Ein Blick in die USA ist ein Blick in unsere Zukunft.

Überall höre ich kopfschüttelnde tstststs-Betrachtungen über „Die Amerikaner“ und wie es denn möglich sei, dass Trump überhaupt noch im Rennen undsoweiterundsofort. Das sind erstaunlich anmaßende Kommentare, wenn man einem Volk angehört, das Adolf Hitler zum Reichskanzler wählte und in Sachsen-Anhalt zu fast 25% für die AfD stimmt. Finde ich.

Als ich im Sommer 1990 als Student in die USA kam, war George Bush Sr. Präsident und ich hielt ihn, sowie seinen Vorgänger Ronald Reagan, für direkte Nachfahren des Leibhaftigen. Little did I know. Im Rahmen meines Stipendiums bewarb ich mich beim US-Senat um ein Praktikum und landete 1991 bei einem freundlichen Senator aus Tennessee namens Al Gore. Meine direkte Chefin in seinem Büro war Katie McGinty, die sich heute als Kandidatin der Demokraten ein Kopf-an-Kopf Rennen um einen Senatsposten im Hyper-Battleground-Staat von Pennsylvania liefert. Am 11. Oktober wird dieses Senatsrennen im RCP-Average (realclearpolitics.com) als „Tie“, also unentschieden, gewichtet. Für Katie im Kampf gegen Amtsinhaber Pat Toomey (R), schon ein großer Erfolg.

Friedensnobelpreisträger Al Gore wiederum hielt gerade in Florida eine seiner wenigen Campaign-Rallies für Hillary Clinton mit den Worten: „Wenn sie einen Nachweis für die These benötigen, dass wirklich jede Stimme zählt, dann betrachten Sie mich als Beweisstück A.“ Das Trauma des Jahres 2000, in dem Al Gore eine Mehrheit der Stimmen aller Wahlberechtigten erhielt, eine erneute Auszählung der Stimmen in Florida aber durch das (republikanisch dominierte) Supreme Court gestoppt wurde, ist nur eine der Ursachen für die tiefe Spaltung des Landes und das hohe Misstrauen zwischen den Anhängern der Parteien.

Mit der Kandidatur Al Gores als Vizepräsidentschaftskandidat von Bill Clinton wechselte ich 1992 vom Senat in die Kampagne, um dort mitzuhelfen. Vor allem aber, um dort zu lernen. Seither mache ich Wahlkämpfe. Und natürlich beobachte ich seither amerikanische Wahlkämpfe mit besonderem Interesse. Ob es um den Einsatz neuer Technologien, die Perfektionierung der Get-Out-The-Vote-Operations, Optionen des Data-Mining oder auch ganz konkret um Zielgruppenansprache, Message-Testing und Debatten Vor- und Nachbereitung geht.

Begleitet man Wahlkämpfe über Jahrzehnte, erhält man einen umfassenden Einblick in die Veränderungen der Medienlandschaft ebenso, wie in das veränderte Kommunikationsverhalten der Menschen im Alltag. 25 Jahre und 30 Wahlkämpfe später folgt daher heute mein Blick auf die US-Kampagne nach der zweiten TV-Debatte. Und zwar mit einem deutlichen Hinweis darauf, diese Entwicklung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

Natürlich muss uns die Frage beschäftigen, wie Donald Trump jemals auch nur in die Nähe des Oval Office geraten konnte. Es beschäftigt uns auch die Frage, wie ein langes, sehr öffentliches und transparentes Vorwahlsystem in den USA am Ende zwei Kandidaten hervorbringt, die auf der RCP-Beliebtheitsskala mit einem Delta von -23,3% (Trump) und -9,2% (Clinton) notieren.

Eine weitere Frage ist, ob man den Zustand der US-Kampagne losgelöst von den Zuständen anderer etablierten Demokratien wie Frankreich, Großbritannien, Österreich oder auch den alten Bundesländern in Deutschland betrachten kann. Von weniger etablierten demokratischen Strukturen und Kulturen wie in Ungarn, Polen, Russland oder den neuen Bundesländern ganz zu schweigen.

Die Frage impliziert die Antwort: Nein, man kann diese Entwicklungen nicht voneinander trennen. Sonst lügt man sich nur in die Tasche. Was wir in den USA erleben ist kein Solitär, sondern nur die potenzierte, lärmende, laute, verstörende Entwicklung, die wir aus Europa schon kennen und die sich auch in Deutschland Bahn bricht. Allerdings spitzt sich diese Entwicklung in einem Winner-Takes-It-All Mehrheitswahlrecht noch stärker zu, als in Staaten mit einem Verhältniswahlrecht, in denen sie wiederum zu einer Zersplitterung der Parteienlandschaft führt.

