Die Selbstpulverisierung der SPD Berlin.

Auf Basis falscher Wahlanalysen treiben die Parteivorsitzenden Giffey und Saleh die Partei in einen Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Bei der nächsten Wahl droht der SPD in Berlin die Bedeutungslosigkeit.

Das Ergebnis war eine Katastrophe. Das Ergebnis der SPD Berlin am 26. September 2021 – dem Tag der Bundestagswahl und in Berlin auch noch der Wahlen zum Abgeordnetenhaus, zu den Bezirksverordnetenversammlungen, dem Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ und des Berlin-Marathons,  blieb deutlich unter den eigenen Hoffnungen. Die Partei hatte zuvor den nicht so wirklich glücklich wirkenden Regierenden Bürgermeister Michael Müller zum Abschied auf Raten „überredet“, um mit der neuen Spitzenkandidatin Franziska Giffey zu punkten. Die SPD wollte wieder an Wahlergebnisse eines Klaus Wowereit um die 30% anknüpfen. Aber der Wahlkampf in Berlin hätte nicht schlimmer laufen können. Wo auch immer sich die Gelegenheit bot, machte die Kandidatin deutlich, dass ihr eine Koalition mit CDU und im Zweifel auch noch FDP („Deutschland-Koalition“) lieber wäre, als das Rot-Grün-Rote Bündnis ihres Amtsvorgängers fortzuführen. 

Und das mitten in einem Wahlkampf, in dem gleichzeitig die Bundes-SPD alles daran setzte, die Menschen davon zu überzeugen, dass eine Regierung ohne CDU/CSU der einzige Weg sei, um endlich dringend notwendige Reformen im Land angehen zu können. Am deutlichsten widersprach Giffey den Initiator*innen des Volksentscheides „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Über deren Anliegen lässt sich trefflich streiten – aber dass den Berliner*innen der Ist-Zustand auf dem Wohnungsmarkt nach zwanzig Jahren SPD-geführtem Senat mehr als ungenügend erschien, war offensichtlich.

Der Wahltag war dann ein mehrfaches Desaster. Das größte Desaster, das schließlich zu Neuwahlen führte, wurde bereits ausreichend erörtert. Für die SPD aber war das eigentliche Ergebnis auch schon ernüchternd genug. Die SPD Berlin kam bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2021 auf nur 21,4% der Stimmen – und unterbot damit das Ergebnis von Michael Müller 2016 (21,6%). Während Müller noch auf einen Abstand von vier Prozentpunkten zur zweitplatzierten CDU kam, landete die SPD mit Giffey nur noch 2,5 Prozentpunkte vor den Grünen. 

Und nicht nur das: Während die Bundes-SPD ihr Wahlergebnis 2021 in Berlin im Vergleich zu 2017 um 5,6 Prozentpunkte auf 23,4% steigern konnte – schaffte es die SPD Berlin am selben Wahltag, Stimmanteile zu verlieren. Also am Tag, als Deutschland erstmals seit gut zwei Jahrzehnten die SPD zur stärksten Partei im Bund machte. Es kam noch schlimmer. Der Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, wurde von den Berliner*innen mit satten 59,1% angenommen. Wie weit, so fragte man sich, kann sich eine Großstadt-SPD eigentlich noch von ihrer Klientel entfernen?

Im Vergleich zu 2016 waren die Grünen die Gewinner*innen der Wahl 2021 und verbesserten sich um 3,7 Punkte auf das mit 18,9% beste Ergebnis ihrer Geschichte. Schon im Vorfeld der Wahl 2021 wurde deutlich, dass sich kein Giffey-Effekt für die SPD einstellen wollte. In den Umfragen tat sich nach ihrer Nominierung absolut nichts. Am Wahltag lag Giffey nach den Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen in der Direktwahl bei 39% – aber selbst Müller lag 2016 noch bei 54%. Die Spitzenkandidatin hatte zu diesem Zeitpunkt zwar noch keinen „Amtsbonus“ erarbeiten können – aber diesen würde sie auch im Amt nicht mehr bekommen. Ihre Direktwahl-Quote lag 2023 noch unter der von 2021 – bei 32%. Ein Amtsmalus. Klaus Wowereit, zur Erinnerung, lag gerne mal bei 65%. 

