing zu sprechen.
Das ist nicht euer Job!
Das ist mein Job!
Hört auf damit!

Es ist nicht euer Job, immer die Mehrheitsmeinung zu repräsentieren. Wie sollte das auch funktionieren? Wenn die Mehrheit Faschisten sind, werden wir dann auch Faschisten?

Macht, was euch euer Herz sagt.
Macht, was ihr für richtig haltet.
Seid kompromisslos, wo es keine Kompromisse gibt.

Und entwickelt eine Politik auf der Höhe der Zeit – aber auf Basis der Werte, für die wir stehen. Werbt für eure Politik, auch wenn es zunächst keine Zustimmung gibt, und gewinnt die Zustimmung der Menschen.

Und was mir ganz besonders am Herzen liegt:
Auf die Menschen zu hören ist das eine.
Ihnen nach dem Mund zu reden das andere.

Wir werden Menschen auf unserem Weg verlieren und wir werden neue gewinnen. Das ist so. Wir können und wir sollten aber auch nicht jedem hinterherlaufen.

„Der Mensch als Schaf…“ …ist ein Blick vieler Meinungsbildner auf die große Masse. Das ist nicht mein Blick. Der Mensch als Schaf, das einen Hüter braucht, einen Wachhund und Schutz. Das Schaf, das nicht für voll genommen werden kann und aus Angst Dinge tut, die ihm am Ende schaden.

Nein. Der Mensch ist kein Schaf. Und sollte auch nicht so behandelt werden. Wer am 13. März AfD gewählt hat, der wusste, was er tat. Der wollte nicht „einen Weckruf an die Politik senden.“ Der Mensch, der am 13. März AfD gewählt hat, der wollte nicht seine Unsicherheit zum Ausdruck bringen, sondern Wut und Ausgrenzung. Der wusste, was er tat. Der kannte die „Schießbefehl“- Debatte, der wusste um die toten Kinder auf dem Flüchtlingstreck, der wusste um den Terror, dem manche Minderheiten schon heute in Regionen Deutschlands ausgesetzt sind, der wusste um brennende Flüchtlingsheime mitten in einem der reichsten Länder der Welt. Am 13. März AfD zu wählen war kein Protest, kein Signal, kein Weckruf sondern einfach nur niederträchtig, würdelos und menschenverachtend.

AfD-Wähler sind erwachsene Menschen im wahlfähigen Alter und keine Opfer. Die Opfer sitzen vor oder sogar in Europa im Dauerregen vor Stacheldrahtzäunen, bewaffneten Grenzschützern und neuen Mauern oder in Flüchtlingsheimen auf die Brandsätze fliegen.

Also lasst uns auch erwachsen mit den AfD-Wählern umgehen.
Zeigt Haltung.
Seid deutlich.
Bietet den Menschen in verwirrenden Zeiten Orientierung, denn das ist es, wonach sie suchen. Widersprecht, wo widersprochen werden muss und biedert euch um Himmels Willen nicht an.

Kämpft wieder für Ideale.
Und wenn am Ende eine Regierungsbeteiligung steht, ist das gut.
Aber kämpft nicht für Regierungsbeteiligungen auf Kosten von Idealen, denn dann werdet ihr am Ende alles verlieren.

Kommt aus euren Lagern – den rechten, den linken, den mittigen. Vereint euch wieder hinter dem Gedanken, Zukunft zu gestalten. Diese Zeiten fordern keine Flügelkämpfe sondern Gemeinsamkeit und Miteinander. Nehmt das bitte ernst. Deutschland braucht jetzt eine Sozialdemokratie und nicht zwei, drei oder vier!

Schreibt die Geschichte der Zukunft und lebt nicht in den Geschichten, den Konzepten, den Rezepten, den Gräben, den Anträgen und den Antworten von gestern.

Deutschland braucht euch, eure Ideen, eure Werte für morgen! Macht unsere Partei wieder zur offenen, spannenden, lustvollen und zukunftsoptimistischen Kraft. Dann kommt der Erfolg von ganz alleine.

Mit euch – mit uns – zieht die neue Zeit!

Herzlichen Dank.

Am Ende einer langen Kampagne.

Aus über 10% Rückstand in drei Monaten einen Vorsprung von 4,4 % rauszuholen gelingt wohl nur der einzigartigen Malu Dreyer. Allerdings mit etwas Unterstützung von Julia Klöckner, Horst Seehofer und einem löchrigen Eimer.

