Der Vereiniger.

Als Klaus Wowereit 2001 den Coup wagte und den „ewigen“ Regierenden Eberhard Diepgen vom Thron stieß, war Berlin immer noch eine mental geteilte Stadt. Ähnlich wie auf Bundesebene mit Helmut Kohl, suchten auch die Berlinerinnen und Berliner beider Stadteile nach dem großen Umbruch 1989 Sicherheit im Bestehenden. Und der Status Quo hieß Diepgen – verlässlich, konservativ, bieder und völlig frei von jeder Vision. Das sollte sich dramatisch ändern.

Mit dem Fall der Mauer trafen nicht nur Ost und West in einer Stadt aufeinander, sondern auch innerhalb dieser beiden Teile sehr unterschiedliche Klientel. West-Berlin hatte sich in den vierzig Jahren der Teilung zu einem eigentümlichen Biotop entwickelt. Die großen Firmenzentralen wie etwa Siemens waren aus der nicht unbegründeten Sorge vor einer Abtretung der Stadt an die Sowjets längst abgewandert. Produktionsstätten wurden aufgrund der logistisch unbefriedigenden Lage geschlossen, viele Industriearbeitsplätze abgebaut. Mit dem Bau der Mauer 1961 wurden allerdings auch zehntausenden Arbeitern aus dem Osten der Zugang zu ihrem Arbeitsplatz im Westteil verwehrt. Um die Maschinen am Laufen zu halten, schloss noch im selben Jahr die Regierung Adenauer ein „Gastarbeiterabkommen“ mit der Türkei. Zehntausende Türken strömten darauf in die belagerte Stadt und fanden in den nun ungeliebten Mauerrandgebieten Kreuzberg und Wedding günstigen Wohnraum.

Durch den besonderen Status West-Berlins waren junge Männer von der 1956 eingeführten Wehrpflicht in Westdeutschland befreit, was die Stadt besonders ab Mitte der 60er Jahre für ein alternatives Publikum sehr attraktiv machte. Es bildeten sich also bereits damals zahlreiche Biotope, die bis in die heutige Zeit die Wählerschaft prägen. West-Berlin war zudem nicht besonders attraktiv für alle, die in Wirtschaft, Politik, Medien oder überhaupt Karriere machen wollten. Die föderale Struktur Westdeutschlands sorgte dafür, dass die Politik in Bonn gemacht wurde, Industriekonzerne sich Schwerpunkte im Ruhrgebiet und später in Süddeutschland suchten, Banken und Finanzdienstleister sich in Frankfurt rund um die Bundesbank konzentrierten und die Medien in München, aber vor allem in Hamburg ihre Heimat fanden. Kurzum: Wer Karriere machen wollte, musste raus aus West-Berlin, wer eine Alternative zum etablierten Leben suchte, musste rein. Wer nichts davon wollte, lebte nicht schlecht von Berlin-Zulagen und weiteren Annehmlichkeiten, die die Bonner Republik aus schlechtem Gewissen auf ihre Insel im Osten schickte.

Ganz anders der Ostteil. Wer in der DDR Karriere machen wollte, musste nach Ost-Berlin. Die klassisch zentralistische Struktur konzentrierte alles in der Hauptstadt und beim Fall der Mauer lebte nahezu die gesamte Nomenklatura der untergehenden Republik hier. Natürlich wohnten auch viele Oppositionelle und einfache Arbeitnehmer hier. Aber die Elite der DDR und ihre hunderttausende kleinen und großen Helfershelfer fand man nirgendwo sonst so geballt vor wie in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik.

War das erste Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer noch von einem großen Verharrungswillen auf allen Seiten geprägt, passend repräsentiert durch die Person des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen, so zeichnete sich in den Jahren der Ära Wowereit ein weiterer Umbruch der Berliner Sozialstruktur ab. Berlin ist eine Stadt im Wandel. Seit der Wende haben 1,6 Millionen Menschen Berlin verlassen – aber über 1,6 Millionen sind dort hin gezogen. Das entspricht in etwa einem kompletten Bevölkerungsaustausch in Hamburg und betrifft 40 Prozent der Einwohner Berlins.

