Glaubt’s ihr nix, der oiden Hex!

Über nackte Konservative, das Burkafahrverbot, umgekehrte Schweigespiralen, Tomatensaft ohne Salz und Debatten im Cockpit bei offenem Mikro. Also über uns im Spätsommer 2016.

Nehmen wir an, wir säßen heute mal nicht alle in einem Boot, sondern in einem Flugzeug. Es war ein zwischenzeitlich turbulenter Flug und wie das so ist, vertragen das einige besser und schlafen durch, andere schlechter, tun aber entspannt und lesen jetzt schon seit 25 Minuten die gleiche Seite, die nächsten wiederum bekommen schwitzige Hände. Und zu ein paar Leuten musste die Flugbegleiterin hingehen, da sie deutliche Zeichen von Panik zeigten.

Aber jetzt ist wieder alles fein, der Service wurde wieder aufgenommen und aus dem Cockpit meldet sich die Flugkapitänin mit beruhigenden Worten. Es wird jetzt voraussichtlich im weiteren Verlauf ein ruhiger Flug werden, man rechnet mit einer sicheren und pünktlichen Landung.

Dem widerspricht bei offenem Mikro der Copilot, der mit südländischem Akzent laut dazwischen ruft: „Glaubt’s ihr koin Wort. Verloren samma. Oille samma verloren. S’Triebwerk rechterhand brönnt, dLandeklappen san veroist und dsFahrwerk fahrt net aus. Glaubt’s ihr nix, der oiden Hex!“

Das führt bei den Passagieren zu einiger – nicht nur sprachlich bedingter – Verwirrung. Die Panikanfälligen bekommen einen Rückfall, die Schwitzenden werden panikanfällig, die vorgeblich Entspannten legen das Buch nun ganz aus den Händen und auch die Stoischen sind jetzt hellwach und überlegen, ob der richtige Zeitpunkt für eine Tomatensaftbestellung (mit Pfeffer, ohne Salz) eventuell verpasst wurde. Mit kurzen Unterbrechungen setzt sich der Disput zwischen der Kapitänin und dem Copiloten jedenfalls immer weiter fort.

Anders formuliert: Wenn die Politik bis hinein in die Bundesregierung und unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung von „Kontrollverlust“, „Staatsversagen“, „Dammbruch“, „Hilflosigkeit“ oder gar „Unrechtsstaat“ spricht, dann fällt es einem schwer, als Bürger dieses Landes zu sagen: Danke, mir geht es gut.

Je übermächtiger von Problemen, Ängsten, Untergangsszenarien berichtet wird – desto eher haben die Menschen auch Angst. Das irre daran ist: Es bricht gar nichts zusammen. Geschätzte 90 % der Menschen in diesem Land führen kein anderes Leben als vor 12 Monaten. Die anderen 10% engagieren sich für Flüchtlinge. Den allermeisten geht es gut bis sehr gut. Sie stehen morgens auf und gehen nachts ins Bett. Dazwischen tun sie, was sie auch vorher taten.

Aber einige von ihnen sind schlecht drauf. Was können wir tun?

Zunächst einmal muss jedem in der Politik, aber auch in den Medien klar sein: Die Menschen suchen Orientierung. Und wenn die Meinungsbildner im Land gerade in Zeiten des Umbruchs keine Orientierung bieten – dann entsteht Desorientierung, Unsicherheit und bei manchen auch Panik.

Eine nicht geringe Zahl von Menschen in diesem Land befindet sich in einer latenten Panikspirale. Aber was noch fataler ist: Die große Mehrheit im Land, die nicht in Panik ist, befindet sich in einer Schweigespirale. Den Leuten geht es gut, aber sie trauen sich nicht mehr, es zu sagen. Denn wer sagt, schreibt oder sendet, dass es uns gut geht, der bekommt gleich einen drauf.

Es ist schon soweit, dass eine Führungskraft im Land nicht einmal mehr motivieren darf, ohne als Schönreder/-in attackiert zu werden. Dabei ist das absolute Gegenteil der Fall: Jede Führungskraft im Land sollte motivieren. Und zwar täglich.

Die psychologischen Mechanismen sind nicht unbekannt. Wir kennen sie zum Beispiel aus der Dynamik von wirtschaftlichen Rezessionen oder Aufschwüngen. In einer Rezession sparen selbst die, die gar nicht sparen müssen. Und zwar private Haushalte ebenso wie Unternehmen. Entweder aus Furcht, dass es auch sie noch erwischen könnte. Oder aber auch, um nicht aufzufallen. Da wird der Benz noch ein Jahr länger gefahren, statt einen neuen anzuschaffen.

Das alles verschärft die Rezession nur noch. Erst eine Vielzahl guter Nachrichten führt dazu, das Verhalten zu ändern. Und wenn diese psychologische Hürde genommen wurde, folgt ein regelrechter Boom, da verzögerte Investitionen auf einen Schlag nachgeholt werden.

