München, heiter, 56,7% für Dieter Reiter.

Die Wahl in München zeigt einmal mehr: Ein Wahlkampf muss der stillen Mehrheit gefallen – nicht den professionellen Beobachtern.

Dieter Reiter wurde am 30. März mit gut 57% der abgegebenen Stimmen zum neuen Oberbürgermeister der drittgrößten Stadt Deutschlands gewählt. Mein Team und ich freuen uns natürlich ein Loch in den Bauch, dass BUTTER. damit das „Metropolen Triple“ von Deutschlands größten Städten geschafft hat und wir die Wahlkämpfe von Olaf Scholz in Hamburg, Klaus Wowereit in Berlin und jetzt auch von Dieter Reiter in München begleiten durften. Alle drei Wahlkämpfe waren keine Spaziergänge – so auch München nicht. Alle drei Resultate sind zuallererst die persönlichen Erfolge der Kandidaten, die es vermochten, zur rechten Zeit mit ihrer Persönlichkeit das richtige Angebot an die Wählerinnen und Wähler ihrer Heimatstädte zu machen. Zu Hamburg und Berlin habe ich ausführlich in meinem Buch geschrieben – daher jetzt ein paar Worte mehr zu München.

Ausgangslage: Die Legende von der SPD-Hochburg München.

Für Außenstehende mag der Fall zunächst einmal klar sein: „München, das war doch schon immer eine SPD Hochburg“. Tja, kann man so sehen, stimmt aber nur bedingt. München ist zwar eine „gefühlte Hochburg“ der SPD – aber falls sie es jemals wirklich war, ist sie es schon ein gutes Jahrzehnt lang nicht mehr.

Bei der Landtagswahl 2008 erreichte die SPD in München 27,4 %
Bei der Bundestagswahl 2009 kam die SPD in München auf 19,3%
Bei der Landtagswahl 2013 mit OB Christian Ude als Spitzenkandidat für das Amt des Ministerpräsidenten kam die SPD in München auf 34,2 %
Bei der Bundestagswahl vier Wochen später, im September 2013 auf 23,9%

Es mag ja sein, dass die SPD bei den Kommunalwahlen 2008 vergleichsweise stark abschnitt, aber noch nicht einmal bei dieser dritten erfolgreichen Wahl von Christian Ude im Jahr 2008 mit 66,8% (+5,6%) der Stimmen bei der OB-Direktwahl, konnte die SPD von einem Mitnahmeeffekt profitieren. Im Gegenteil.  Die SPD kam auf 39,8%  – ein Minus von 2,2% im Vergleich zu den 41,9% im Jahre 2002. Der Unterschied von Partei und Kandidat betrug 27%.

Die Ausgangslage für einen neuen und auch völlig unbekannten Kandidaten in München war also alles andere als einfach – zumal die CSU bei der gerade einmal ein halbes Jahr zurückliegenden Landtagswahl im Land die absolute Mehrheit erreichen konnte und auch in München mit 36,6% vor der SPD gelandet war. Die Münchnerinnen und Münchner wissen also sehr wohl, wie man CSU wählt. Bei der Bundestagswahl 2013 taten sie dies mit 37,8% – mit fast 14% Vorsprung vor der SPD. Kurzum: Eine Hochburg sieht anders aus.

Erfolg oder Misserfolg einer Kampagne misst sich – das muss man leider auch immer wieder aufs Neue betonen – nicht im Vergleich zu Wahlergebnissen von vor 4-5 oder gar 6 Jahren. Erfolg oder Misserfolg einer Kampagne misst sich am Verlauf des Wahlkampfes selbst – also über einen Zeitraum von maximal 12-15 Monaten vor dem Wahltag. Für München liegen uns in dem betreffenden Zeitraum nur vier einigermaßen professionell erhobene Umfragen vor. Davon jeweils zwei der CSU (Emnid) und zwei der SPD (mifm). Umfragen von unabhängigen Auftraggebern gab es keine – ich vermute mal, weil die Medien die Kosten scheuten.

Zur Einordnung der Umfragen und des Wahlergebnisses sei noch auf den Wahlmodus hingewiesen: Im ersten Wahlgang wird in München der Stadtrat gewählt und außerdem in einer Direktwahl der Oberbürgermeister. Erreicht keiner der Kandidaten für den Oberbürgermeister mehr als 50% findet eine Stichwahl der beiden Erstplatzierten 14 Tage später statt. Das bedeutet auch, dass der OB dann natürlich mit dem im ersten Wahlgang gewählten Stadtrat zusammenarbeiten muss – welche Mehrheiten sich dort auch immer ergeben.