Schon 2021 machten die Berliner*innen also deutlich, dass sie in der Spitzenkandidatin kein überzeugendes personelles Angebot der SPD sahen. Die Berliner*innen fremdelten mit Franziska Giffey und Franziska Giffey mit Berlin. So blieb es auch. Die drängendsten Probleme, damals wie heute, waren der Miet- und Wohnungsmarkt und die Verkehrswende – aber in dieser Kandidatin sahen sie keine Zukunftskompetenz.

Die Forschungsgruppe Wahlen schreibt in ihrer Wahlanalyse zur Wahl 2023:

„Spitzenkandidat/innen: Giffey ohne Zugkraft: Mitverantwortlich für das schwache SPD-Ergebnis ist eine Spitzenkandidatin, die weit weniger Zugkraft entfaltet als andere Länder-Regierungschefs. […] Beim Ansehen verfehlt Giffey klar das Niveau ihrer Amtsvorgänger Michael Müller oder Klaus Wowereit und liegt auf der +5/-5-Skala mit 0,4 (2021: 0,9) nur knapp vor Kai Wegner (CDU), der – wie alle Berliner CDU-Kandidaten seit 2001 – mit 0,3 (2021: 0,1) ebenfalls schwach bleibt.“ 

Schwach blieb die Regierende Bürgermeisterin auch in der Aufarbeitung der Wahlunregelmäßigkeiten 2021, die zwar nicht von ihr, aber von einem ihrer Senatoren zu verantworten waren. Er durfte bleiben. Ein konsequentes Durchgreifen, wie es etwa Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz nach ihrer Amtsübernahme demonstriert hatte, blieb aus.

Es blieb – und bleibt – überhaupt so vieles aus. Vor allem die Aufarbeitung der beiden Wahlklatschen 2021 und 2023. Giffey und ihr Co-Vorsitzender Saleh gingen und gehen wohl davon aus, dass die Berliner*innen eine konservative Wende gewählt hätten. Das ist objektiv nicht der Fall und zu diesem Schluss kann man nur kommen, wenn man sich selbst aus der Verantwortung nehmen will. Faktisch hat die CDU deutlich zugelegt, die FDP flog dafür aus dem Parlament und damit liegt der konservative Anteil in Berlin bei 28% im Abgeordnetenhaus (die AfD mit 9,1% ist ja für niemanden als Partner diskutabel).

Tatsächlich haben die Berliner*innen – wie schon so oft – eine satte progressive parlamentarische Mehrheit (90 von 159 Mandaten) in der Stadt gewählt – ohne progressive Politik zu bekommen. Sie haben die SPD eher nicht gewählt, weil sie ihnen zu wenig fortschrittlich war. Weil sie das Gefühl vermittelt bekamen, dass diese SPD dem Fortschritt regelrecht im Wege stehe. Dabei geht es nicht immer darum, ob es so war – sondern ob es so schien. Und den Eindruck der SPD als Bremserin in dieser Koalition konnte man durchaus bekommen.

Die CDU profitierte 2023 von einem Mobilisierungserfolg – auch auf Kosten der FDP übrigens – und vor allem auch von einem Mobilisierungsdefizit der SPD. Hervorgerufen auch durch die SPD- „Kompetenzverluste im Bereich ‚Wohnungsmarkt‘“ – so die Forschungsgruppe Wahlen in ihrer Analyse. Was für ein Wunder, wenn man sich gegen 60% der Bevölkerung stellt.

Dabei gab es auch viele Fehler der anderen – allen voran die überflüssige Friedrichstraßenaktion der Grünen. Eine Symbolpolitik rund um eine trostlos verbaute Straße, die außer ein paar Lobbyisten aus umliegenden Büros niemand aufsucht, niemand mag und die Berliner*innen nur nutzen, um von ihr weg zu kommen. Wenn man schon Verkehr beruhigen will, warum nicht da, wo Menschen leben? An der Nummer war alles falsch, sie hat die Grünen auch Stimmen gekostet – aber das löst nicht das Problem der SPD. Ohne ihren Friedrichstraßenmurks wären die Grünen ja deutlich vor der SPD gelandet (mit einer überzeugenderen Spitzenkandidatur sowieso – auch schon 2021).

Der SPD ist es 2023 nicht gelungen, sich wie im Bund 2021 von den Grünen durch progressive und programmatische Kompetenz abzusetzen und wieder deutlich stärkste fortschrittliche Kraft in der Stadt zu werden. Olaf Scholz verkörperte 2021 mehr Progressivität – und vermittelte vor allem auch mehr konkrete progressive Politik als die SPD-Spitze in der größten Metropole Deutschlands. 

