Vor dem Fest

Deutschlands Freiheit wird unter dem Tannenbaum verteidigt. Rüstet euch für das Familienfest eures Lebens und schwingt die Gänsekeule gegen Nazis.

„Driving Home for Christmas“ wird rauf und runter im Radio gespielt werden, während sich wieder Hunderttausende auf die Reise quer durch die Republik machen, um Weihnachten im Kreise ihrer Liebsten zu verbringen. Oder im Kreise ihrer Verwandtschaft. Es werden andere Weihnachten sein, als noch vor ein oder zwei Jahren. Es werden völlig andere Gespräche stattfinden, als vor drei, vier oder fünf Jahren. Es werden Gespräche sein, in denen „Paris“, „Syrien“, „Flüchtlinge“, „Krieg“, „Terror“ und „Dresden“ vorkommen werden. Und nicht selten wird ein Riss durch die Familien gehen.

Es wird die Nichte, die in Berlin studiert und sich für Flüchtlinge engagiert, auf den Onkel treffen, der beim nächsten Mal AfD wählen will. Es werden sich Eltern mit Kindern streiten und diesmal nicht über das, worüber sie sich bisher jedes Mal in die Haare bekommen haben. Deutschlands Kirchen werden wieder gefüllt sein – aber diesmal mit mehr engagierten Christen und auch mit wesentlich mehr Heuchlern, die Lieder anstimmen werden, deren Sinn sich ihnen wohl noch nie erschlossen hat.

Deutschland hat die Wahl. Und Deutschland wird sich entscheiden müssen. Nicht an der Wahlurne, nicht in einem Volksentscheid, sondern ganz privat: In welchem Deutschland wollen wir leben? Wie will ich leben? In welchem Land sollen meine Kinder aufwachsen, in welchem gesellschaftlichen Klima will ich älter werden?

Die Deutschen standen schon häufiger vor einem Scheideweg und sie haben sich nicht unbedingt einen Namen damit gemacht, richtig abzubiegen. Ich bin sehr optimistisch, dass es diesmal anders kommen wird. Deutschland ist weiter als manche Skeptiker und auch manche hasenfüßige Politiker meinen.

Die Zukunft Deutschlands wird unter dem Tannenbaum entschieden. Damit es eine gute Zukunft wird, müssen alle klare Kante zeigen, die das moderne, weltoffene, demokratische, freie, europäische Deutschland schätzen, lieben und immer besser machen wollen. Sie müssen dem Rassismus, den Vorurteilen, der verdrucksten Engstirnigkeit oder gar der Aggression offensiv begegnen. Zu Hause. Gegenüber dem Bruder, der Oma oder auch den eigenen Eltern.

Wer das moderne Deutschland will, der muss aufklären, argumentieren, Ängste nehmen, diskutieren, debattieren und darf sich nicht verkriechen um des lieben Friedens willen.

Zwischen einem weltoffenen Deutschland und einem Deutschland der brennenden Flüchtlingsheime, der Verrohung, Bedrohung und rechter Parolen gibt es keinen Kompromiss. Gibt es keinen Kompromiss. Gibt es keinen Kompromiss. Gibt es keinen Kompromiss.

Wenn besonders die Älteren Sorgen umtreiben, ob das gut gehen kann mit Zuwanderung und Integration, dann ist es an den Jungen, sie aufzuklären. Über die fremdländisch klingenden Namen in ihrem Adress-Account, über das gemeinsame Arbeiten in internationalen Firmen, über das Aufwachsen in kulturell vielfältigen Metropolen, über die globalen Freundschaften in sozialen Medien, über ein Leben, das sie schon längst leben.

Es geht nicht darum, dass man sich etwas vormachen muss, oder dass alles perfekt laufen wird. Aber alles, wirklich alles, wird besser laufen als zwischen 1933 und 45. Das kann man mit gutem Wissen und Gewissen laut und deutlich vertreten.

Es ist nicht mein Deutschland, in dem Lokalpolitiker verhetzt, bedroht oder gar abgestochen werden. Es ist nicht mein Land, in dem Feuerwehren in brennende Flüchtlingsheime gerufen werden. Es ist nicht mein Land, in dem Menschen, die Kleider oder Lebensmittel spenden, von einem wütenden Mob angebrüllt werden. Das kann nicht das Land sein, indem wir leben wollen. Aber wenn es das nicht ist, dann dürfen wir nicht still sein.

Ja, auch ich habe ein mulmiges Gefühl am Flughafen, im Hauptbahnhof oder in der U-Bahn. Und ich bin fast täglich an einem dieser Orte. Aber ich käme niemals auf die Idee, die Flüchtlinge, die vor dem Terror fliehen, dafür verantwortlich zu machen. So schrecklich es sein mag, aber die Anschläge von Paris haben mich den Flüchtlingen näher gebracht. Etwa zwei Wochen vor den Anschlägen saß ich in den Cafés rund um das Zentrum der späteren Anschläge. Die Anschläge von Paris wiederholen sich jeden Tag. In Syrien. Im Irak. In Afghanistan, wo jeder Gang zum Gemüsehändler der letzte sein kann. Der Terror im Alltag ist, was die Menschen zu uns treibt und den verstehe ich heute noch besser als vor einigen Wochen.

Was ich aber überhaupt nicht kannte, war eine dunkle Bedrohung zu Hause in Deutschland. Kürzlich hatte ich eine Lesung in Magdeburg, kurz nach der Veröffentlichung meines auch auf stern.de und carta.info hunderttausendfach verbreiteten Blogbeitrags „Es ist Zeit.“ Dieser hatte natürlich auch die erwarteten freundlichen Mails zur Folge, aber ich dachte mir nichts dabei. Bis immer mehr Freunde oder Kollegen meinten: „Magdeburg? Pass auf Dich auf!“. Und schon waren sie da, die Bilder von Baseballschläger-bewaffneten Nazis, die in den Straßen Magdeburgs Jagd auf Flüchtlinge machen. Warum dann auch nicht auf Blogger? Es passierte nichts, die Veranstaltung war gut besucht, alles friedlich, alles fein. Nichts ist friedlich, wenn man sich solche Gedanken machen muss.