Nach der mifm Umfrage vom April 2013 lag Dieter Reiter bezüglich seiner Bekanntheit auf Platz 3 hinter Josef Schmid (CSU) und Sabine Nallinger (Grüne).

Eine Emnid-Umfrage vom Juni 2013 sah Dieter Reiter bei 28% hinter Schmid mit 30%.

Die Münchner „tz“ schrieb dazu neun Monate vor der Wahl :Ganz sicher aber kann Schmid die Sensation schaffen, im ersten Wahlgang die meisten Stimmen zu holen.“ Und SPIEGEL-Online zählte noch im Januar 2014 Josef Schmid zu den heißesten Kandidaten für das neue Jahr.

Es kam anders. Aber wie man schon erkennt: Einfach ist was anderes.

Josef Schmid: CSU Kandidat mit Medienhype.

Josef Schmid und sein Team fuhren eine erfolgreiche Kampagne der „Metropolisierung“ ihres Kandidaten. Ob er sich auf Schwulenparaden zeigte oder sich gegen dumpfe CSU-Ausländerparolen wandte – Schmid hatte richtiger Weise erkannt, dass er mit klassischen CSU-Sprüchen keine Chance in der „Weltstadt mit Herz“ haben würde. Die Distanzierung von CSU Hardlinern und die moderne Inszenierung seiner Kampagne sollten der SPD vor allem eines nehmen: eine mobilisierende Wirkung. Denn gegen so einen Softie-Konservativen lässt sich schwerer Stimmung machen als, sagen wir einmal, gegen Peter Gauweiler.

Eine harte Angriffstaktik der SPD hätte nicht verfangen können, da Schmid schon seit Jahren an diesem neuen Imageprofil arbeitete und daher eine gewissen Glaubwürdigkeit erlangt hatte. Eine Polarisierungs- und Angriffstaktik muss jedoch auf fruchtbaren Boden fallen, sonst wirkt sie lächerlich oder gar verbissen.

Hätte die Reiter-Kampagne um der Polarisierung willen Schmid härter attackiert, wären die Sympathiepunkte von Dieter Reiter ganz schnell ins Negative umgeschlagen. Dieter Reiter war im Vergleich zu Schmid der neue und noch wenig profilierte Kandidat. Eine aggressive Kampagne hätte ihn viel mehr beschädigt als seinen Gegenkandidaten, denn „you never get a second chance to make a first impression.“ Mal ganz abgesehen davon, dass Reiter ein so fröhlicher Mensch ist, dass eine negative Kampagne gegen den Herausforderer gar nicht machbar gewesen wäre.

Schmid und sein Team setzten außerdem auf eine recht jugendlich angelegte Taktik, die den „Frischen Wind für München“ transportieren und neue Schichten ansprechen sollte. Man verfolgte von Anfang an einen jungen, für CSU-Verhältnisse sogar „hippen“ und innovativen Wahlkampf. Damit konnte sie eine Scharte bei den Erstwählern gut auswetzen und auch medial wurde die Kampagne positiv rezipiert. Ästhetisch war alles sehr ansprechend und modern gestaltet, wenn man von ein paar Ausreißern wie einem peinlichen Rap-Video mit schunkelnden Junge-Union-BWL-Studenten einmal absieht.

Natürlich verlief auch diese Kampagne nicht linear. Die Schmid-Kampagne litt unter angekündigten Mittelkürzungen für München durch die CSU Landesregierung, einem angekündigten Lehrerstellenabbau und dem üblichen CSU-Macho-Gepoltere, das nicht nach München passt. Zusammenfassend sei aber gesagt: Schmid und die CSU machten leider einen ziemlich guten Wahlkampf, was nach seinem Desaster von vor 6 Jahren nicht zu erwarten war. Aber gut. Der Grad der Professionalität steigt überall. Vor allem aber gelang es ihm, in einem Land, das seit jeher von der CSU regiert wird, so etwas wie Aufbruchstimmung ausgerechnet durch die CSU zu erzeugen. Unterstützt wurde er darin von den regionalen Medien, die vor allem ein offenes Rennen wollten. Das ist eben spannender als alles andere.

Sabine Nallinger.

