Deutschlands Bevölkerung hat mehr Vertrauen verdient, als es ihr von seinen Eliten entgegen gebracht wird. Wappnen Sie sich für einen sehr zahlenlastigen Blog, an dessen Ende Sie sich aber hoffentlich besser fühlen werden. Und ohne Angst ein Flugzeug oder Deutschland betreten können.
Früher, als ich noch Flugangst hatte, spielten sich in meinem Kopf permanent Absturzszenarien in Endlosschleifen ab, die sich immer weiter hochschaukelten. Damals war ich selbst dann noch von dem unmittelbar bevorstehenden Absturz überzeugt, als ich schon längst am Gepäckband auf meinen Koffer wartete. Im Lufthansa „Seminar für entspanntes Fliegen“ brachte man mir bei, mit Hilfe diverser Techniken diese Panikzyklen zu durchbrechen. Statt an brennende Triebwerke zu denken, lernte ich, mich auf die wirklich schönen Dinge im Leben zu konzentrieren. Etwa auf Blumenwiesen, Meeresbrandungen im Abendrot oder die SPD.
Heute habe ich das Gefühl, dass eine ganze Menge Menschen im Land und auch nicht wenige Politiker und Journalisten mehr an Blumenwiesen denken sollten. Oder ans Abendrot, oder von mir aus auch an die SPD, wobei ich mir darüber im Klaren bin, dass Letztere nicht bei allen Menschen die gleichen wohligen Gefühle auslöst, wie bei mir. Ich bin da Realist.
Kommen wir zum eigentlichen Thema, beginnend mit einer kurzen Rückblende.
Im Jahr 1992 gewannen die Partei „Die Republikaner“ unter Führung des ehemaligen Unterscharführers der Waffen SS, Franz Schönhuber, bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg 10,9% der Stimmen. Zuvor war sie 1989 bereits ins Europaparlament (7%) und in das Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen (7,5%). Bis auf Baden-Württemberg, in dessen Parlament die REP mit 9,1% im Jahre 1996 noch einmal einzog, verschwand die Partei bei der nächsten Wahl wieder in der Versenkung. Dann hieß es bald auch im ganzen Land: RIP, REP.
Noch ein paar Ergebnisse am rechten Rand ab den 90ern:
Bremen 1991: DVU 6,2%.
Hamburg, 1997: DVU 4,98%.
Und wo man Herrn Schill verorten will, sei jedem frei gestellt:
Schill-Partei in Hamburg 2001: 19,4%.
Sachsen 2004: NPD 9,6%.
Brandenburg 2004: DVU 6,1%.
Meck-Pomm 2006: NPD 7,3%.
Bundestagswahl 2013: AfD: 4,7 %.
Sachsen 2014: NPD 4,95, AfD: 9,75%.
Umfragen zur AfD 2014: Am 2. Oktober 2014 bei Infratest-Dimap: AfD 9%, am 10. Oktober 2014 Forschungsgruppe Wahlen: AfD 8% Heute, 2016: Forschungsgruppe Wahlen vom 19.2.2016: AfD 10%.
Was will der alte Mann damit sagen? Nun:
Lasst uns ein bisschen ruhiger in Panik verfallen und ein bisschen leiser kreischen.
Bei 9% AfD im Oktober 2014 und 10% im Februar 2016 kann man ja nicht gerade von einer tektonischen Verschiebung sprechen. Medial bekommt man aber den Eindruck.
Die aktuelle „superspannende“ Frage, nämlich, ob die AfD irgendwo stärker wird als die SPD oder sonstwer, ist auf den zweiten Blick auch null spannend. In Sachsen bekamen 2014 AfD und NPD zusammen bereits 14,6%, die SPD alleine 12,4%. Im Jahre 2009 wäre in Sachsen übrigens die FDP fast stärker geworden als die SPD. Der Abstand betrug 0,4%. Erinnert sich noch jemand daran? Dass die SPD im Süden und Südosten Deutschlands massive Probleme hat, ist keine Erkenntnis der letzten zwei Jahre, sondern der letzten zwanzig. Guten Morgen. In Hamburg bekam die CDU 2015 übrigens satte 15,9% und hatte die Grünen im Nacken. Sowas kommt eben vor und ist nicht wirklich sensationell. Es sei denn, man hat die volatile Entwicklung der letzten Jahrzehnte voll verpennt.