Die SPD trägt bei vielen Wähler*innen immer noch die Grundvermutung in sich, dass sie sich bei progressiven Mehrheiten auch für einen fortschrittlichen Kurs entscheiden wird. Vor allem in einer Stadt wie Berlin. Es war in diesem Wahlkampf daher nicht leicht, die Wähler*innen davon zu überzeugen, nach all den Jahren und all den Pannen, diesmal doch noch einmal SPD zu wählen. Das beste Argument war immer, die CDU zu verhindern. Es war auch oft das letzte Argument. Positive Argumente für die SPD – personell oder programmatisch – die auch im Gespräch gezündet hätten, gab es nicht. 

Natürlich ist die Lage nach dieser Wahl schwierig. Aber in der Wahlanalyse der Forschungsgruppe Wahlen wie in der anderer Institute steht auch klar zu lesen: „Neben einer rot-grün-roten Neuauflage gehen die Berliner/innen auch zu sämtlichen anderen denkbaren Koalitionen auf Distanz.“

Sollte die SPD nun geradezu anbiedernd ihr Heil in den Armen der CDU suchen, machte sie sich in dieser Stadt endgültig überflüssig. Eine schwächere Verhandlungsposition kann man sich ja gar nicht schaffen. Es ist ein strategisch völlig falscher Schritt auf Basis einer völlig falschen Analyse. Die SPD muss natürlich auch gar nicht regieren, sondern könnte auch mal versuchen, sich in der Opposition neu zu sammeln. Auch dann mit neuem Köpfen und neuen Inhalten. 

Aber eine Große Koalition ohne Not? Die SPD hat noch nicht einmal ein demokratietheoretisches Argument auf ihrer Seite, sich der CDU anzudienen. Es gilt nicht, einen Rechtsruck mit der AfD oder sonst etwas dramatisches zu verhindern. Mit ihrem Schritt in Richtung CDU verhindert die SPD nur sich selbst. Also einen Senat unter SPD Führung, der gerade – wenn auch knapp – bestätigt wurde. Wie absurd ist das denn?

Wäre es nicht am vernünftigsten, einer progressiven Mehrheit in Berlin auch einmal einen progressiven Senat folgen zu lassen? 

Dieser Rot-Grün-Rote Senat ist trotz widriger Umstände wiedergewählt worden. Die stärksten – wenn auch überschaubaren – Verluste im progressiven Lager, hat dabei die SPD erlitten. 

Dieser Senat – einschließlich seiner Chefin – hat also vom Volk die Chance bekommen, es besser zu machen als im ersten Anlauf. Die Berliner*innen haben Rot-Grün-Rot bestätigt. Und nicht einmal knapp. Das Bündnis verfügt über 90 von 159 Sitzen – Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün über 86. Was gibt es daran nicht zu verstehen?

Wäre es jetzt für die SPD nicht Zeit, es mit einem wirklich progressiven Senat zu versuchen? Nicht auf der Bremse zu stehen, sondern vorneweg ein progressives Bündnis anzuführen, das die Mehrheit der Berliner*innen 2021 gewählt und 2023 im Amt bestätigt haben? Es wäre die Chance auf den ersten progressiven Senat unter SPD-Führung seit Jahren.

Der Autor hat die Wahlkämpfe der SPD in Berlin 2001, 2006, 2011 und 2016 betreut und ist Autor des Spiegel-Bestsellers „Höllenritt Wahlkampf- ein Insider Bericht“.

Sommer, Sonne, Hauptstadt, – Wahlkampf?

Ein leichter, frühsommerlicher Essay an Rucolasalat über einen Hauptstadtwahlkampf, dessen heiße Phase erst nach der heißen Phase beginnt.

