Was morgen sein wird – Teil 1. Eine Serie von Richel, Stauss.
Wann haben wir eigentlich damit begonnen, uns einzureden, dass Arbeit schlechthin der Sinn des Lebens ist? Vor sehr langer Zeit und unter deutlich anderen Rahmenbedingungen. Angesichts der technologischen, klimatischen und demographischen Entwicklungen ist die Zeit gekommen, neu über sinnvolle Arbeit nachzudenken.
Gute Arbeit definieren wir in den demokratischen Wirtschaftsnationen entlang des nunmehr über ein Jahrhundert andauernden Kampfes für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dieser brachte weitreichende Errungenschaften von Tarifverträgen, geregelten Arbeitszeiten, Mitbestimmung, Sozialversicherungen, Mindestlohn, Gesundheitsschutz bis hin zu ergonomischen Stühlen und vielem mehr.
Angesichts der Herausforderungen unserer Zeit ist es geboten, diesen Rahmen um eine neue gesellschaftliche Priorität zu erweitern: Sinnvolle Arbeit.
Die Zukunft dessen, was wir heute Arbeit nennen.
Die Digitalisierung, Automatisierung, Künstliche Intelligenz und wie auch immer wir es nennen wollen, was 3D Drucker in Zukunft „drucken“ – von der Pistole bis zum Fertighaus – wird die Zukunft der Arbeit beherrschen. Was ja nicht so schlimm sein muss, denn es gibt ja auch ziemlich viele öde Jobs. Aber über welchen Zeitraum sprechen wir eigentlich? 20 Jahre? 50? Auf jeden Fall ist diese Zukunft sehr, sehr nahe. Heute Zwanzigjährige am Beginn ihres Arbeitslebens werden diesen Wandel vollständig erleben – und gestalten.
Die industrielle Revolution hat uns über rund einhundert Jahre zunächst viel Elend und dann viel Wohlstand gebracht. Grob verkürzt. Sie brachte Megafabriken mit megavielen Fabrikarbeitern, die sich über die Jahre mithilfe organisierter Gewerkschaften auch weitgehend ordentliche Löhne erstritten. Leider immer erstritten, denn geschenkt hat ihnen nie einer was. Diese Hunderttausende wurden zu stolzen Kruppianeren, schafften beim Daimler oder bei Porsche und identifizierten sich über Generationen mit ihrer Arbeit, ihren Produkten und Unternehmen.
Aber wie auch immer es kommt, es kommt anders und zwar schnell. Sehr schnell. Bei uns und aber auch in China, Bangladesch und anderswo. Es wird diese Form von Arbeit nicht mehr in heutigem Ausmaß geben. Das betrifft bei weitem nicht nur den Niedriglohnsektor, sondern auch qualifizierte Arbeit und klassische Bürojobs. Weil ein Großteil der Bürojobs in seiner Routine ebenso besser von einem Algorithmus erledigt werden kann, wie das Durchsaugen und anschließende feuchte Aufwischen von einem Roboter, der gegen 2 Uhr morgens aus seiner Ladestation fährt. Wir sprechen längst nicht mehr nur von der berühmten Kassiererin oder dem Empfangsservice an der Hotelrezeption. Wer den Film Passengers gesehen hat, weiß, dass selbst die tröstenden Phrasen des Barkeepers mindestens ebenso gut von einem Roboter kommen können, während er pausenlos irgendein Glas trockenreibt.
Alles passiert bereits. Wer für seinen Flug einchecken kann, kann das auch für sein Hotelzimmer. Und vielleicht ist der Tag nicht mehr so fern, an dem junge Menschen den Kopf darüber schütteln, dass man früher einmal ernsthaft „Human Resources“, also tatsächliche, echte Menschen dafür eingesetzt hat, um Kohle aus einem Loch in der Erde zu baggern, Versicherungsfälle zu bearbeiten, feucht aufzuwischen oder Autos an einem Band zu montieren. So wie wir den Heizer auf der Lokomotive, den Setzer in der Druckerei oder den „Bankbeamten“ nostalgisch belächeln. Ehrenwerte Arbeit, zu ihrer Zeit. Aber die Zeiten ändern sich. Jetzt.