Es gibt einen rechten Rand in Deutschland und den gibt es schon immer. Es wäre auch seltsam, wenn nicht, denn Deutschland hat ja eine Geschichte, die nicht gerade von einer massiven Linkslastigkeit dominiert wird. Was aber auch völlig übersehen wird ist, dass Deutschland 2016 zu 85% – 90% nicht nach scharf rechts tendiert und sich selbst in der AfD von heute noch ein paar Verwirrte verirrt haben, die nichts anderes sind als verirrte Verwirrte.
Es wird auch übersehen, dass es in Sachsen, Sachsen-Anhalt und anderen Regionen im Osten eine starke rechte Szene gab, bevor auch nur ein Flüchtling in Lampedusa gelandet war und bevor in Syrien ein Bürgerkrieg herrschte.
Ganz nüchtern betrachtet muss man sogar konstatieren: Deutschland ist äußerst stabil und es täte dem Land und seinen Leuten gut, wenn die Journalisten und Politiker ein bisschen mehr Vertrauen in Deutschland setzen würden.
Dafür müsste man aber erst mal alle Meinungsbildner in ein Medien-Nutzerseminar schicken, damit sie nicht jeden Shitstorm mit Volkes Stimme verwechseln. Da dachte ich auch, man wäre schon weiter.
Schauen wir uns auch hierzu ein paar Daten an und zwar von verschiedenen Instituten (Infratest, Emnid, Forsa, Forschungsgruppe Wahlen), alle von 2016, alle repräsentativ, alle über der 1000er Fallzahl, nach Köln erhoben und zwischen dem 15.1. und 15.2.2016 veröffentlicht.
Am 15.1.2016 veröffentlichte Infratest folgendes Ergebnis im ARD-Deutschlandtrend:
Statement: „Die Flüchtlinge sind eine Bereicherung für Deutschland.“
Dieses Statement – und das sage ich mit der Erfahrung aus 25 Jahren Wahlforschung – ist eine sehr emotionales in unseren Zeiten. Vor allem nach der Silvesternacht und der generellen Stimmung bereits vor dieser Nacht. Es wird auch nicht gefragt, ob „Einwanderung“ eine Bereicherung sei. Es wird dezidiert nach Flüchtlingen gefragt. Da könnte selbst ich als weltoffener und toleranter Mensch (Selbstbild), ins Grübeln kommen, diese Aussage in ihrer ganzen Pauschalität mit „Ja“ zu beantworten.
45% stimmen der Aussage zu, dass Flüchtlinge eine Bereicherung für Deutschland sind.
48% stimmen dem nicht zu. Die 45% sind überraschend viele, wie ich meine.
Gehen wir mal weiter zur Forschungsgruppe Wahlen im ZDF.
Dort fragte man, ebenfalls „nach Köln“, ob unsere kulturellen Werte (welche auch immer das sind) durch die Flüchtlinge in Gefahr seien. Da sagen 52% nein und 42% ja.
Diese Spaltung setzt sich in vielen weiteren Fragen fort: Machen Ihnen die vielen Flüchtlinge Angst? (ARD): Ja 48%, Nein: 50%.
Ist in Deutschland Fremdenfeindlichkeit weit verbreitet? (ZDF) Ja: 56%, Nein 44%.
Die mediale Einordnung: Journalistisch wurden diese Erhebungen eindeutig eingeordnet: Die Stimmung ist gekippt, Merkel verliert „dramatisch“, Deutsche leben in Angst, Rechtspotential wächst. Also wie immer eben: Man berichtet das reißerischste. Und das ist natürlich: Merkel in Bedrängnis.
Meine Einordnung: Die 45%, die mitten in dieser Einwanderungswelle und der Krawallnacht noch der Aussage zustimmen, die Flüchtlinge seien eine Bereicherung, sind offenbar sehr belastbar.
„Angst“ ist natürlich ebenso eine starke Emotion und diese empfinden immerhin 48%. Allerdings hat man vor der „großen Anzahl“ Angst. Nicht generell vor allen Flüchtlingen. 52% empfinden, wie erwähnt, keine Angst.