Die Deutschen werden – übrigens in einer wirtschaftlichen Wachstumsphase – tagtäglich von schlechten Nachrichten bombardiert. Und das auch von nahezu allen Parteien.

Bezüglich schneller, zum Teil unsinniger und aktionistischer politischer Reaktionen von Wagenknecht bis Seehofer musste man den Eindruck gewinnen, dass die Politik nur noch Signale in den Teil der Bevölkerung aussendet, der skeptisch bis ängstlich ist. Und zwar skeptische bis ängstliche Signale. Alles, was an politischem Aktionismus an den Tag gelegt wurde, zielte auf den verunsicherten Teil der Bevölkerung. Und wenn man ehrlich ist: Wer jetzt noch nicht verunsichert war, musste es danach sein.

Kommunikation in Paralleluniversen mit und ohne Sichtbehinderung.

Wir leben in einer Zeit der medialen Paralleluniversen, deren Dimension wir gerade erst begreifen. In denen Menschen außer Reichweite geraten für gute Argumente.

Wir leben auch in einer Zeit der Ungleichzeitigkeit. Viele Menschen stehen in ihrem Alltag, in ihrem Beruf, in ihrem Umfeld schon mit beiden Beinen in der Zukunft – andere mit einem Bein – andere leben hingegen noch ganz im Deutschland von 1998.

Daher auch die Scheingefechte. Erfahrene Unionspolitiker brüten über den drängendsten Sicherheitsfragen. Sie brüten und brüten und brüten über Wochen und unter Schmerzen gebären sie endlich die Lösung aller Fragen unserer Zeit: DAS BURKAFAHRVERBOT! Ja ist das denn wahr? Ab wann gibt es denn dafür Punkte in Flensburg? Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es lustig.

Auf dem Fuß folgt die Burkinidebatte. Ja, man traut seinen Ohren kaum. Früher war es konservativ, die Leute zu ermahnen, sich etwas anzuziehen. Heute muss man blank ziehen! Die Welt ist verrückt. Glaubt irgend jemand, dass diese Debatte beruhigt?

Es stellt sich die Frage: Wer spricht eigentlich für die Mehrheit im Land, die sich am Ende nichts mehr wünscht, als dass Deutschland diese Situation meistert, ohne die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte über Bord zu werfen?

Das Interesse der handelnden Akteure sollte jetzt darauf gerichtet sein, die positiv gestimmte Bevölkerung zu stabilisieren, zu motivieren und wieder sprachfähig zu machen. Nach einer vorläufigen Beruhigung der Lage sollte man dann daran gehen, auch wieder das Vertrauen der anderen zu gewinnen und Skepsis abzubauen. Das ist möglich, denn in diesem skeptischen Bevölkerungsteil ist auch immer noch ein sehr großes Potential an Menschen, das will, dass Flüchtlingen geholfen wird, dass Integration gefördert wird, dass Zusammenleben gut organisiert wird.

Am 4. September wählten 167 000 Menschen in Mecklenburg-Vorpommern die AfD. Bei 1,3 Millionen Wahlberechtigten, von denen 806.000 mental in der Lage waren, eine gültige Stimme abzugeben.

In Deutschland gibt es rund 62 Millionen Wahlberechtigte, die in einem Jahr wählen dürfen. Das sind sehr viele Leute und ein sehr, sehr langer Zeitraum. Noch ist Zeit, aber auch höchste Zeit: Wenn viele Akteure nur in alten Ritualen agieren und nur versuchen, schnell und billig zu punkten, wenn Parteipolitik auf Kosten von Stabilität und gesellschaftlichem Zusammenhalt gemacht wird – dann werden wir dafür teuer bezahlen.

Deutschland ist nicht Österreich. Das sagen uns alle vorliegenden Untersuchungen. Noch nicht einmal Ostdeutschland ist Österreich – wenn auch näher dran. Aber wenn wir hier die gleichen Fehler begehen wie SPÖ und ÖVP in der Vergangenheit und uns auf das rechte Territorium begeben, dann ist auch dieses Land nicht sicher vor dauerhaft starken rechtspopulistischen Parteien. Und diese Parteien werden – selbst wenn sie nicht an die Macht kommen – das Zusammenleben vergiften.

Von der verantwortlichen Politik in Deutschland muss jetzt ein klares Signal der Stabilität ausgehen. Ein „So machen wir das.“ Wie es weitergeht, liegt in unserer Hand. Und darin, wie klar wir stehen, Farbe bekennen und Gesicht zeigen.

Dieser Text ist die Langfassung meines Debattenbeitrages für den Verein „Gesicht Zeigen“ vom 7.9.2016 in Berlin und basiert in Teilen auf meinem Blogbeitrag „Bitte leiser kreischen und ruhiger in Panik verfallen“ vom 29.2.2016.