Mit der Jahrtausendwende und personifiziert durch Klaus Wowereit, begann mit zehnjähriger Verspätung eine Sogwirkung einzusetzen, wie man sie eigentlich schon unmittelbar nach dem Mauerfall erwartet hatte. Die boomende Kreativwirtschaft aus Mode, Film, Kunst, Werbung, Neuen Medien und Verlagen fühlte sich ganz besonders von dem neuen Bürgermeister angesprochen, der auch erfolgreich um diese Klientel warb – oft gegen Widerstand und Häme. Der offen schwule, fröhliche Wowereit stand für ein anderes Deutschland und war der ideale Repräsentant einer spannenden Stadt voller Gegensätze. Aber auch die gut bezahlten Ministerialbeamten der Hauptstadt, die Gesundheitswirtschaft, Umwelttechnologiefirmen und sogar neue Industrie sorgen für einen aufstrebenden finanziellen Mittelstand. Wer heute in Deutschland Karriere machen will, kann wieder nach Berlin kommen und tut es auch. Entsprechend boomt inzwischen mit Verzögerung auch der Immobilienmarkt, ehemalige Randbezirke wie Kreuzberg oder Prenzlauerberg gehören zu den teuersten Pflastern der Stadt. Das bringt neue Probleme mit sich, aber unter dem Strich wesentlich angenehmere als zuvor. Der Stadt in ihrer Gesamtheit geht es jedenfalls so gut wie noch nie in ihrer langen, aber auch von viel Armut geprägten Geschichte.

Berlin hat nun – ähnlich wie einst der berühmte Schmelztiegel New York – seine unterschiedlichen Biotope miteinander vermischt, was vermutlich auch zur weltweit gestiegenen Attraktivität beigetragen hat. In Kreuzberg finden sich nach wie vor die Hochburgen der Alternativen, wenn auch mit besserem Wein als früher, aber auch die türkischstämmige Bevölkerungsgruppe ist dort nach wie vor sehr stark vertreten. In der Mitte wohnen immer weniger ehemalige Ostberliner, dafür der Mittelstand aus ganz Europa. Im alten Westen sitzen die alten Westler und lassen es sich mürrisch gut gehen. Die ehemalige DDR-Nomenklatura hadert wiederum mit ihrem Schicksal auf bequemem Rentenniveau und wählt bis zu ihrem nicht mehr allzu fernen Tode die Nachfolgepartei der SED, egal wie diese gerade heißt – aber in jedem Fall mit Gregor Gysi. Die Stadt ist vielleicht nicht mehr ganz so sexy wie vor zehn Jahren – aber vor allem nicht mehr so arm. Und mal ehrlich – sie ist immer noch verdammt sexy im Vergleich zum Rest.

Drei Mal durfte ich Klaus Wowereit im Wahlkampf begleiten. Erstmals 2001 unter dem Motto „Berlin bewegen“, 2006 mit „Konsequent Berlin“ und zuletzt 2011 mit „Berlin verstehen“, als er unter schwierigsten Bedingungen doch noch den klaren Sieg errang. Und genau das macht ihn auch aus. Er versteht seine Stadt – und zwar die ganze Stadt und nicht nur Teile davon. Egal wo er auftaucht – ob in Marzahn, Lichtenberg, Wilmersdorf oder Köpenick – er ist nirgendwo ein Fremdkörper und überall sofort von einer freundlichen Menschenmeer umringt.

Es ist wahnsinnig viel passiert seit 2001 mit und in Berlin und auch in unseren gemeinsamen Wahlkämpfen. Der neue „Regierende“ war erst wenige Wochen im Amt, als mitten im Wahlkampf die Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in  Washington, D.C. statt fanden. Niemand wusste damals, ob nicht in wenigen Stunden auch London, Paris oder eben Berlin zum Ziel der Terroristen würden. Wowereit hat diese große Anspannung gemeistert und sofort den richtigen Ton getroffen.

Heute, 13 Jahre später, ist Berlin eine boomende Metropole. Sie hat vielleicht noch keinen neuen Flughafen, dafür noch zwei offene und in Tempelhof einen zum Spielen für die Kinder. Das wird das Erbe des Klaus Wowereit nicht beeinflussen. Er war und ist einer der großen Berliner Regierenden Bürgermeister und seine größte Leistung ist, dass er diese Stadt vereint und aus eigener Kraft zu neuer Blüte geführt hat. Da kannste nicht meckern.

Bildschirmfoto 2014-08-26 um 14.58.09 Berlin bewegen, 2001

berlin2011_motiv4 Berlin verstehen, 2011