Im Parteienspektrum müsste man aufgrund der aktuellen Parteitagsbeschlüsse und auch des handelnden Personals CDU, SPD, Grüne und Linke im weitesten Sinne als zuwanderungsfreundlich bezeichnen. Was die FDP eigentlich will, habe ich nicht verstanden, gebe ihr aber zunächst einmal einen sentimentalen liberalen Vertrauensvorschuss. Bei der CDU ist das Thema umstritten, aber die Beschlusslage des noch nicht sehr lange zurückliegenden Parteitages ist klar.
Bezüglich schneller, zum Teil unsinniger und aktionistischer politischer Reaktionen von Seehofer über Wagenknecht, Palmer, Klöckner bis zum ewigen Bosbach, musste man jedoch den Eindruck gewinnen, dass die Politik nur noch Signale in die Hälfte der Bevölkerung aussendet, die skeptisch bis ängstlich ist.
Alles, was an politischem Aktionismus an den Tag gelegt wurde und zum Teil in einem Abschiebe-Überbietungswettbewerb ausartete, zielte auf die verunsicherte Hälfte der Bevölkerung. Und wenn man ehrlich ist: Wer jetzt noch nicht verunsichert war, musste es danach sein.
Es stellt sich die Frage: Wer spricht eigentlich laut und deutlich für die andere Hälfte im Land? Wer unterstützt die, die keine Angst haben? Die sich immer noch oder gerade jetzt engagieren? Die nicht in jedem jungen Mann einen Vergewaltiger sehen? Die differenzieren. Und die sich wünschen, dass Deutschland diese Situation meistert, ohne die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte über Bord zu werfen?
Ganz wichtig: Wer Angst hat oder auch nur skeptisch ist, ist nicht automatisch Nazi oder AfD-Wähler. Er oder Sie hat einfach Angst oder ist skeptisch. Punkt. Und wer der Aussage zustimmt „Es kommen zu viele Flüchtlinge in unser Land“ stellt zunächst einmal fest, dass zu viele Flüchtlinge in unser Land kommen. Eine Meinung, die von den meisten Flüchtlingen übrigens geteilt wird. Vor allem von denen in Turnhallen.
Alles in allem kann man die Bevölkerung zur Zeit grob in zwei Hälften unterteilen und in der einen Hälfte finden sich die 9-12% AfD Wähler. Allerdings auch einige Protestwähler, die von Piraten bis NPD völlig ideologiefrei irgend jemanden wählen, von dem sie ausgehen, dass er „die Mächtigen“ erschreckt. Das ist dumm, aber erlaubt. Im Kern sind gerade nicht mehr als 4-5% Hardcore Faschos unterwegs.
Fakt: Die große Mehrheit in der „skeptischen Häfte“ ist nun schon über Monate immun gegen die AfD und andere Rechtsausleger.
Das Interesse der handelnden Akteure sollte jetzt darauf gerichtet sein, die offen gestimmte Bevölkerungshälfte weiter in Ihrer Haltung zu bestätigen und den Skeptikern mit Klarheit und Bestimmtheit Ängste zu nehmen.
Der größtmögliche politische Unsinn ist, den wenigen Hardcore-Flüchtlingsfeinden permanent nach dem Mund zu reden und deren abstruse Forderungen durch eigenes Handeln aufzuwerten. Das überzeugt auf deren Seite niemanden, verunsichert aber alle anderen.
Denn auch in der skeptischen Bevölkerungshälfte will immer noch die große Mehrheit, dass Flüchtlingen geholfen wird, dass Integration gefördert wird, dass Zusammenleben harmonisch gut organisiert wird. Das nennt sich Zivilisation und ist im Land weiter verbreitet, als vermutet.
Besonders deutlich wird das in den viele Umfragen, in denen die Menschen ihr faktisches Erleben ganz objektiv und unaufgeregt wiedergeben.
Nochmal zur Meinungsforschung, diesmal Forsa:
„Haben Sie in Ihrer Gemeinde schon etwas von den vielen Flüchtlingen bemerkt?“
Nein: 34%. Ja, aber ich habe das nicht als störend empfunden: 58%.
Ja, und ich habe sie als störend empfunden: 8%.
Fazit: 92% haben entweder gar keine Flüchtlinge erlebt oder fühlen sich ungestört.