Die Sonne lacht, Fahrräder werden erst abgestaubt, aufgepumpt, geölt und dann geklaut, die Liegestühle an der Spree sind alle besetzt, Trolleys rumpeln über Trottoir-Platten mit canyonartigen Spaltmaßen, Mas Que Nada ertönt in den schauerlichsten und schönsten Variationen auf Plätzen und in U- und S-Bahnen, parliert wird in jeder Sprache der Welt oder gleich in broken english, die Kellnerin grüßt jetzt auch im Wedding mit einem fröhlichen „How are we today, guys?“, hin und wieder bellt ein freundliches „Watt weeß denn icke, heeß ick Siri oder watt?“ zwischen den Suchenden aus aller Welt, Tattoos werden von der Sonne geküsst und kein Mensch interessiert sich für Politik. Es muss Wahlkampf sein in Berlin. Oder fast. Denn bis zum 18. September ist es ja noch etwas hin. Und zurzeit kennt daher auch kaum jemand diesen Wahltag außer den Kandidaten, fünf bis sechs Journalisten und Menschen wie ich, die dafür bezahlt werden.

Es ist jetzt der vierte Wahlkampf seit 2001, den ich mit BUTTER. bzw. diesmal mit BUTTERBERLIN begleiten darf. Der erste war gleich eine Sensation. Die SPD kündigte die „Große Koalition“ mit der Diepgen-CDU auf, Klaus Wowereit ließ sich mit den Stimmen von Grünen und PDS (formerly known as SED, later on known as PDS, currently known as Linkspartei) zum Regierenden Bürgermeister wählen und rief dann Neuwahlen aus. Insofern können wirklich alle, die mit Wahlkampf zu tun haben, für das Timing dankbar sein. Ein luftiger Sommerwahlkampf ist doch etwas feines, etwa im Vergleich zu Hamburg, wo man sich durch schlechtes Neuwahltiming bei Minusgraden durch den Eisregen zum vermummten Wähler vorkämpfen muss. Der Nachteil wurde bereits erwähnt und lässt sich in dem Kandidatenblues „Kein Schwein interessiert sich für mich“ zusammenfassen.

Das wird sich ändern. Aber erst sehr spät. Die Sommerferien in Berlin beginnen am 21. Juli und enden am 4. September – dem Wahltag in Mecklenburg-Vorpommern. Zwei Wochen später, am 18. September wird in Berlin gewählt. Und schon wird das Ganze doch schon wieder interessant auch für viele außerhalb Berlins. Konzentrieren wir uns also auf die Hauptstadt der Republik, denn dort sorgen noch einige weitere Komponenten für Würze.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, stellt sich erstmals zur Wahl. Er übernahm das Amt am 11. Dezember 2014 von Klaus Wowereit, nachdem er sich bei einer Urwahl der SPD Parteimitglieder deutlich gegen zwei Mitbewerber durchsetzen konnte. Im April dieses Jahres wurde er auch zum Vorsitzenden und Spitzenkandidaten in Berlin gewählt. Für viele Beobachter war es überraschend, wie rasch sich Müller aus dem Schatten des charismatischen Vorgängers lösen konnte, und auch zwei Jahre später führt er die Beliebtheitsskala der Berliner Spitzenpolitiker deutlich an. Und da haben wir schon die zweite Sonderrolle in Berlin: Wer ist eigentlich der Gegner?

Von irrlichternden Stimmen und Instituten.

Die Berliner Parteienlandschaft ist aufgrund zahlreicher historischer Besonderheiten stark partikularisiert. (Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich die Seiten 46-57 in meinem Buch „Höllenritt Wahlkampf“). Eine Beobachtung ist aktuell zusätzlich wichtig: Obwohl wir mit SPD, CDU, Linkspartei, Grünen und optional auch der FDP bereits ein breites Parteienspektrum zur Auswahl haben, splittet sich der Wählermarkt noch zusätzlich auf: Bei der Wahl 2006 gab es zum Beispiel satte 13,7% Stimmen für die „Sonstigen“, darunter irritierende 3,8% für „Die Grauen“, aber auch 2,6% für die NPD. Im Jahre 2011 reduzierten sich zwar die „Sonstigen“ auf 8,3% (mit immerhin immer noch 2,1% NPD), dafür schafften aber die Piraten mit starken 8,9% den Einzug in das Abgeordnetenhaus. Wie wir auch aus anderen Bundesländern wissen, nährten sich die Piraten nur zu einem geringeren Teil aus Cyber-Nerds sondern vor allem aus Offlinern, die nur „irgendwie Protest“ wählen wollten. Im Jahr 2016 sind also insgesamt 17,2% irrlichternde Stimmen aus Piraten und Sonstigen von 2011 zu vergeben. Ein nicht unerheblicher Teil davon wird dann weiter „Protest“ wählen. Nur eben nicht in fröhlich anarchistischer Piraten-Laune, sondern in übellauniger Rechts-Verstumpfung. Sinn macht das alles nicht, aber Unsinn ist eben auch ein Menschenrecht.