Weltweit machen sich viele Menschen Gedanken darüber, was dann wird. Was der Mensch dann tut, wenn er nichts oder wesentlich weniger zu tun hat. Und vor allem, was das für demokratische und soziale Gesellschaften bedeutet. Diktaturen kommen ja immer irgendwie klar. Im Zweifel mit Gewalt. Aber wie machen wir das?
Zunächst einmal muss man in diesen Zeiten den Wert von Arbeit hinterfragen. Denn damit steht und fällt ja das ganze Wertesystem des Kapitalismus und des real existierenden Sozialismus übrigens auch.
Wer von einem „Recht auf Arbeit“ spricht, wertschätzt Arbeit als etwas, das man zur Erfüllung eines Lebens braucht. Das „Recht auf Arbeit“ bedeutet im Kern jedoch eher die „Pflicht zur Arbeit.“ Und viele Studien belegen, dass Menschen, die arbeiten wollen, es aber nicht können, sich als minderwertig empfinden, als Bittsteller, als Almosenempfänger, als unnützes Glied in der Gesellschaft, als Ballast.
Der Kapitalismus hat die Arbeit zum Sinn des Lebens erklärt, die Arbeiterbewegung den „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ erkämpft. Und jetzt?
Wann haben wir begonnen, uns das einzureden? Vermutlich schon vor der Industrialisierung. Der Landarbeiter hat auf den Landstreicher ebenso geblickt wie der Handwerker auf den Tagelöhner und Lebemann. Aber erst der Kapitalismus hat die Arbeit zum Sinn des Lebens erklärt. Die reguläre Arbeit. Erst sieben Tage die Woche, 14 Stunden am Tag, dann immer etwas weniger. Aber noch heute bedeutet die harmlos gestellte Frage „Was machst Du so beruflich?“ für den Befragten, dass es jetzt soweit ist: Jetzt wird Maß genommen und eingeordnet.
Und die Arbeiterbewegung? Sie hat aus dem Siegeszug der Industrialisierung und des Kapitalismus versucht, einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen. Das ist ihr in weiten Teilen jedenfalls besser gelungen als dem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, der die gleiche Ausbeutung betrieb oder betreibt, nur ohne Rendite, Menschenrechte, Umweltschutz und Demokratie.
So weit, so gut. In Deutschland kam man damit ja die letzten Jahrzehnte gut klar und zählt zu den wohlhabendsten Ländern der Welt.
Aber was kommt jetzt? Auch wenn sehr vieles im Fluss ist, kann man eines mit Sicherheit sagen: Es wird sehr viel weniger klassische Arbeit geben als heute – vom Büro bis zur Werkbank. Das wird nicht automatisch weniger Wohlstand bedeuten müssen, denn produziert wird ja weiterhin etwas, das auch nur von Menschen gekauft werden kann, die Einkommen haben.
Und damit sind wir bei der großen Frage der Distribution des Wohlstandes und einer Verteilungspolitik auf der Höhe der Zeit. Anders wird es nicht gehen, sollen nicht viele in Armut fallen und damit auch absolut nicht in der Lage sein, bei Amazon zu shoppen, mit Uber zu fahren oder ein Volkswagen e-mobil zu erwerben. Nein, bei einer neuen Erbschaftsregelung geht es nicht um Omas kleines Häuschen. Es geht um Omas und Opas 300 Wohnblocks, 78 Holdingbeteiligungen etc.
Wir müssen auch zügig weg von der stundenbasierten Entlohnung von Arbeit. Und von der Vorstellung, dass nur wer 20-40 Stunden die Woche arbeitet, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft sein kann. Bald werden es nur noch vierzig Stunden im Monat sein, also zehn in der Woche. Wir müssen Gewinne besser verteilen und unverdiente Gewinne aus altem, angehäuftem, totem Erbschaftsgeld wieder in die soziale Gesellschaft investieren.