Wenn man ein Hardcore-Flüchtlingsfeind ist, dann gehört man nicht zu den 92%, die sich von Flüchtlingen nicht gestört sehen. Dann erfindet man „Störung“ oder hat sowieso schon Phantom-Schnappatmung.
Dieses Ergebnis deckt sich mit vielen anderen, etwa einer Untersuchung von Emnid. TNS Emnid fragte im Februar 2016, wie sich die eigene Situation durch die Flüchtlinge verändert habe: Gar nicht: 85%. Hat sich verbessert: 5%. Hat sich verschlechtert: 10%.
Dabei finden sich bei den Anhängern der CDU/CSU 94% die mit „Gar nicht“ oder „verbessert“ antworten, bei der SPD sind es 98%, bei den Grünen 97% und bei der Linken 95%. Nur, oh Wunder, bei den Anhängern der AfD sehen 21% ihre Lebenssituation negativ verändert. Immerhin 78% konstatieren auch dort, dass sich in ihrem persönlichen Umfeld gar nichts geändert habe.
Auf die Frage, ob man in Zukunft eine Verschlechterung der eigenen Situation erwarte, antworten 66% mit „Nein“ bzw. sogar „Verbessern“ und 30% erwarten eine Verschlechterung der eigenen Situation. Auch hier sei noch betont: Wer eine Verschlechterung erwartet, ist nicht gleich ein Gegner von Flüchtlingen. Es kann sich auch einfach um eine realistische Einschätzung handeln, die z.B. mit Kosten, Steuern etc. zu tun hat.
Das gilt es noch einmal zu betonen. Wer durch die Flüchtlingshilfe höhere Kosten für den Staat erwartet, ist kein Gegner der Flüchtlinge. Er oder Sie kann nur rechnen. Das gilt auch für Fragen der Unterbringung. Wir sollten auch bezüglich der Fragestellungen und Berichterstattung sehr klar bleiben. „Erwarte“ ich höhere Kosten oder „Befürchte“ ich höhere Kosten. Wenn die Frage mit „Befürchten“ gestellt wird und ich nur zwischen „Ja“ und „Nein“ wählen kann, bin ich mit meiner „Erwartung“ automatisch in der skeptischen Hälfte gelandet. Für viele meinungsinstabile Politiker also gleichzusetzen mit AfD. Das ist dann aber sehr, sehr falsch und kann zu sehr, sehr falschen Analysen oder gar Politiken führen.
Wie auch immer: 2/3 der Bevölkerung erwartet keine negativen Auswirkungen. Bei den Anhängern der AfD empfinden dafür bereits heute 71% heftige Phantomschmerzen, die mit ihrem Alltag rein gar nichts zu tun haben (78% erleben zur Zeit keinerlei negative Auswirkungen).
Fügt man dieser Erkenntnis die aktuellen Wahlumfragen im Bund hinzu, erkennt man rasch einen weiteren deutlichen Stabilitätsfaktor: 61% würden die regierenden Parteien CDU/CSU und SPD wählen, weitere 24% Grüne, Linke oder FDP.
Wer sich in diesem zugegeben langen Beitrag bis hierhin durchgerungen hat, dem sei meine positive Botschaft noch einmal auf den Punkt gebracht: Deutschland driftet nicht nach rechts, auch wenn 9-12% der Bevölkerung scheiße drauf sind.
Deutschland 2016 ist wesentlich internationaler, offener und moderner als Deutschland 1933, 1992 oder 2000. Nur glauben das offenbar zu wenige Akteure, die es eigentlich besser wissen müssten. Aber vielleicht liegt das auch einfach daran, dass mancher Meinungsbildner – vom Journalisten bis zum Politiker – selbst viel kleingeistiger ist, als er es bisher von sich vermutet hat. Aber so lange alle ins selbe Panik-Horn blasen, wird auch nur eines herauskommen: die komplette Dröhnung. Panik, Hilflosigkeit, Endlosschleifen, schwitzige Hände und miese Stimmung.
Die belastbaren Zahlen sprechen jedenfalls eine ganz andere Sprache als die Politik. Deutschland hat mehr Vertrauen verdient, als es von seiner Elite bekommt.
Kann man diese Flugangstseminare nicht auch im Regierungs- und Medienbetrieb anbieten? Da gibt es einen riesigen Markt!