Sucht man nach den Ursachen der Entwicklung, kann man alles Mögliche hin- und her wälzen, kommt aber kaum auf einen wirklich übergreifenden Nenner. Zu unterschiedlich scheinen auf den ersten Blick sozioökonomische Daten, politische und gesellschaftliche Kulturen, klassische Determinanten wie Wachstum oder Rezession, individueller Wohlstand oder soziale Sicherungssysteme. Auch der Dauer-Rap „Schere zwischen Arm und Reich“ zieht nicht länderübergreifend, zumal in vielen Ländern Wohlstand und Lebensqualität insgesamt zunehmen, also die Reichen zwar immer mehr haben, die anderen aber auch.

Was wir erleben, ist in weiten Bereichen ein Verlust von Zivilisation und Debattenkultur und damit einhergehend ein geringeres Allgemeinwissen über gesellschaftliche und politische Zusammenhänge. Die Schere zwischen informierten, unterinformierten oder gar desinformierten Teilen der Öffentlichkeit öffnet sich immer weiter. Interessanter Weise in einer Zeit, in der Zugang zu Information so einfach ist wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Gleichzeitig steigt aber auch die Zahl derer, die sich aus weiten Teilen des Informationszyklus völlig zurückziehen oder aktiv ausklinken. Man sucht nicht nach Wegen, eine scheinbar immer komplexere Welt besser zu verstehen, sondern man pflegt eine mehr oder minder ausgeprägte Form des Eskapismus.

Und Eskapismus wird einem 2016 wesentlich leichter gemacht als etwa 1980, 1990 oder 2000. Im Vergleich zu „früher“ nimmt ab, was ich „Kollateralwissen“ nenne. Also nicht wirklich nachgefragtes, zum Teil sogar unerwünschtes aber dennoch beiläufig aufgeschnapptes Wissen über Gesellschaft, Kultur und Politik. Wer früher eine Tageszeitung las oder durchblätterte, nahm auch Wissen aus den Bereichen Feuilleton, Landespolitik, Weltpolitik etc. auf, selbst wenn man sich eigentlich nur für den Sportteil, Lokales oder Vermischtes interessierte. Ähnlich verlief auch der Konsum von TV-Sendern oder Radiosendungen. Irgendwann nahm man auch dort eine Nachrichtensendung, ein Politikmagazin oder ähnliches mit.

Ein solches Wissen können wir in wachsenden Teilen der Wählerschaft nicht mehr voraussetzen. Die Menschen entscheiden viel rigider als früher, welche Nachrichten sie an sich heranlassen und ob sie überhaupt Nachrichten an sich heranlassen. Man konfiguriert den Wissensstrom vor oder ganz aus.

Dieses Informationsvakuum auf der einen Seite und die Überinformation auf der anderen führt zu einer ständig wachsenden Kluft zwischen der Infoelite einerseits und den Eskapisten andererseits. Man versteht sich nicht mehr und redet aneinander vorbei. Gleichzeitig verändern sich Lebenswelten und Arbeitswelten in wachsender Geschwindigkeit. Viele Menschen stehen in ihrem Alltag, in ihrem Beruf, in ihrem Umfeld schon mit beiden Beinen in der Zukunft – andere mit einem Bein – andere leben hingegen noch ganz im Deutschland von 1990.

Wir leben in einer Zeit der medialen Paralleluniversen, deren Dimension wir gerade erst begreifen. In der Menschen außer Reichweite geraten für gute Argumente. Wir leben auch in einer Epoche der Ungleichzeitigkeit. Wir erleben eine Zeit, in der Menschen die Uhr zurückstellen wollen. Das hat natürlich noch nie funktioniert.

Im Ergebnis erleben wir in vielen Ländern eine Zeit der Restauration, in Teilen auch der regelrechten Hysterie. Wenn sich immer mehr Menschen dem natürlich faktisch unmöglichen Wunsch anschließen, die Uhr zurückzustellen, wird die Frustration immer weiter wachsen. Und zwar in dem Maße, in dem die Erkenntnis wächst: Nein, die Uhr lässt sich ja gar nicht zurückdrehen. Und die Welt auch nicht. Beides dreht sich immer weiter und wer einen Keil in den Mechanismus treiben will, wird feststellen: Das alles bindet nur eine große negative Energie, die sich aufstaut und sich eines Tages freisetzt.

Eine Zeit der Veränderung ruft nach progressiven Kräften.
Vor allem aber auch nach Mutmachern. Die es ja gibt und die auch Wahlen gewinnen können, wie Justin Trudeau in Kanada eindrucksvoll bewiesen hat. Dies setzt aber von Politik und Medien voraus, mit eigenen, häufig abgestandenen Ritualen zu brechen und die massiven Veränderungen im Alltag der Menschen auch zu adressieren.