Der Terror ist in Deutschland angekommen. Der Terror von Deutschen. Gegen Flüchtlinge aber auch gegen alle engagierten Demokraten und alle, die nie wieder zurück wollen in die schrecklich beschränkten, hasserfüllten und intellektuell armseligen Grenzen des dunklen Deutschlands.

Einige meinen, man dürfe nicht immer die „Nazikeule“ schwingen, gegen die Nazis. Ja, gut, dann schwingt halt die Gänsekeule. Oder irgendwas veganes. Es geht um euer Deutschland, eure Zukunft, eure Freiheit – euer Leben, so wie ihr es kennt. Es geht um eine immer noch junge Demokratie, die auf der ganzen Welt bewundert wird. Und die absolut keine Selbstverständlichkeit ist.

Also: Rein mit den Plätzchen, rauf mit den Kilos und raus mit der Sprache.

Fröhliche Weihnachten.

PS: Und wenn ich ihm schon den Titel klaue, dann auch noch mein Lesetipp: Sasa Stanisic: Vor dem Fest. Großartig, verwunschen, brillant. Hat mit dem Artikel gar nichts zu tun. Bis auf die Tatsache, dass auf Amazon tatsächlich kommentiert wurde, er solle gefälligst über Bosnien schreiben und nicht über die Uckermark. Und überhaupt dürfe man ihn nicht mit einem wie Fontane vergleichen, weil er ja kein Deutscher sei. Der arme Fontane. Wer solche Freunde hat…

Es ist Zeit.

Es ist Zeit, diesen Kreislauf zu durchbrechen, der sich in zahlreichen Hirnen gerade abspielt und für den es keinen anderen Ausdruck gibt als: Panikattacken.

Es ist Zeit, wieder gerade zu rücken, was aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Es ist Zeit, den verlogenen angeblichen Ängsten vor „Jungen Männern mit Bedürfnissen“ klar entgegen zu treten. Junge Männer, in vielen Fällen Teenager, die von ihren Familien losgeschickt wurden, um für ihre Geschwister das Überleben zu sichern, haben ganz andere Sorgen, als zu pimpern. Auf ihnen liegt die Last, ihre Liebsten in der Heimat zu retten. Die wollen arbeiten und nicht vögeln. Und überhaupt – was habt ihr eigentlich für ein krankes Hirn, dass ihr in jedem jungen Mann einen Vergewaltiger sehen wollt? Wahn – Wunschvorstellung oder was?

Es ist Zeit, den durch und durch abstoßenden Rechtsauslegern klar zu sagen: Dass ausgerechnet ihr euch aufspielt, die Homosexuellen vor den potentiellen Übergriffen der Muslime in Schutz nehmen zu wollen, ist ja wohl der Treppenwitz der Weltgeschichte. Wenn ich die Wahl habe zwischen KZ mit rosa Wimpel oder Rübe ab, dann komme ich als Schwuler aber ganz schön ins Grübeln. Klar gibt es unter Flüchtlingen Intoleranz, Ausgrenzung und auch Hass. Aber als Schwuler wehre ich mich ausdrücklich dagegen, ausgerechnet von „Christlichen-Abendland-Verteidigern“ in Schutz genommen zu werden, nachdem sie mir mit ihrem bigotten Schuldgeschwätz meine halbe Jugend versaut haben, mein Umfeld gegen mich aufwiegeln wollten, nicht wenige Teenager in den Suizid getrieben haben und bis zum heutigen Tag Ausgrenzung predigen. Pfui Teufel!

Es ist Zeit, den Konservativen, die gestern noch die Herdprämie für eine super Idee hielten, die gegen die Frauenquote agitierten und denen man seit Jahrzehnten die Gleichberechtigung der Frau in ihr dumpfes Hirn stopfen muss, zu sagen: Dass ihr euch plötzlich für die Rechte der Frauen interessiert, die ihr über Jahrzehnte hier im Land blockiert habt, das müsste euch eigentlich jeden Morgen den Spiegel im Bad zerspringen lassen. Ja, Menschen, die in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen sind, müssen eine andere Gesellschaftsordnung lernen und anerkennen. Aber tun wir doch bitte nicht so, als seien wir hier schon seit Jahrzehnten die tolerante, weltoffene Gesellschaft schlechthin. Auch für uns war das ein langer Prozess und wie wir wissen, haben nicht alle von uns die nächste Entwicklungsstufe schon erklommen.

Es ist Zeit, denen, die jetzt von „Prügeleien in Flüchtlingsunterkünften“ gar nicht genug bekommen können, zu sagen: In diesem Land brennen mehr Flüchtlingsunterkünfte als es Rangeleien gibt, werden Menschenleben aufs Spiel gesetzt und traumatisierte Flüchtlinge weiter traumatisiert. Das ist die Schande. Das ist das Problem. Zu viele aggressive junge Männer in Zelten nannte man früher Oktoberfest. Aber denen hat man nicht zu Hause die Hütte zerbombt und denen fackelt man auch nicht die Halle ab. Also auch hier einen Gang runter schalten in der Erregungsschlaufe.

Menschen flüchten tausende von Kilometern auf der Suche nach Frieden und Arbeit, um dann von Dorfdeppen angespuckt zu werden, die ihren lahmen Arsch noch nie aus dem eigenen Kaff rausgewuchtet haben. Schon gar nicht für einen Arbeitsplatz.

