Die Marktlücke „Resigniert, pessimistisch und miesepetrig“ ist in Deutschland schon perfekt besetzt. Und das ist gut so. Dann kann die SPD sich auf das konzentrieren, was sie am besten kann: Das soziale, weltoffene, moderne Deutschland. *
Ich würde gerne 150 Jahre alt werden. Nicht, weil ich mich für unersetzlich halte, sondern weil die Welt so unglaublich spannend ist, dass ich unbedingt sehen möchte, wie das weitergeht. Vor ein paar Jahren, so mit vierzig, sah ich das noch anders und dachte: Na gut, was soll jetzt noch kommen? Reiten wir den Gaul eben noch ein paar Jahrzehnte ins Abendrot. Und dann kam plötzlich alles auf einmal. Ein schwarzer Präsident in den USA, Revolutionen und Konterrevolutionen im arabischen Frühling, rückwärts-landende Raketen, der Durchbruch bei den Elektroautos (leider nicht bei uns, dank der Penner mit den Superboni), die Energiewende, technologische Fortschritte und geradezu unvorstellbare medizinische Durchbrüche (etwa bei HIV), Facebook, Twitter, die Flüchtlingswelle und eine deutsche Bevölkerung so menschlich und hilfsbereit, wie ich sie mir nicht hätte erträumen können. In Deutschland, aber auch andernorts wird an der inklusiven Gesellschaft gearbeitet, die Menschen mit Behinderung nicht mehr ausgrenzt, sondern mitten im Leben am Lernen, Lieben, Arbeiten teilhaben lässt. Zahlreiche menschenschindende Arbeitsplätze werden durch neue, gesundheitlich weniger belastende ersetzt, die Arbeitslosigkeit sinkt immer weiter und die Zufriedenheit mit der persönlichen Situation erreicht in Deutschland neue Rekordwerte. Patchworkfamilien gehören zum Alltag wie schwule oder lesbische Paare und selbst verheiratete Heterosexuelle können unbehelligt ihr Leben fristen. Der Alltag in diesem Land war noch nie so international, weltoffen und aufgeschlossen wie heute.
Nach vielen Studien, darunter auch der OECD, sind langfristig gerade jene Gesellschaften am lebenswertesten und erfolgreichsten, in denen sozialer Zusammenhalt, demokratische Teilhabe, Meinungsfreiheit und ein verlässlicher Rechtsstaat stabil und dauerhaft verankert sind. Und wer hätte vor 50, 40 oder auch 30 Jahren darauf gewettet, dass Deutschland heute weltweit zu den wenigen Ländern gehört, die Sehnsuchtsorte für so viele Menschen auf der Welt geworden sind?
Ich nicht unbedingt. Denn nichts davon ist in Deutschland selbstverständlich. Keine Demokratie, keine Meinungsfreiheit, kein sozialer Zusammenhalt und schon gar kein verlässlicher Rechtsstaat. Es war ein hartes Stück Arbeit, das moderne Deutschland zu schaffen. Und es wird ein hartes Stück Arbeit sein, das moderne Deutschland zu erhalten, auszubauen, besser zu machen, jeden Tag.
Erwerbsbiographien verändern sich rasend schnell. Junge Leute wechseln zwischen Selbständigkeit, einem angestellten Verhältnis und dann wieder einer freiberuflichen Tätigkeit. Nicht (nur), weil sie müssen – sondern viele auch, weil sie wollen. In jedem Fall brauchen wir jetzt schnell einen modernen Staat, der dafür sorgt, dass unsere sozialen Sicherungssysteme – darunter auch die Rente – mit dieser Entwicklung Schritt halten können.
Die digitale Infrastruktur wird entscheidend für die Zukunftschancen von Städten und Regionen – ach was – Ländern und Kontinenten sein. So wie Sigmar Gabriel es treffend formulierte: Wir brauchen das schnellste Internet vor allem dort, wo es zur Zeit die geringsten Aufstiegschancen gibt. In den Stadtteilen oder Landstrichen, in denen neue Chancen geschaffen werden müssen. Und in den Schulen, in denen die Kinder nicht von zu Hause aus schon den Mac in den Ranzen gesteckt bekommen.
Die alternde Gesellschaft wird auch noch ein großer Spaß. Denn die meisten von uns werden nicht dement, sondern vor allem furchtbar gelangweilt vor der Herausforderung stehen, die 20 + x Jahre zwischen dem Rentenanfang und dem Lebensende rumzukriegen. Sex alleine kann es ja nicht sein. Also: Wie gestalten wir unsere Städte und unser Zusammenleben dann? Wird, wie Minister Mike Groschek aus NRW das formuliert, die Nachbarschaft zur neuen Familie? Wenn die Kinder, wie so häufig schon der Fall, eben nicht mehr vor Ort sein können? Brauchen wir, wie Ministerpräsidentin Malu Dreyer es schon vorlebt, sehr viel mehr moderne Wohnkonzepte? In jedem Fall müssen wir uns dringend der Frage eines erfüllenden und langen Lebens im Alter stellen. Sonst bekommen besonders die alten Männer schlechte Laune und wählen peinlichen Unfug. Früher half da noch eine Modelleisenbahn, aber ich fürchte, so einfach ist das heute nicht mehr.
Und dann gibt es noch ganz viele Fragen rund um die Kinderförderung zu klären. Dafür arbeitet Manuela Schwesig in ihrem Ministerium schon sehr konkret an neuen Modellen. Es ist doch in unserer Gesellschaft schon längst selbstverständlich, dass das Kindeswohl von Liebe, Zuneigung und Förderung durch die Bezugspersonen abhängt und nicht davon, wer mit wem verheiratet ist oder nicht. Da trifft man doch überall nur auf offene Ohren, außer vielleicht bei den Superhardlinern in CDU/CSU. Also anpacken, bitte.