Veränderung ist heute nichts Abstraktes mehr. Sie ist bei den Menschen angekommen. Die jahrzehntealte Rhetorik über das, was kommt, ist überholt. Vielleicht sind ja auch einige Rezepte schon überholt. Der demographische Wandel ist schon längst da. Die digitale Revolution ist schon längst da. Die veränderten Arbeitswelten sind Realität. Binnenmigration findet in hohem Masse statt – vom Land in die Boomstädte. Aufgabe aller Multiplikatoren, ist es, den Menschen zu sagen: Schau – Dinge verändern sich. Du weißt das, ich weiß das, alle wissen das. Aber das muss ja nicht bedeuten, dass sie sich verschlechtern.

Was bedrückt, ist das Tempo des Wandels. Lässt man die Menschen mit ihrem „mulmigen“ Gefühl alleine – oder verstärkt dieses gar– werden sie eine weitere Drehung in der Angstspirale vollziehen. Bis sie eines Tages für manchen zur Panikspirale wird.

Zeigt man den Menschen aber einen Weg auf, wie Gutes entstehen kann, kann man sie auch für sich gewinnen. Es weiß doch heute schon jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer, dass nahezu jede Arbeit von der digitalen, globalen oder mindestens europäischen Entwicklung tangiert wird. Natürlich hat der Taxifahrer schon von selbstfahrenden Autos gehört und die Kassiererin weiß, dass die Märkte bald ohne sie auskommen. Aber ist das nicht ein Wandel, den wir schon häufiger erlebt haben? Ist es so schlimm, dass nicht mehr hunderttausende unter Tage schuften müssen? Dass kein Heizer auf der Lok steht? Müssen wir wirklich den zum Teil schlimmen Arbeitsplätzen der Vergangenheit und Gegenwart nachtrauern und das Gestern verteidigen?

Wenn man den Wandel positiv gestalten will, muss man an vielen Stellen neu denken und dieses neue Denken auch zulassen. Gerade eine alternde Gesellschaft muss darauf aufpassen, Neues nicht gleich im Keim zu ersticken. Das Wort Altersstarrsinn hat ja eine Geschichte und eine Berechtigung.

In den USA hat bereits über Jahre eine starke Segmentierung der Medienlandschaft stattgefunden. Einige Sender, Foren und Newsportale geben sich nicht einmal mehr die Mühe, so etwas wie Objektivität vorzutäuschen. Wer nur den Republikanern traut, kann sich ununterbrochen aus deren Quellen informieren, ohne auch nur eine andere Meinung an sich heranzulassen. In diese Regionen kann neues Denken und neues Handeln kaum noch vorstoßen.

In Deutschland stehen wir am Anfang einer solchen Entwicklung. „Lügenpresse“ – Vorwürfe, Elitenbashing, komplette Desinformation sowie ein selbsterklärter „Wille des Volkes“ sind feste Bestandteile der Desintegration. Man glaubt nur noch, was man glauben will und liest nur noch, was einen in diesem Glauben bestärkt.

Aus meiner Sicht war die Kandidatur von Hillary Clinton in dieser bereits kritischen Phase der Spaltung der Gesellschaft falsch. Ihre Zeit war mit der Niederlage gegen Obama in den Vorwahlen 2008 abgelaufen. Ihre Motivation zieht sie aus dem Glauben, dass sie jetzt einfach an der Reihe sei und sich das verdient habe. Davon hat aber sonst niemand etwas. Die Menschen haben nicht den Eindruck, dass die Kandidatin etwas für ihr Land will, sondern hauptsächlich für sich. Das ist in diesen Zeiten grob fahrlässig. Und nur so lässt sich erklären, warum Trump überhaupt noch im Rennen ist. Und das ist der Grund, weshalb die Welt zusammenzuckt, nur weil Hillary Clinton einen Schnupfen hat.

Trump ist ein politisches und menschliches Monster. Dass er heute vor den Toren Washingtons steht, ist auch Clintons Schuld.

In Deutschland und Europa sollten wir daraus lernen. Man kann auch heute noch die Menschen mitreißen und für eine progressive Politik gewinnen. Aber dafür muss man wach bleiben, aus klassischen Ritualen ausbrechen und mit Mut und Enthusiasmus auch neue, unverbrauchte Köpfe aufbauen und ins Rennen schicken. „More of the same“ kann nicht die Antwort sein.

Auch wenn man meint, an der Reihe zu sein, auch wenn man es sich tatsächlich verdient hat, selbst wenn es objektiv ungerecht wäre, zurückstecken zu müssen – die Zeiten sind zu ernst, um nicht einzusehen, dass eine falsche Kandidatur zur falschen Zeit verheerende Folgen haben kann. Für ein Land, für eine Partei, manchmal sogar für die ganze Welt.

000001
Der junge Herr Stauss in ausladender 90er Jahre Fashion, 1992.