Es ist Zeit, den jungen Menschen, die in Sachsens Dörfern pöbeln und spucken zu sagen: Was machst Du Depp denn noch hier, wenn Du keine Zukunft hast? Du bespuckst Flüchtlinge, die tausende von Kilometern zu Fuß hinter sich gebracht haben? Aber selbst schaffst Du es nicht einmal von Heidenau nach Ingolstadt oder nach München oder nach Stuttgart oder andere Städte, in denen sie händeringend nach Leuten suchen? Was bist Du denn für ein antriebsloser Vollpfosten! Wie? Bei Mama ist schöner? Aber dann noch auf andere herabsehen wollen. Wie erbärmlich.

Es ist Zeit, denjenigen, die auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch erschrecken, wenn sie einen Ausländer sehen, zu sagen: Wie lange denn noch? Wie lange braucht ihr denn noch, um im 21. Jahrhundert anzukommen? Wenn man eine Tür öffnet, dann ist sie offen. Dann kann man rausgehen, aber es können auch andere reinkommen. Was ist daran so schwer zu kapieren? Ich weigere mich anzuerkennen, dass erwachsene Menschen noch Angst vorm schwarzen Mann haben. Oder vorm Nachtkrabb. Oder vor Shrek unterm Bett? Du lieber Himmel. 25 Jahre – das ist eine ganze Generation. Get the fuck over it.

Es ist Zeit, unseren Politikerinnen und Politikern zu sagen: Fangt jetzt bloß nicht an zu wackeln. Organisiert, investiert, professionalisiert. Entlastet die vielen tausend Helferinnen und Helfer. Vermittelt im Ausland, nehmt Europa in die Pflicht, unterstützt Flüchtlingslager näher an den Herkunftsländern und macht all das, was man euren Job nennt. Improvisiert und schießt von mir aus euren Fetisch, der sich „Schwarze Null“ nennt, auf den Mond. Andere Zeiten erfordern andere Maßnahmen. Aber fangt jetzt bloß nicht an zu wackeln. Ein heulender Seehofer ist schon peinlich genug, mehr Memmen brauchen wir nicht.

Es ist Zeit für eine glasklare Haltung. Kein Wackeln. Kein Zaudern. Kein Zögern. Die Menschen in Deutschland wollen in ihrer überwältigenden Mehrheit, dass die Menschlichkeit gewinnt. Sie empfinden durchaus, dass das eine große Aufgabe ist. Aber sie wollen, dass sie gelingt. Sie wollen stolz sein, auf das andere Deutschland.

Daher, liebe Politiker: Bitte mal wieder einen Gang zurück schrauben mit den persönlichen Panikattacken. Uns hier draußen im Land geht es im Oktober 2015 nicht anders als im Oktober 2014. Wir leben unser Leben, mit dem Unterschied, dass wir jetzt endlich die zu kleinen Kinderklamotten und die alten Winterjacken losgeworden sind und uns auch noch gut dabei fühlen konnten. Ansonsten reden wir hier über Fußball, Fifa, den Tatort und erörtern die Frage, warum jetzt plötzlich wieder alle jungen Leute in Röhrenjeans mit Hochwasser rumlaufen. Das sah doch schon 1980 Scheiße aus. Aber woher sollen sie es wissen, da waren sie ja noch nicht auf der Welt. Business as usual, eben.

Also: Macht bitte weiter eure Jobs und vermittelt uns nicht ständig mit Floskeln wie „größte Herausforderung seit …“ oder „Bis an die Grenze der Belastbarkeit …“ oder sonstigem „Ich – hab’-den-Größten-und-auch-die-größte-Krise“ Machogeschwätz eure eigene Überforderung. Keiner von uns in der Nachkriegsgeneration hat jemals eine wirklich große Herausforderung bestanden und keiner von uns ist je an die Grenzen seiner Belastbarkeit gegangen. Außer vielleicht beim Bungee-Jumping. Wir kommen schon klar, macht euch keine Sorgen.

Nicht wir sind es, die größte Herausforderungen zu meistern haben, sondern diejenigen, die zu uns kommen.

Nicht wir haben ein Problem, weil wir in der Turnhalle kein Zirkeltraining machen können, sondern die, die in der Halle leben müssen.

Nicht wir haben irgendeinen Grund zu jammern, sondern alle, die ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde verloren haben.

Das bitte, liebe Politiker, ist die Antwort, die ihr an euren Stammtischen allen geben solltet, die euch blöd kommen. Und ja, ein fröhliches „Wir schaffen das“ könntet ihr den Stänkerern noch hinterher werfen.

Das würde man dann Rückgrat nennen.

Es ist Zeit.

Der Grössenplan zur rechten Zeit.

Gegen flatternde Nerven, heulende Ministerpräsidenten und Schaltfehler in den Synapsen des Innenministers hilft nur: der ultimative Grössenplan.

Findet man dieser Tage nicht rasch genug die Fernbedienung, um den heulenden und greinenden Seehofer wegzuzappen, der seine persönliche Überforderung und die seiner Regierung auch noch unentwegt der uninteressierten Öffentlichkeit mitteilen muss, kann einen schon eine Verwirrung der Gefühle ergreifen. Sag doch bitte einer dem Mann, dass Pressekonferenzen keine Therapiesitzungen sind.

Was ist aus den einst so stolzen Bayern geworden, dass sie sich solch ein Weichei an die Spitze wählen? Betteln, bitten, flennen –die große Angela soll es richten – wir hier können es nicht – wir sind zu klein und zu arm! Und wenn es die große Angela nicht richtet, dann bilden wir das neue Bayrisch-Ungarische Mordor Europas mit Stacheldraht, Mauern (und Schießbefehl?) aber ohne Österreicher, denn die mögen wir nicht mehr nicht. Nein.