Der ganze Themenkomplex Arbeiten 4.0 ist ein zentrales und enorm spannendes Thema, das übrigens Andrea Nahles mit einem sehr offenen und transparenten Prozess begleitet. (Und wer jetzt sagt: Kenn ich nicht! Dem sag ich: Dann geh halt auf die Website). Es weiß doch auch heute schon jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer, dass die Welt sich in geradezu atemberaubendem Tempo dreht und nahezu jede Arbeit von der digitalen, globalen oder mindestens europäischen Entwicklung tangiert wird. Meistens übrigens sehr positiv. Also keine Angst davor. Nicht den zum Teil schlimmen Arbeitsplätzen der Vergangenheit und Gegenwart nachtrauern und das Gestern verteidigen. Nicht wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen, sondern die Zukunft der Arbeit gestalten. Die große Herausforderung ist es, dieses soziale Deutschland zukunftssicher zu machen.
Ein wichtiger Indikator für eine erfolgreiche und zufriedene Gesellschaft ist natürlich auch der Wunsch, dass es gerecht zugeht. Nicht nur rechtstaatlich – da sind wir ja ziemlich gut – sondern auch bezüglich einer nachvollziehbaren Verteilung von Leistung, Wohlstand und Rendite. Da sieht es schon nicht mehr so gut aus. So ziemlich niemand mit klarem Verstand fordert ja eine gleiche, leistungsunabhängige Verteilung – aber eben eine nachvollziehbare. Die gerät nicht nur bei den Managergehältern immer mal wieder aus dem Lot, sondern auch bei der langfristigen Verteilung und Anhäufung von Wohlstand. Das ist ein Thema, das uns nicht loslassen wird und zu dem ich mir ein paar originellere Antworten als die bestehenden vorstellen kann.
2015 ist für mich das Jahr, in dem ich endgültig mein etwas angestaubtes Deutschlandbild korrigieren musste. Für andere war es das Sommermärchen 2006, für mich ist es das Willkommenswunder 2015. Der hilfsbereite, bis heute andauernde, unschätzbare Einsatz von Hunderttausenden, die Spendenbereitschaft von Millionen Deutschen zeigt eine Zivilgesellschaft, wie ich sie mir kaum hätte vorstellen können. Wie erhalten wir diese positive Energie? Wie entstehen auch im Integrationsprozess neue Chancen für unsere Gesellschaft – und auch neue Arbeitsplätze? Wie lenken wir auch Finanzmittel stabiler und berechenbarer in die sozialen Berufsfelder? Damit dort auch bei den Beschäftigten Sicherheiten entstehen können, die heute leider oft fehlen. Ein Thema von dem ich weiß, dass es besonders Hannelore Kraft umtreibt.
Von vielen unterschätzt in Zeiten der internationalen Migration ist auch die Binnenmigration in Deutschland. Also der Boom von Metropolen wie Berlin, München, Hamburg, Düsseldorf, Köln etc. Und die damit verbundene Abwanderung, Überalterung und auch der Preisverfall im ländlichen Raum. Das sorgt für Herausforderungen wie Preissteigerungen und Wohnungsknappheit in den Städten. Instrumente wie die Mietpreisbremse oder auch die Rückumwandlung von Ferienwohnungen in Mietwohnungen, wie Michael Müller sie in Berlin vorantreibt, sind eine Lösung. Neue Chancen für ländliche Regionen, wie Malu Dreyer sie ausbaut, sind aber ebenfalls erforderlich, damit junge Leute dort eine Zukunft sehen. Denn die Chancen der digitalen Welt von überall aus nutzen zu können, sind auch neue Chancen für ein gutes Leben und Arbeiten auf dem Land, das sich doch so viele wünschen.
Gerne würde ich 150 Jahre alt werden, um diese Entwicklung immer weiter begleiten zu können. Das wird mir nicht vergönnt sein. Im Gegensatz zu meiner Partei, für die schon seit 150 Jahren die Zukunft keine Bedrohung ist, sondern eine große Chance, die man anpacken und gestalten will. Das klappt nicht jeden Tag gleich gut, manchmal geht auch was daneben, aber auf lange Sicht ist das moderne – an so vielen Stellen sozialdemokratisch geprägte – Deutschland eine großartige Erfolgsgeschichte. Im internationalen Vergleich sogar eine richtige Sensation. Um die SPD muss man sich daher nicht sorgen, wenn sie so neugierig, optimistisch und zukunftsgewandt bleibt, wie die ersten 150 Jahre.
Wer in der Zukunft nur eine Bedrohung sieht, wird im Gestern sterben. Wer die Zukunft als Chance betrachtet, wird sie gestalten wollen. Und das hält ewig jung, wach im Kopf und wirkt außerdem noch ansteckend attraktiv. Die Arbeit für das beste Deutschland aller Zeiten wird jedenfalls niemals ausgehen. Und mir fällt keine Organisation ein, die für diese Aufgabe in ihrem ganzen gesellschaftlichen Umfang besser vorbereitet wäre, als die SPD. Daher jetzt bitte den Vorwärtsgang einlegen und los geht’s. Das beste Deutschland liegt noch vor uns.
* Dieser Beitrag erscheint in leicht modifizierter Form auf ZEIT ONLINE in der Serie „Meine Idee für die Sozialdemokratie.“