Wie sieht es denn nun heute aus? Tja. Wenn man das wüsste. In Berlin sind traditionell zwei Institute langfristig und regelmäßig aktiv: Infratest dimap und Forsa. Werfen wir nur mal einen Blick auf die AfD Zahlen: Forsa, 29. März: 9%, Infratest, 13. April: 13%, Forsa, 29. April: 7%, Infratest, 11. Mai: 15%, Forsa, 27. Mai: 8%, Infratest, 15. Juni: 15% Nochmal zum Mitschreiben: 9,13,7,15,8,15 und die Zusatzzahl wäre dann? So kann ich nicht arbeiten! Ähnlich wirr sind auch alle anderen Zahlen auf dem Markt, aber das ist natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass sich noch niemand für diese Wahl interessiert. Das wird sich aber ändern. In dem zuletzt von uns begleiteten Wahlkampf in Rheinland-Pfalz änderte sich tatsächlich alles rapide in den letzten 4 Wochen und ganz deutlich in den letzten Tagen. Bis die Kollegen ihre Algorithmen sortiert haben, kümmern wir uns daher erst mal um anderes.

Boom-Boom-Boomtown.

Berlin ist heute eine Boomtown und hat an vielen Stellen andere Probleme zu lösen als vor zehn Jahren. Es gibt viel mehr gut bezahlte Arbeit als früher, die Einkommen steigen, die Arbeitslosigkeit liegt auf dem niedrigsten Niveau seit fast einem Vierteljahrhundert. Wer in Deutschland ein Start-Up gründet, entscheidet sich zu 39% für Berlin als Standort, der Rest verteilt sich auf die anderen 15 Bundesländer. „Von wegen arm aber sexy. Die Hauptstadt ist jung, international und digital“ schreibt der STERN gerade in seinem Bericht über „Silicon Berlin“. Zu dieser Wahrheit gehört, dass die ungebrochene Attraktivität Berlins für kreative Gründer stark mit der Ausstrahlung Berlins in den Wowereit-Jahren zu tun hat. Während andere noch von alter Großindustrie fabulierten, setzte „Wowi“ auf die digitale Kreativwirtschaft, auf Medien, Fashion, Smart-City, Tech-City und alles, was noch kommt. Heute sorgen alleine die Start-Ups für 60.000 Arbeitsplätze. Investitionen ausländischer Unternehmen sind ungebrochen, aber vor allem zieht es auch immer mehr Inländer in die Hauptstadt.

Die große Aufgabe heute ist es, das Wachstum der Stadt so zu gestalten, dass weiterhin alle teilhaben können. Und war man vor zwanzig Jahren noch froh um jede leerstehende Wohnung, die renoviert und in eine Ferienwohnung gewandelt wurde, so braucht man heute eben jede nur verfügbare Wohnung für diejenigen, die hier langfristig leben wollen. Das ist der Lauf der Dinge und die Besitzer werden auch nicht enteignet, sondern sie sollen an langfristige Mieter vermieten und nicht an kurzfristige. Mit dem Verbot der Ferienwohnungen und anderen lokalen wie nationalen Maßnahmen steuert man in Berlin wie auch in anderen Boomstädten wie München, Hamburg oder Düsseldorf gegen.

Allerdings ist nichts so anziehend wie der Erfolg und Fakt ist: Berlin ist extrem attraktiv, hat eine enorme Sogwirkung ­– nicht nur für Touristen sondern vor allem auch für Arbeitgeber und Arbeitnehmer – entwickelt und ist natürlich auch von dem globalen Trend in die Metropolen nicht abgekoppelt. Was für die Wohnungen gilt, gilt ebenso für Kitas und Schulen. Vor Jahren noch gab es in einzelnen Stadtteilen nicht mehr genug schulpflichtige Kinder für manche Schule, die Finanzen drückten an allen Ecken und die Trendforscher taxierten Berlins Bevölkerungszahl in Richtung 3 Millionen.