An dieser Stelle werde ich nicht die ganze Geschichte der Malu-Dreyer-Kampagne erzählen, da es sich um eine sehr lange Geschichte handelt. Vielleicht mache ich das später einmal. Es ist auch nicht nur eine Geschichte von drei Monaten, sondern eher von zweieinhalb Jahren. Eine Geschichte, in die auch die lange „Unser-Land-von-Morgen-Tour“ gehört, in der die Ministerpräsidentin intensiv über Zukunftsthemen sprach und diskutierte und sich ein wirtschaftspolitisches Profil erarbeitete. Zu der Geschichte gehört auch Malu Dreyers Buch „Die Zukunft ist meine Freundin„, das ebenfalls die Zukunftsthemen behandelt sowie ganz viele persönliche Gespräche im ganzen Land. Richtig viel Arbeit also – aber Arbeit an der Zukunft, nicht am Gestern. Es gibt nicht nur einen Grund für den Erfolg – es gibt derer viele. Und auch wenn sie sich nicht immer sofort auszahlen: am Wahltag kommt alles zusammen. Auf jeden Fall war es eine schöne Geschichte, so mit richtigem Happy-End.

Am 5.9.2013 veröffentlichte Infratest Dimap im Auftrag des SWR eine Umfrage für Rheinland-Pfalz. CDU: 43%, SPD: 34%. Ein 9-Prozent Vorsprung ist schon eine Hausnummer. In den nächsten zweieinhalb Jahren würde die SPD in keiner einzigen Umfrage an der CDU vorbeiziehen. Bis zur allerletzten der Forschungsgruppe Wahlen vom 10. März 2016 – drei Tage vor dem Wahltag. Dazwischen lag sehr viel Arbeit, sehr viel gegenseitiges Vertrauen, manche harte Entscheidung und viel professionelles Handwerk.

Als am Sonntagabend die ersten Trends die Runde machten, munkelte man von einem Vorsprung der SPD vor der CDU in Höhe von 1-2%. Ich hätte auch 0,1% genommen, Hauptsache stärkste Partei. Am Ende eines fröhlichen Abends lag die SPD dann fette 4,4% vorne. Hinterher kamen wieder ein paar Journalisten und wollten von mir „die eigentlichen“ Gründe für den eindeutigen Sieg der Ministerpräsidentin. Ich antwortete dann immer: „Die eigentlichen Gründe kann man seit zwei Monaten in meinem Blog nachlesen. Andere gibt es nicht.“

Und das ist so. Viele dachten, mein Blog sei so eine Art „Spin-Plattform“, aber entgegen der allgemeinen Einschätzung, war ich noch nie ein Spin-Doctor. Was ich über die letzten Wochen zur Wahl in Rheinland-Pfalz geschrieben habe, war nicht nur meine feste Überzeugung, sondern Punkt für Punkt durch unsere quantitative und qualitative Forschung gedeckt.

Wir führen keine Wahlkämpfe aus dem Bauch heraus. Das wäre unprofessionell. Wir führen auch keine Wahlkämpfe auf Grundlage von geraunten „Rückmeldungen von der Basis“ oder „Mir haben viele Leute in letzter Zeit gesagt, dass…“ Denn für solche Fälle hat Gott die Sozialforschung erfunden und ich muss sagen, da hatte er einen guten Tag erwischt.

Kurz zusammengefasst: Es ging um Vertrauen, Verlässlichkeit, Erfahrung und Haltung. Malu Dreyer empfanden die Menschen als glaubwürdig und selbst ihre umstrittene Absage der „Elefantenrunde“ im SWR wurde ihr am Ende zum Vorteil. Zitat aus einer Fokusgruppe: „Ich bin da nicht einer Meinung mit ihr, aber dass sie das so durchgezogen hat: Alle Achtung.“

Konsequent durchgezogen hat auch Julia Klöckner ihre völlig inkonsequente Haltung zur Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin. Die eiskalte Berechnung, dass sie Montag und Dienstag der Kanzlerin in den Rücken fallen könne, Merkel aber Mittwoch dann auf einer Veranstaltung wieder gute Miene zum bösen Spiel machen müsse, war einfach zu plump, um die Leute nicht abzustoßen.