Wir müssen uns angesichts der technologischen, klimatischen und demographischen Entwicklung auch neu Gedanken über den Sinn unserer Arbeit machen. Eine Debatte, die seit der Wachstumskritik der 90er Jahre, ausgehend vom Bericht des Club of Rome, über Jahrzehnte hinweg ins Stocken geraten ist.
Welche Produkte machen denn Sinn? Und welche zerstören am Ende unsere Lebensgrundlagen?
Schon heute müssen sich viele Arbeitnehmer von ihren Kindern fragen lassen, warum sie denn so ein sinnloses Zeug produzieren, warum sie mit ihrer Arbeit schädliche Entwicklungen unterstützen oder mit ihrer Geldanlage das Wachstum der Konzerne finanzieren, die sie auf der anderen Seite für Lohndumping, Umweltverschmutzung und Datenmonopolisierung verantwortlich machen. Die Antwort der Eltern lautet so oder so ähnlich: „Damit ich deinen Lebensunterhalt, Dein Smartphone und Deine 35 Primark-Ausbeutungsklamotten im Monat finanzieren kann.“ Diese Gespräche finden so oder so ähnlich hunderttausendfach statt und zeigen vor allem eines: Eine neue Nachdenklichkeit und ein permanentes Dilemma.
Das sind die Widersprüche unserer Zeit.
Eltern wollen nicht Produkte herstellen, die am Ende ihren Kindern schaden. Sie tun es, weil sie dafür bezahlt werden, aber sie haben keine Freude und keinen Stolz daran.
Wer diesen Konflikt um die Zukunft der Arbeit auflöst, dem gehört die Zukunft. Die Zeit drängt. Aber die Aufgabe ist dafür hoch spannend.
Schon längst findet in unserer Gesellschaft ein Paradigmenwechsel statt, den die Politik bisher nicht ausreichend honoriert. Denn der Paradigmenwechsel heißt: Raus aus dem Hamsterrad, dafür mehr Zeit für ein Leben mit Familie, Freizeit, Hobby, Kultur, Selbstverwirklichung und ehrenamtlichem Engagement. Das ist nicht Faulheit, das ist das Gegenteil davon. Das ist ein Leben, wie ein Leben sein sollte. Eine Utopie so nah, wie die Utopie der ersten Arbeiterbewegung auf ein Leben in Würde. Diese Utopie nennt sich Freiheit. Und zwar Freiheit nicht auf Kosten anderer, sondern gemeinsam mit anderen für eine soziale Gesellschaft, die ihrer Verantwortung auch für die Umwelt gerecht wird.
Wenn man diese Herausforderung richtig anpackt – die Politik, die Industrie, die Gewerkschaften – wenn man nicht versucht, das Heil in vermeintlicher Verteidigung und Erhalt des Status Quo zu suchen (ist ja auch schon immer schief gegangen), dann kann man diesem Wandel sehr viel Gutes abgewinnen. Man muss es sogar. Er kommt ja sowieso.
Es bleibt so viel, worüber wir nachdenken müssen, was zu gestalten wäre. Eben genau das, was am Anfang dieses Textes steht. Wie lebt eine moderne, soziale, freie und demokratische Gesellschaft ohne diese stundenbasierten, kolonnenhaften Arbeitsmodelle? Wie schaffen wir Angebote, die neue Freiheit zu nutzen? Und vor allem – wie distribuieren wir den Wohlstand, für den man immer weniger körperliche Arbeit und Anwesenheit benötigt, von den Konzernen und den obszön Reichen in die Gesellschaft?
Viel zu tun. Die zwanzigjährigen sind unter uns und warten zu Beginn ihres Arbeitslebens auf Antworten. Sie wurden übrigens geboren, als der letzte sozialdemokratische Bundeskanzler seine Amtszeit begann. Heute braucht es ganz neue Antworten auf der Höhe der Zeit. Man müsste nochmal zwanzig sein.