Heute sind die Trendforscher von damals in Rente, neue dürfen falsche Prognosen aufstellen und es geht recht rasant auf die 4 Millionen zu. Alles in allem steht Berlin aber gut da – auf jeden Fall deutlich besser als vor 10 oder 15 Jahren, was wirklich jeder sehen kann, der es will. Da darf man sich von ein paar professionellen Hysterikern nicht kirre machen lassen. Es sind auch meist die gleichen, die vor ein paar Jahren noch tiefere Einschnitte in der Verwaltung gefordert haben – aber so ist das eben. Das eine klappt hier besser, das andere in Hamburg, das dritte in London und das vierte in Rom. Bei Rom bin ich noch am überlegen, was das sein könnte. Aber mache Städte sind einfach so schön, da ist alles egal. Hierzu zählte Berlin nie.

Das Thema, das den Berlinerinnen und Berlinern tatsächlich unter den Nägeln brennt, ist der Mietmarkt. Perspektivisch wird sich daher die Frage stellen, wem man am ehesten zutrauen wird, bezahlbare Mietwohnungen zu schaffen. Da kann sich jetzt jeder seinen eigenen Reim drauf machen. Die Grünen sind bisher nicht wirklich als Baufüchse in Erscheinung getreten, sondern eher als aktive Wohnungsbaublockierer. Die FDP ist sicher mehr an Luxuslofts mit ensuite Dampfdusche und Heli-Landeplatz interessiert, die CDU hat mit Mietern eh nichts am Hut und den AfD-Repräsentanten wird außer Germania auch nicht viel einfallen. Das war aber auch ein schöner Plan, damals, von dem Adolf und dem Albert. Bevor der Russe kam. Apropos. Die Linkspartei hat historisch-ästhetisch gesehen natürlich die Platte auf dem Habenkonto. Mal sehen, wer da was nachlegt.

Doch wie auch immer. Die Berliner lieben Berlin, sind sich darüber im Klaren, dass nicht alles perfekt läuft, erwarten aber auch nicht, dass alles perfekt läuft. Denn sonst wären sie ja auch nicht hier, sondern in Gundelfingen. Da war ich zwar noch nie, aber wahrscheinlich bekommt man dort seinen Reisepass schneller. Auf der anderen Seite will man von dort auch dringender weg. So schließt sich der Kreis. Auf gar keinen Fall darf man die Berliner Gelassenheit mit Resignation verwechseln, es ist eher ein natürlicher Umgang mit dem Leben in einer Millionenstadt.

Die CDU: „Komm zu mir in den Keller, hier ist es schön feucht und einsam.“

Richtig fuchsig wurden die Berliner im letzten Jahr erst, als offensichtlich wurde, dass sowohl der zuständige Sozialsenator als auch der für diese Personalentscheidung zuständige stellvertretende Regierende Bürgermeister (beide CDU) die Flüchtlinge Wochen lang im Regen stehen ließen. Man regte sich also nicht über die Flüchtlinge auf, sondern über das Missmanagement.

Vor ein paar Wochen kamen dann einige auf die großartige Idee, eine recht unsaubere Kampagne gegen Michael Müller zu lancieren. Sie verfolgten dabei offensichtlich das alte Wahlkämpfermotto: „Wenn Du nicht zu Deinem Gegner aufschließen kannst, dann zieh ihn zu Dir runter.“ Das ist immer ein gefährliches Spiel, aber in Zeiten politischer Irritationen nicht nur gefährlich, sondern saudumm. Auch in Folge des Rohrkrepierers segelt die CDU immer stabiler unter 20% und ein Ergebnis wie in Hamburg 2015, als sie in Deutschlands zweitgrößter Stadt mit 15,9% nach Hause ging, ist möglich. Der Spitzenkandidat, Frank Henkel, darf die Partei zum zweiten Mal „führen“ und hat sich daher in entscheidenden Themen klar positioniert. Etwa als er beim Mitgliederentscheid seiner Partei zur Homoehe auf einer Skala von 1-6 knallhart die Position „Bin wahrscheinlich eher ein bisschen dafür“ ankreuzte. Seine piefige Partei kreuzte „Bin voll dagegen“ an. Interessiert hat es eh keinen, aber so ungefähr kann man sich auch seinen sonstigen Regierungsstil vorstellen. Es ist eben ein schmaler Grat zwischen einer ruhigen Hand und Lethargie.

Die Grünen: „Vier sind mehr als eine und vier sind mehr als zwei, wenn Du mich nicht leiden magst, dann bleiben ja noch drei“.