Hinzu kam eine Retro-Politik von Julia Klöckner in den Bereichen „Herdprämie“, „Gebühren für Bildung“ und ihre permanente Kritik an sozialen Errungenschaften wie dem Mindestlohn, die sie deutlich von der modernen Merkel-CDU abtrennte. Die junge Frau Klöckner vertrat in ihrem Wahlkampf eine viel ältere, rückwärtsgewandte CDU als die Bundesvorsitzende und Kanzlerin. Das schadete ihr in den modernen Milieus, die Merkel für die CDU in den letzten Jahren erschlossen hat.

Hauptschuldiger an den CDU-Niederlagen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg ist aber Horst Seehofer. Der alte Bluthund Heiner Geißler hat Seehofer auch in einem sehr interessanten Interview für die Erosion der CDU und das Erstarken der AfD direkt verantwortlich gemacht. Und Julia Klöckner hatte dann nichts Besseres zu tun, als eben diesen Spalter in ihren Wahlkampf einzuladen.

Diesem Wackelkurs entgegen stellte sich eine Ministerpräsidentin mit Haltung und einem unverrückbaren Wertefundament. Und eine Parteiführung und Partei vor Ort, die diesen Kurs vorbehaltlos und konsequent unterstützte.

Schlüsselbild des Wahlkampfes ist für mich eine Aufnahme von zwei Wahlplakaten. Auf dem einen sieht man Julia Klöckner mit dem Spruch „Flüchtlingszahl reduzieren“ sowie einem unlesbaren Abschiebegestammel darunter, auf dem anderen Malu Dreyer mit einem einzigen Wort: „Offenheit“. Ja, das geht. Man kann in Deutschland 2016 „Offenheit“ plakatieren und damit Wahlen gewinnen. Oder vielleicht genau deswegen.

Die Entscheidung
(Bild: imago/Hoffmann; zum Vergrößern klicken)

Kommen wir zu einem weiteren Erfolgsfaktor, sowohl von Malu Dreyer in RLP als auch von Winfried Kretschmann in BaWü: das strategische Dilemma der bisherigen Koalitionspartner.

Die Wählerinnen und Wähler haben verstanden, dass es in beiden Bundesländern am Ende ausschließlich darum gehen würde, wer stärkste Partei wird. Und sie wollten Winfried Kretschmann und Malu Dreyer als Ministerpräsidenten behalten. Vielleicht noch deutlicher wollten sie weder Guido Wolf noch Julia Klöckner als Ministerpräsidenten bekommen. Das war wiederum ein Problem für die bisherigen Koalitionspartner, der SPD in BaWü und der Grünen in RLP. Es war allerdings auch ein hausgemachtes Problem, das beide nicht hätten haben müssen. Vorausgesetzt, sie hätten bis vor etwa sechs Wochen – als das alles bereits absehbar war – ihre Strategie überdacht und sich klar bekannt: Koalition mit dem bisherigen Ministerpräsidenten oder Opposition. Das haben sie nicht getan. Beide haben sich ein Hintertürchen offen gehalten für Jamaica-Bündnisse oder gar direkte Koalitionen mit der CDU.

Als nun der Wahltag näher kam, wurde manchem Wähler klar: „Mist! Wenn ich in RLP die Grünen wähle, bekomme ich am Ende Julia Klöckner“ oder „Oh Gott, wenn ich in Baden-Württemberg SPD wähle, bekomme ich am Ende Guido Wolf.“ Und so vergingen die Tage, und so verrannen die Prozente. Grüne in RLP und SPD in BaWü hatten über Wochen ein großes Loch im Eimer und ignorierten es nach dem Motto: „Das wird schon keiner merken, wenn ich nur immer weiter laufe.“ Am Ende war der Eimer ziemlich leer. Und was lernen wir, wenn ein Loch im Eimer ist?: „Dann stopf es, oh Henry, oh Henry, oh Henry, verstopf es…“

Und nun für alle unregelmäßigen Blogleser noch ein Best-of-Rheinland-Pfalz-Blog. Die ausführlichen Beiträge sind natürlich immer noch zu finden.

Aus dem Blogpost „Das Nervenflattern der Julia Klöckner“ vom 19.1.2016.

Umfragestand: FGW vom 22.1.2016: CDU 38%, SPD: 31%

„Die SPD steht nicht da, wo sie stehen sollte. Aber alle Indikatoren, die wir auch aus eigenen Forschungsergebnissen zur Verfügung haben, zeigen: Die Unentschlossenen, die sich entscheiden, entscheiden sich im Augenblick zu über zwei Dritteln für Malu Dreyer.“

„Das ist nun der dritte Wahlkampf in Rheinland-Pfalz, den ich begleiten und aus nächster Nähe erleben darf – und es ist mit Abstand der spannendste. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass die Herausforderin eine veritable Gegnerin ist, die mit allen Wassern des modernen Politmarketings gewaschen ist und vor keinem Mikro, keiner Kamera oder Tweet zurückscheut. Allerdings zeigt die aktuelle Entwicklung auch: Je mehr die Menschen von Julia Klöckner sehen, desto eher entscheiden sie sich für Malu Dreyer.