Wegzappen. Weiterzappen zu: de Maiziere. Oh je. Da fabuliert der Bundesinnenminister der Bundesrepublik Deutschland, dass er gehört habe, dass Flüchtlinge mit dem Taxi! Jawoll. Mit dem Taxi! Und nicht mit dem Fernbus! Kreuz und Quer durch die Republik – und überhaupt – woher haben die das Geld? Ja, lieber de Maiziere, vermutlich von ihrem Konto. Woher man halt Geld nimmt. Denn wo bitte steht geschrieben, dass man arm sein muss, um aus einem Bürgerkrieg zu fliehen? Ich gebe zu – würde ich heute aus Deutschland fliehen müssen, weil mir sonst Folter und Tod drohten – ich würde mein Geld mitnehmen. Doch, das würde ich. Und zwar alles. Es ist ja auch meins. Dem de Maiziere würde ich es jedenfalls nicht geben.

Und dann lese ich noch von einem eher unbedeutenden Berliner CDU-Politiker, dass man diesen Wilden, die da zu uns kommen, unbedingt beibringen müsse, dass die Gleichstellung von Mann und Frau aber so was von unantastbar sei! Jawoll. Gut, das mit den Schwulen, das ist vermutlich wiederum Verhandlungssache, da sind die Taliban aus Sicht der Berliner CDU weiter als wir. Aber Mann und Frau – Gleichberechtigt – das hat in CDU/CSU Jahrzehnte gedauert, bis das fast ganz vielleicht anerkannt war – das lassen die sich von den Flüchtlingen nicht mehr kaputt machen. Die Männer in der Union. Die eben noch für die Herdprämie waren.

Gestern fuhr mich im Taxi ein Bulle von einem Mann. Ein Nacken wie ein Stier, Oberschenkel statt Oberarme und ein Gesicht zum fürchten. Kaum saß ich im Wagen, fing er an zu heulen. Wie das denn alles gehen sollte. Es seien ja so viele „Kanacken“. Als ich ihn bat genau hier, also 5 Meter weiter, anzuhalten und mich aussteigen zu lassen, fing er wiederum zu weinen an, dass das doch so nicht gemeint sei und so weiter und so fort. Es entspann sich dann tatsächlich noch so etwas wie ein Dialog, der gar nicht so hässlich endete, wie ich es ersehnt hatte, um dieser Muskelmemme mal ordentlich die Leviten zu lesen.

Er sprach also davon, dass die doch alle aus einem ganz anderen Kulturkreis kämen, und wie das denn gehen sollte. Ich erwiderte ihm: ungefähr so, wie die letzten 60 Jahre auch. Zumindest in dem Teil der Republik, den man früher als Westen bezeichnete. Und das klappte ja alles in allem ganz gut. Sieht man sich die Belegschaften von Mercedes Benz, BMW oder anderen deutschen Erfolgskonzernen an, hat man ja keinen Mangel an Namen, die nicht unbedingt der vaterländischen Ursuppe entsprungen zu sein scheinen. Kürzlich las ich auch eine Anzeige von Penny, in dem das Unternehmen seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dankte. Beim Zählen kam ich ungefähr auf jeden fünften Namen, den man als eindeutig deutsch identifizieren konnte.

So plauderte ich vor mich hin, bis der der Fahrer dann irgendwann erwiderte – „also meine Kollegen sind ja auch alle Türken. Das klappt prima, muss ich sagen.“ Hat er gesagt. Nicht von mir erfunden. Es gibt halt solche und solche – auch unter den deutschen, war dann die Formel, auf die wir uns verständigten. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Kostete aber mich 20 Minuten und ihn Trinkgeld.

Was für einen erfrischenden Unterschied zu den heulenden Männern machen doch in diesen Tagen die Frauen in der Politik. Bundeskanzlerin Merkel, die nur noch nervenflatternde Parteifreunde um sich hat, sagt sinngemäß: „Ist jetzt so. Gehen wir jetzt durch. Anpacken.“ Arbeitsministerin Nahles sagt wörtlich in der SZ: „… es ist eine Hochzeit der Politik. Man kann viel gestalten – das gefällt mir, auch wenn es mich in diesen Tagen einige Stunden Schlaf kostet.“

Was haben diese Frauen, was viele Männer nicht haben?

Nun, zunächst einmal keine Angst. Und wenn man keine Angst hat, kann man auch besser arbeiten. Das ist wirklich eine Hilfe. Früher hatte ich Flugangst, bis ich ein Anti-Flugangst-Seminar besuchte. Heute kann ich im Flugzeug super arbeiten statt mich in lähmender Angst an den Sitz zu krallen. Gut, meistens schlafe ich, aber das ist jetzt nicht der Punkt. Warum 80 Millionen Deutsche vor einer Million plus x Flüchtlingen Angst haben sollen, hat mir noch niemand erklären können. Und es wäre doch schön, wenn die Flattermänner das auch immer wieder betonen würden, statt öffentlich zu weinen.

Da alle nach einem Plan rufen, aber keinen haben, beuge ich mich dem Flehen und offeriere hier meinen Größenplan für Deutschland.