Die Grünen haben sich nach dem Künast-Schock 2011, bei dem vor allem die Grünen selbst von den rüden Umgangsformen ihrer Spitzenfrau geschockt waren, auf eine lustige Doppel-Doppelspitze verständigt. Nein, das ist kein Fehler von mir, sie haben tatsächlich 2×2 Spitzenkandidaten. Dies geschah vermutlich auch in Ermangelung eines strunzkonservativen rüstigen Rentners, die ja sonst zur Zeit bei den Grünen hoch im Kurs stehen. Mit Ströbele hätte man zwar einen rüstigen Rentner gehabt, aber der ist seiner Partei natürlich viel zu links und vermutlich auch ein bisschen peinlich. Tatsächliche Politik ist denen heute eher suspekt und man setzt lieber auf einen funktionierenden „Kapitalismus mit Pfiff“, wie etwa die aktuelle Plakatheadline: „Unsere wichtigsten Start-Ups: Kinder“ beeindruckend schlicht unterstreicht. Da dürfen die Helikoptereltern in ihrem Loft doch entspannt mit einem veganen Sojadrink drauf anstoßen: Die Kids werden direkt nach der dreisprachigen Privatkita bei Rocket Internet anfangen und verkratzen nicht länger die Landhausdielen.

Zurück zur Viererbande die man so nicht nennen darf, denn der Begriff ist historisch besetzt (go, google it). Quartett wäre für den Zustand der Berliner Grünen zu harmonisch. Ich entscheide mich für Quad: Macht viel Lärm, aber am Ende doch keinen Sinn. Wie auch immer: Jetzt kann sich jede Spitzenkraft hinter der anderen verstecken, frei nach dem Motto „vier sind mehr als eine und vier sind mehr als zwei, wenn Du mich nicht leiden magst, dann bleiben ja noch drei“. Das gelingt so gut, dass sie bereits an der CDU vorbeigezogen sind. Prompt werden sie von der konservativen Presse in Richtung Grün-Schwarz-Gelb geschoben. Na klar. Genau. Für ungefähr 70% aller Berliner Wählerinnen und Wähler gleichbleibend mit einer Koalition direkt aus der Hölle und einer geballten Berlin-Kompetenz von ungefähr minus 823 auf einer Skala von plus 5 bis minus 823.

Wer für die Linke antritt weiß ich nicht, aber das ist ja auch deren Wählern völlig egal. Hauptsache Gysi. Die Piraten haben sich faktisch aufgelöst, die FDP entsteigt in zombiesker Eleganz mit Retro-Themen wie „Tegel-offen“ (Gähn) langsam ihrer Gruft und die AfD rührt auch hier ihr braunes Ursüppchen aus Alles-Hassern, Putin-Lovern und „Schuld-an-meiner-beschissenen-Laune-sind-alle-nur-ich-nicht“-Frohnaturen. So weit, so absehbar.

Der Berliner: „Ist mir egal, ist mir egal.“ Oder nicht?

Doch das alles kann doch einen Berliner in der Sonne nicht erschüttern.

Aber dann, am 18. September geht es um ein bisschen mehr. Es geht darum, wie man das Wachstum dieser Stadt mit jährlich über 40.000 Neu-Berlinerinnen und Berlinern organisiert (Nettozuzug ohne Flüchtlinge). Wie man den sozialen Zusammenhalt stärkt, statt neue Gräben aufzureißen. Wie man eine Politik für die ganze Stadt macht und nicht nur für die Stammklientel in den eigenen Parteihochburgen. Es geht darum, wer das Zeug dazu hat, diese Stadt mit Verantwortungsbewusstsein, hohem persönlichem Einsatz, Kompetenz und Erfahrung zu führen.

Und es geht darum, wie klar und deutlich die Berlinerinnen und Berliner Stellung beziehen. Denn sie leben ja nicht irgendwo, sondern in der Hauptstadt der Toleranz, der Weltoffenheit, der Kultur, der Freiheit und der Kauzigkeit. In einer Stadt, die von der ganzen Welt geliebt wird und die sich alles in allem auch selbst ganz gut leiden kann. Also. Genießt den großartigen Sommer in Berlin!

Wir sehen uns dann.

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Aktuelles Fallbeispiel: Wann entscheidet sich der Wähler? Hier der Verlauf von November 2015 bis März 2016 in Rheinland-Pfalz.