Diese Wahl wird am 13. März entschieden und keinen Tag früher.
Diese lapidare Feststellung war selten so zutreffend wie in diesem Wahlkampf.
Nicht eine lange Führung, sondern das Timing am Wahltag entscheidet. Und im Augenblick läuft die Zeit gegen Julia Klöckners CDU.

Es steht zu erwarten, dass Frau Klöckner angesichts dieser für sie möglicherweise karrierebeendenen Entwicklung ganz tief in die „Roland-Koch-Gedenkpopulismus-Kiste“ greift. Denn auch wenn sie sich selbst gerne als Verteidigerin der Kanzlerin sieht, sind ihre Absetzbewegungen unübersehbar.  Man kann sich jedenfalls vorstellen, dass in der CDU Rheinland-Pfalz die vielen geplanten Auftritte einer immer unpopuläreren Kanzlerin kritisch gesehen werden. Für beide – Merkel und Klöckner – geht es am 13. März um sehr viel – wenn nicht ums Ganze. Mal sehen, wer zuerst den Seehofer macht. Wem das am Ende helfen wird, wird man sehen. Rheinland-Pfalz mit Sicherheit nicht.

Aus dem Blogpost: „Auch Du, Julia Brutus-Klöckner“ vom 22.2.2016.

Umfragestand: Infratest Dimap vom 11.2.2016: CDU: 37%, SPD:31%

Jetzt geht der Wahlkampf auf die Zielgerade und in den beiden Nachbarländern Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sieht es ganz danach aus, als ob die Staatskanzleien von Winfried Kretschmann und Malu Dreyer verteidigt würden. Einmal mehr zeigt sich, dass man sich im Rampenlicht auf Dauer nicht verstellen kann. Charakter kann man nicht programmieren.

Aus dem Blogpost „Der Trend heißt Dreyer“ vom 4.3.2016:

Umfragestand: Forschungsgruppe Wahlen vom 4.3.2016: CDU: 35%, SPD: 34%

Was wir in Rheinland-Pfalz gerade erleben, nennt sich Momentum und zwar mit hoher Dynamik und klarer Richtung zugunsten von Ministerpräsidentin Malu Dreyer und der SPD. Diese Entwicklung ist noch klarer zu erkennen, wenn man sie mit der Entwicklung der SPD in den anderen wahlkämpfenden Bundesländern vergleicht. Sie ist aber nicht atypisch für Rheinland-Pfalz, das bei der Bundestagswahl 2013 noch zu 43,3% CDU wählte, so wie die CDU auch die vergangenen Bundestagswahlen in Rheinland-Pfalz immer gewann. Nicht aber die letzten vier Landtagswahlen. Jetzt liegt die CDU von Frau Klöckner über 8% unter dem Wahlergebnis von Frau Merkel in Rheinland-Pfalz.

Der Wahlkampf der CDU in Rheinland-Pfalz, man muss es so sagen, ist eine Blaupause dafür, wie man eine Wahl auf den letzten Metern in den Sand setzt. Der Wahlkampf der CDU ist unkonzentriert, unentschieden, unglaubwürdig in der zentralen Politikfrage und hat zu allem Überfluss auch noch eine erratische Frontfrau an der Spitze.

Zuletzt erlebte ich eine solche Entwicklung in NRW 2010, als Jürgen Rüttgers seinen sicheren Vorsprung erst einbüßte und in den letzten acht Tagen völlig verlor. Die letzten Umfragen von ZDF und ARD sahen damals acht Tage vor der Wahl die Rüttgers-CDU mit 2% – 4% vorne. Die Ministerpräsidentin hieß dann Hannelore Kraft.

Stauss_Dreyer

Mainz, Sendegebäude des SWR, 1. März 2016, etwa 90 Sekunden nach Ende des TV-Duells. Das war ein guter Tag. Ein noch besserer sollte folgen.

Umfragenstand am 1.3.: CDU 36%, SPD 32%.
Wahlergebnis am 13. März: CDU: 31,8%, SPD 36,2