  1. Ich empfehle dringend Anti-Flüchtlingsangst-Seminare für Politiker in Leitungsfunktionen. Und für manche flatternde Nerven auch Anti-Umfrageangst-Seminare. Denn allen, die jetzt darauf verweisen, dass „die Stimmung kippt“ sei gesagt: Zwischen „Ich denke, das sind jetzt ein bisschen viele“ und „Ich ziehe nach Sachsen“, gibt es noch jede Menge Variationen. Nicht jeder, der die objektive Feststellung teilt, dass es ziemlich viele Leute sind, die da kommen (finde ich auch, die Kanzlerin auch und die Flüchtlinge finden das übrigens auch), erkrankt deshalb gleich am Mauerbausyndrom oder akuter Hitleritis. Also: bitte entspannen und an Blumenwiesen denken. Danke.
  2. Ich empfehle im zweiten Schritt Kinder-Land-Verschickungen. Liebe Jugend in den Metropolen Deutschlands, es wird Zeit, dass Ihr euch um eure Opas, manchmal auch Papas und Onkels kümmert, die ihr auf eurer berechtigten Suche nach Glück und Arbeit in einem leicht bis stark paranoiden Paralleluniversum landseits zurück gelassen habt. Einige von ihnen drohen nun, in die Radikalisierung abzudriften. Aber es gibt kein besseres Mittel gegen die Radikalisierung, als eine wache, funktionierende Familienstruktur. Deshalb, liebe Enkel, Neffen, Nichten – greift mal wieder zum Telefon oder setzt euch in Bus und Bahn und fahrt mal wieder nach Dresden oder noch kleinere Dörfer und sprecht mit eurer Verwandtschaft. Erzählt ihnen von eurem Leben und euren Erfahrungen in der Schule, auf der Arbeit, und der Uni. Erzählt ihnen davon, dass kein Mensch mehr fragt, welcher Religion der andere angehört und die Trennlinie eher zwischen Flexitariern und Veganern (nein, die sind nicht aus „Raumschiff Enterprise“) verläuft, als zwischen Christen und Muslimen. Erzählt Ihnen, dass euch wahrhaftig im Leben viele Arschlöcher begegnen, diese sich aber nicht durch ihre Staatsbürgerschaft oder Hautfarbe auszeichnen, sondern durch ihr Verhalten. Und erzählt ihnen vor allem, dass sie sich um euch keine Sorgen machen müssen, sondern wenn, dann darüber, dass Opa durch sein Verhalten eure Zukunft verhagelt und es in vielen Dörfern bald nur noch Rollatoren-Rennen als Hauptattraktion geben wird. Es sei denn, sie lassen endlich mal wieder frisches Blut ins Land und ins Dorf.
  3. Ich empfehle drittens: Offensive Planlosigkeit. Viele Menschen, einschließlich zahlreicher Grüner, Linker und nicht so linker fordern jetzt Pläne, Masterpläne und Großmasterpläne. Well. Imagine: There is no plan. Kein kleiner, kein großer. Deswegen implodieren bei Menschen wie de Maiziere ja auch die Synapsen. Error, error, error – puff-bang aus. Die Flüchtlinge, die gerade zu uns kommen, hatten nicht geplant, dass ihr Land in Schutt und Asche versinkt, die Auffanglager der Nachbarländer überfüllt und unterfinanziert sind und eine Reihe europäischer Länder vergessen haben, was europäische Wertegemeinschaft faktisch bedeutet. Wenn es keinen Plan gibt, muss man eben das Beste draus machen. Und den Menschen auch sagen, dass man jetzt eben das Beste draus machen muss. Dann machen sie auch das Beste draus. Das ist der Plan.
  4. Ich empfehle viertens: Glückshormone. Wer hätte gedacht, dass dieses Deutschland einmal das leuchtende Land würde, das es heute ist. Anziehungspunkt für hunderttausende mehrheitlich junge Menschen aus aller Welt. Gott sei Dank, kann ich da nur sagen. Was für eine super Chance gerade auch für Landstriche, die unter Vergreisung und Abwanderung leiden. Vor kurzem sprach ich fernmündlich mit einer Brennholzfachkraft im Brandenburgischen und bat sie, selbstverständlich gegen Aufpreis, das Brennholz vor meiner Datsche während meiner Abwesenheit bitte nicht nur auszukippen, sondern auch hinter dem Haus im Unterstand zu stapeln. „Wir können nur kippen.“ Auf meine vorsichtige Anfrage, ob es denn nicht einen jungen Mann gebe, der sich etwas dazuverdienen wolle, antwortete sie: „Hier gibt’s keine jungen Männer.“ Case closed. Ähnliche Antworten – allerdings geschlechtsneutral – erhielt ich in den vergangenen Monaten auch vom örtlichen Klempner, dem Elektriker, dem Gartenbaubetrieb und natürlich auch in dem Krankenhaus, in das ich einen Freund brachte, nachdem er versucht hatte, mein Brennholz nicht nur zu stapeln sondern auch noch händisch zu verfeinern.

Nein – nicht alle, die zu uns kommen, sind Ärzte, Symphoniker, Spiele-Programmierer oder alles zusammen. Aber Brennholz stapeln und auch Anspruchsvolleres wird schon klappen. Und in dem Alter machen und kriegen die dann auch noch Kinder, was dafür sorgt, dass die Dorfkita nicht schließen muss, die Schule nicht schließen muss, der Bus weiter fährt, Geschäfte Geschäfte machen und so weiter und so fort. Toll.

Ich bin mir auch sicher, dass das mit der Integration besser klappt, jetzt, wo auch weite Teile der Union mit nur drei Jahrzehnten Verspätung kapiert haben, dass das wichtig ist. Und auch der Fortschritt hin zu einem vernünftigen Einwanderungsgesetz wird nicht mehr aufzuhalten sein. Diesbezüglich haben doch die Syrer in einem halben Jahr schon mehr geschafft als die Politik in den letzten 60 Jahren. Chapeau!

Ich hätte noch zahlreiche weitere Anmerkungen und natürlich ist mein Größenplan noch wesentlich umfangreicher als ich es hier zugeben kann. Aber schon jetzt wird, denke ich, für jeden klar: Mit diesem Plan ohne Plan wird Deutschland schon morgen glücklich, weltoffen, friedlich und optimistisch. Wir schaffen das! Du auch. Und Du und Du. Und Du da hinten erst! Jetzt müssen wir nur noch Fußballspielen lernen.

Die große Rede des Olaf Scholz

Wenn man sich über viele Jahre mit politischer Kommunikation beschäftigt, dann kommt man an bedeutenden Reden natürlich nicht vorbei. Von manchen Reden kennen wir nur noch berühmte Soundbites („I have a dream“, „Ich bin ein Berliner“, „A house divided against itself cannot stand“. „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“) – aber eine richtig gut komponierte Rede in Gänze zu lesen ist leider ein seltenes Vergnügen geworden.

Am 12. September 2015 hielt Olaf Scholz in Hamburg so eine Rede. Und ich möchte euch empfehlen, die Zeit zu nehmen, diese ganz zu lesen. Es lohnt sich.

Mein liebster Absatz:
„Sie sehen kleine Jungs, die vielleicht aus Syrien kommen und mit kleinen deutschen Fahnen winken, Sie können Geschichte, die gerade passiert, hier erleben: Auf dem Hauptbahnhof, in ihrem Viertel. Sie haben die Chance, der Geschichte Deutschlands ein neues, gutes Kapitel hinzuzufügen.“

Rede zur Kundgebung „Hamburg bekennt Farbe“ für Demokratie, Toleranz und Vielfalt

Sehr geehrte Frau Präsidentin der Bürgerschaft,
liebe Hamburgerinnen und Hamburger,

am Durchgang zu Brücke 3 an den St. Pauli Landungsbrücken gibt es eine Gedenktafel. Sie erinnert an 900 deutsche Juden, die hier in Hamburg im Mai 1939 auf der Flucht vor dem Terror der Nationalsozialisten das Schiff „St. Louis“ bestiegen. Voller Trauer und auch mit Hoffnung verlassen sie ihr Land mit gültigen Einreisepapieren für Kuba und die USA. Und kommen nie da an.

Gustav Schröter hieß der Kapitän, des Dampfers der HAPAG-Rederei, der alles versuchte, um für die Flüchtlinge einen sicheren Hafen zu finden. Trotz der Zusage weist Kuba die Flüchtlinge ab und auch Roosevelt, damals Präsident der USA, will niemanden mehr aufnehmen. Die Flüchtlinge sehen schon die Lichter von Miami als das Kommando aus Hamburg kommt: Die „St. Louis“ muss zurück. Zurück nach Deutschland, das bedeutete den sicheren Tod. Inzwischen wird die Weltöffentlichkeit auf das Schicksal der verzweifelten Juden aufmerksam. Im Juni kommt die erlösende Nachricht: Belgien, Holland, Frankreich und England nehmen die Flüchtlinge auf. Fast alle überleben den Krieg, dennoch 254 der Passagiere, die auf den Kontinent verteilt wurden, ermorden die Nazis. Wir dürfen die St. Louis, und das Schicksal ihrer Passagiere nicht vergessen, wenn wir heute handeln!

Denn: Unter den Augen der Weltöffentlichkeit, fliehen auch heute wieder Frauen, Männer und Kinder vor Krieg und Terror.

Sie fliehen aus Syrien. Seit mehr als vier Jahren tobt dort ein Krieg, der aus einem Aufstand gegen das Regime hervorgegangen ist und mittlerweile mehrere kämpfende Parteien hat. Vor allem aber hat er sämtlichen Städten und Regionen massenhaft Tod und Zerstörung gebracht. Die staatlichen Strukturen zerfallen. Das Risiko für die Bevölkerung, Opfer von Gewaltakten zu werden ist sehr hoch und die Terrororganisation IS kontrolliert große Teile vor allem im Osten des Landes.

Sie fliehen aus Afghanistan: Frauen, Männer und Kinder. Wir kennen die lange tragische Vorgeschichte des Landes, über das jahrzehntelang immer andere bestimmt haben und wo das Leben und die Rechte der Bewohner geringen Wert hatten. Nach dem Ende von ISAF ist die Sicherheitslage in vielen Landesteilen instabil.

Sie fliehen aus dem Irak, weiterhin eines der gewalttätigsten und gefährlichsten Länder der Welt. Durch Terroranschläge und Gewalttaten sind in den vergangenen Jahren unzählige Bewohner ums Leben gekommen. Man spricht von etwa 3,7 Millionen Irakern, die sich bis heute auf der Flucht befinden, übrigens die Hälfte davon im eigenen Land.

Die Sicherheitslage ist im Irak fast überall schlecht, am meisten in den Provinzen, die unter Kontrolle terroristischer Milizen stehen. Ja auch hier wütet der Terrorismus des IS, werden Unzählige wegen ihres Glaubens verfolgt.

Aus Eritrea und Somalia, zwei Ländern einer Katastrophenregion kommen Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl suchen. In Eritrea, einer präsidialen Diktatur ohne Gewaltenteilung, wird die Lage seit Jahren durch den Grenzkonflikt mit Äthiopien bestimmt. Die Gesellschaft ist weitgehend militarisiert, Grundrechte können so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen werden, es gibt Sondergerichte und zahlreiche Regimekritiker sind in den vergangenen 15 Jahren ohne rechtsstaatliche Verfahren verhaftet und an geheimen Orten inhaftiert worden.

Hamburg steht – aus all diesen Gründen – vor einer großen Aufgabe. Und ich habe den Eindruck, dass sehr viele Hamburgerinnen und Hamburger mutig und mit ganzem Herzen an diese Aufgabe gehen. Hamburg bekennt Farbe… oder wonach sieht es sonst aus?

Viele, die zurzeit zu uns kommen, tun das übrigens auch, Farbe bekennen. Manche ganz wörtlich, indem sie sich mit Fingerfarben schwarz/rot/gold markiert haben. Andere, indem sie auf die Frage, wie sie sich kurz nach ihrer Ankunft jetzt fühlen, als erstes sagen: frei und optimistisch, und ich möchte am liebsten in einem bekannten Industriebetrieb arbeiten. Oder Informatik studieren. Jedenfalls: etwas tun und vorankommen.

Nicht jeder Traum wird in Erfüllung gehen – viele hoffentlich ja –, aber dass wir für so viele ein Hoffnungsland, das Hoffnungsland sind, kann uns – noch während wir tief durchatmen angesichts der Aufgabe und der Verantwortung – kann uns stolz machen.

Viele sind heute hier, die so denken und fühlen und das für alle hörbar zum Ausdruck bringen wollen; andere sind nicht hier, weil sie auch jetzt zur Stunde anpacken und helfen an einer Stelle, an der sie gebraucht werden. Ich danke allen sehr herzlich. Ohne Sie, Ihren Einsatz und Ihr Bekenntnis zur Hilfsbereitschaft ginge es nicht.

Das übrigens ist patriotisches Handeln. Im Vorfeld der für heute angemeldeten Demonstration ist versucht worden, dem Begriff eine falsche Bedeutung zu geben. Patriotismus ist gut, er bedeutet, sich als Bürgerin und Bürger für das Gemeinwohl zu engagieren. Er bedeutet nicht, sich aggressiv und herabwürdigend gegen andere abzugrenzen, Flüchtlinge und Zuwanderer auszugrenzen, sich fremdenfeindlich und nationalistisch zu verhalten. Sondern: Gegenseitige Hilfe und Solidarität, die machen unsere Gesellschaft stark.

Groß ist die Aufgabe, kein Zweifel, vor der Hamburg steht – wie ganz Deutschland, wie ganz Europa. Fast 20.000 Flüchtlinge, die an einem einzigen Wochenende allein über Ungarn in Deutschland angekommen sind; vielleicht 40.000 an diesem Wochenende. Das ist eine Situation, die uns Fragen stellen lässt, die uns herausfordert. Und doch: wenn auf dem Budapester Bahnhof verzweifelte Flüchtlinge Deutschland rufen, Germany, Germany, dann bleibt keiner von uns unberührt. Wenn im Internet, in den sozialen Netzwerken, in den Nachrichtensendungen der Fernsehsender in aller Welt gezeigt wird, wie in den Bahnhöfen Deutschlands Flüchtlinge mit Beifall empfangen werden, dann dürfen wir ein wenig glücklich sein über unser Land. Unser Land, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so viel Unheil angerichtet hat und das sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts von einer ganz anderen Seite zeigt.

Migration und Zuwanderung gehören zur Geschichte Hamburgs.
Hamburg hat z.B. nach dem Krieg, in Zeiten von Hunger, Arbeitslosigkeit und vollständiger Entkräftung 275.000 Heimatvertriebene und Flüchtlinge aufgenommen. In der Stadt gab es damals keine 300.000 Wohnungen, die Hälfte der einstigen Wohnungen waren zerstört. 1,7 Millionen Menschen lebten im zerstörten Hamburg.

Und Hamburg hat es doch geschafft. Sie kennen die Bilder von den Baustellen und den Nissenhütten. Wir sehen sie heute als Symbole einer Zeit des beispiellosen Aufbaus, der Eingliederung und der Hoffnung.

Aufbau, Eingliederung und Hoffnung, das sind drei Faktoren, die für das Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre eine entscheidende Rolle spielten. Viele von Ihnen, die heute hier auf dem Rathausmarkt stehen, haben diese Zeit erlebt, haben vielleicht selbst Eltern oder Großeltern, die fliehen mussten.

Die Aufgabe heute klingt deshalb ähnlich und ist doch anders: Eingliederung wird ein langer Weg. Er beginnt mit Sprachkursen und Integration in Schulen. Es geht weiter mit der Integration in den Arbeitsmarkt und in das soziale Umfeld. Die Frauen und Männer, die zu uns kommen, sprechen andere Sprachen, kommen aus anderen Traditionen und haben andere Wurzeln. Es wird Probleme geben. Und Konflikte. Und die Herausforderung, der wir uns stellen, darf nicht klein geredet werden. Das hilft niemandem; schon gar nicht den Flüchtlingen. Unterkünfte müssen schnell geschaffen werden und werden lange das Stadtbild prägen. Wir müssen Kitas und Schulen ausbauen und noch mehr Wohnungen errichten. Wir brauchen Wachstum und Arbeitsplätze. Und die öffentlichen Finanzen werden in ungeplanter und nicht gekannter Höhe in Anspruch genommen. Und weil wir die Größe der Herausforderung genau kennen und nicht unterschätzen, können wir doch sagen: wir kriegen das hin!

Ja, wir werden Unterstützung leisten – und gleichzeitig werden wir Anforderungen stellen: Die demokratische, säkulare und tolerante Gesellschaft, die die Flüchtlinge freundlich aufnimmt, wird sich verändern, aber sie wird auch weiterhin demokratisch, säkular und tolerant sein!

Wir werden darauf bestehen, dass nicht nur Nahrung und Hilfsangebote, sondern auch unsere Werte weiter gegeben werden. Werte von Leistung und Zuverlässigkeit, die unsere Arbeitswelt prägen, freiheitliche Werte, von Selbstbestimmung und Respekt, die den Umgang mit Religion und Sexualität bestimmen und politische Werte der Partizipation und Anerkennung von Opposition.

Meine Damen und Herren,
Deutschland und Hamburg haben aus bitteren Erfahrungen mit Gewalt und Extremismus gelernt. Wir sind Demokraten. Als Demokraten schenken wir denen, die Gewalt und Hass verbreiten, nicht unsere Angst. Wir wollen sie nicht größer machen als sie sind. Sie werden nicht zerstören, was unser Miteinander ausmacht: den Respekt vor der Würde der Menschen.

Weit jenseits unserer Werte- und unserer Rechtsordnung stehen diejenigen, die Flüchtlingsunterkünfte anzünden und Menschen bedrohen, womöglich gewalttätig angreifen. Weit jenseits von demokratischen Werten stehen auch alle, die Argumente durch Ressentiments ersetzen und die Gesellschaft spalten, statt zu erkennen, dass das Gegenteil gefragt ist: zusammenhalten.

Und ich bin froh, dass in Deutschland eine so deutliche Mehrheit die öffentliche Diskussion bestimmt, die für den Zusammenhalt steht. Und dabei können wir uns auf engagierte Medien, die kontrovers, investigativ und an Fakten orientiert arbeiten, verlassen; Medien, denen es gelingt, ein so hoch emotional besetztes Thema zu strukturieren und die Gefühle trotzdem zuzulassen.

Wir stehen für eine Stadt, die von ihrer Vielfalt und ihrer Weltoffenheit lebt. So sagt es der Aufruf zu dieser Kundgebung, den ein großes Bündnis unterschrieben hat. Und ich füge hinzu: In ganz Deutschland erkennen wir immer klarer, dass die Welt so oder so näher zusammenrückt und dass es gut ist, diese Entwicklung zu gestalten.

Klar ist auch, dass Fortschritte im Kampf gegen Fluchtursachen erzielt werden müssen, auch wenn diese Ursachen komplex und in vielen Fällen der Einfluss Europas gering ist. Mehr Hilfe für die Nachbarländer der Krisengebiete wäre ein Schritt, überhaupt Krisenbewältigung und -prävention. Entwicklungspolitik hat seit jeher ihre Grenzen dort, wo kaum Staatlichkeit besteht, schon gar nicht demokratisch legitimierte, und wo institutionelle Strukturen und die Möglichkeit friedlicher Konfliktlösung stabilisiert oder erst geschaffen werden müssen.

Die vielen Flüchtlinge sind eine gemeinsame Sache Europas. Alle Länder Europas müssen zusammen handeln. Und es ist gut, dass darüber jetzt geredet oder genauer – gestritten – wird. Unsere gemeinsamen Überzeugungen sind ja nicht schon immer da. Sie sind in der offenen Gesellschaft das Ergebnis eines Ringens um den richtigen Standpunkt. Unser Standpunkt ist klar: alle Länder müssen Flüchtlinge aufnehmen. Nicht nur einige wenige.

Hamburg wird einen eigenen Beitrag leisten. Wir konzentrieren – wie das ganze Land – unsere Hilfe auf diejenigen, die zu uns kommen und Schutz vor Verfolgung und Krieg suchen. Wir werden die Herausforderung annehmen und beispielhaft Lösungen finden. Das betrifft aktuell zu allererst die Unterbringung, und zwar die Erstaufnahme und die Folgeunterbringung. Viele Unterkünfte sind durch vereinte Anstrengungen schon geschaffen worden, darunter etliche Zeltdörfer, die hoffentlich nur eine vorübergehende Lösung und keine für die Wintermonate sein werden. Wir werden mit Provisorien leben müssen, das geht gar nicht anders. Weder hier noch sonst wo auf der Welt. Und doch: Wir werden stolz sein können, dass wir uns kümmern, dass wir nicht nachlassen, unsere Kräfte zu bündeln, und gemeinsam anzupacken.

Die Behörden dieser Stadt, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten in diesen Tagen Großes und die Zustimmung und Mithilfe der Hamburgerinnen und Hamburger ist ebenfalls groß, fast an allen Standorten gibt es Unterstützerinitiativen. Ich bitte alle, darin nicht nachzulassen. Und vor allem: Danke!

Ich danke auch für die Initiativen der Handelskammer und der Handwerkskammer, überhaupt der hamburgischen Wirtschaft und vieler einzelner Betriebe. Denn der entscheidende Schlüssel zur Integration besteht in schnellerer und besserer Ausbildung und darin, dass so viele wie möglich in eine berufliche Tätigkeit vermittelt werden.

Hamburg hat seinerseits sein neues Projekt „Work and Integration for Refugees“ vorgestellt, kurz „WIR“. Wir, ein gutes Wort! Es geht darum, vorhandene Qualifikationen abzufragen, alle Personen im erwerbsfähigen Alter zu registrieren und diejenigen mit einer guten Bleibeperspektive in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das heißt unter anderem, die ungefähr 15.000 offenen Stellen für sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten, die es in Hamburg gibt, zu besetzen, wovon alle Seiten etwas haben. Und natürlich ist auch hier das Deutschlernen das A und O. Hamburg wird seine guten Erfahrungen mit der Jugendberufsagentur nutzen.

Meine Damen und Herren,
„Gestern bin ich mit dem Zug aus München, gemeinsam mit hunderten Flüchtlingen gekommen“, das sind die Geschichten die sich Hamburgerinnen und Hamburger heute erzählen. Sie sehen kleine Jungs, die vielleicht aus Syrien kommen und mit kleinen deutschen Fahnen winken, Sie können Geschichte, die gerade passiert, hier erleben: Auf dem Hauptbahnhof, in ihrem Viertel. Sie haben die Chance, der Geschichte Deutschlands ein neues, gutes Kapitel hinzuzufügen.

Es ist eine logistische Herausforderung, es ist eine gigantische finanzielle Herausforderung. Aber all das ist zu schaffen, wenn Sie alle weiter mitmachen.
Deutschland hat sich verändert. Durch Sie.

Meine Damen und Herren,
gleich um 12 Uhr wollen alle Radiosender Hamburgs ein berühmtes Lied spielen, um an den alten und immer neuen Traum zu erinnern:

„Imagine all the people / Living life in peace“

von John Lennon, dem Engländer und vorübergehend Hamburger, dem dieser Traum, diese Erkenntnis, dass wir alle zusammengehören, nicht in die Wiege gelegt wurde. Er hat sich durch trial and error zu dieser Erkenntnis durchkämpfen müssen, und er ist für sie eingestanden, auch gegen mancherlei Hohn, Spott und Anfeindung. Wir alle sollten nicht davor zurückscheuen, uns ständig weiter zu entwickeln, als Einzelne und als Gesellschaft, und dafür einzustehen, dass wir alle zusammengehören und dass wir gerade für die Platz haben, die unsere Hilfe brauchen.

Ich danke Ihnen.

Es gilt das gesprochene Wort.