Auch die Kampagne von Sabine Nallinger, der Kandidatin der Grünen, war professionell angelegt und unter dem Strich auch erfolgreich. Ganz zu Beginn hatte man im Grünen Lager wohl noch davon geträumt, in die Stichwahl zu kommen. Diese Träume waren aber spätestens nach der für die Grünen schlecht gelaufenen Bundestagswahl 2013 ausgeträumt. Mit einer frischen und ebenfalls ästhetisch ansprechenden Kampagne etablierte sich Frau Nallinger als „natürliche Nummer 3“, die im Gegensatz zum Kandidaten der FDP auch eine echte Berechtigung hatte, mit auf den unzähligen Podien zu sitzen.

Am Ende gilt aber was besonders in den Städten eben gilt: Die Wählerschaft von SPD und Grünen sieht sich immer noch viel stärker als Verbündete an, als die Funktionäre der Parteien. So war die Formel: „Je stärker die Nallinger, desto schwächer der Reiter“ nicht von der Hand zu weisen und stellte die Reiter-Kampagne vor ein weiteres Problem: Sollte es am Ende auch nur für einen kleinen Vorsprung von Josef Schmid im ersten Wahlgang reichen, könnte dies ein Momentum auslösen, das am Ende alles in Rutschen bringen könnte. Das Ziel musste also in jedem Fall heißen: Nr 1 im ersten Wahlgang – und sei es noch so knapp.

Dieter Reiter: Das Dilemma des Neuen vs. dem Beständigen.

Im Gegensatz zu Christian Ude 1993 (!) trat Dieter Reiter bei seinem ersten Wahlkampf nicht mit einem Amtsbonus an. Ude hatte das Zepter ja schon zuvor überreicht bekommen, Reiter musste es sich in einem parteiinternen Vorwahlkampf erkämpfen. Er und seine Kampagne mussten daher den Balanceakt hinbekommen, sich einerseits von bestehenden Problemen zu distanzieren  – andererseits aber weder Amtsinhaber noch Fraktion zu beschädigen.

Die Reiter-Kampagne litt unter dem Symbolthema „Mietanstieg“, einigen provokanten Leerständen und offenbaren Verwaltungsmängeln über die Jahre. Diese Altlasten – die eigentlich immer anfallen – drückten natürlich auf die Zustimmung zur SPD.

Das ist aber das ewige Dilemma einer Regierungspartei:
Sie kann nie einen neuen Aufbruch glaubwürdig versprechen.
Das einzig Neue an der SPD war ihr Kandidat.
Deshalb musste alles auf ihn gesetzt werden:
Auf seine Bekanntheit.
Auf seine Beliebtheit.
Auf seine Hemdsärmligkeit.

Dieter Reiter war auch deshalb der stärkst mögliche Kandidat der SPD, weil er gerade kein Berufspolitiker ist (war), sondern ein frischer, herzlicher, anpackender Mann, der noch was will – und zwar vor allem für die Stadt und nicht für sich.

Dieter Reiter war also der Neue, der mit dem Slogan „Damit München München bleibt“ den Menschen die Sorge vor einem zu radikalen Wechsel nahm. Denn trotz allem medialen Gepoltere: Die Münchnerinnen und Münchner wollen in ihrer Mehrheit, dass München München bleibt. Erfolgreich und sozial. Denn die große Mehrheit fühlt sich sehr wohl. Journalisten und Oppositionspolitiker werden dafür bezahlt, Probleme zu thematisieren. Wahlkampfberater werden dafür bezahlt, Wahlen zu gewinnen. Das deckt sich nur selten.

Die Kampagne durfte sich daher nie darum drehen, wer der bessere „Reformer“ in der Stadt sei. Bei einer solchen Fragestellung kann nur die Opposition gewinnen. Die Wahl sollte sich um Kontinuität und Sicherheit mit einem neuen OB drehen. Und darüber wurde am Ende auch abgestimmt. Das bedeutet aber nicht, dass Reiter die Probleme nicht sieht oder nicht anpacken will. Im Gegenteil. Er wird sich diesen Problemen mit ganzer Kraft widmen. Sie durften nur nicht zum zentralen Entscheidungskriterium dieses Wahlgangs werden.

Auf seiner programmatischen Rede kündigte Reiter daher noch im November 2013 an, sich aktuellen Problemen wie den städtischen Krankenhäusern oder auch dem hinterherhinkenden Kita- und Schulausbau anzunehmen. Etwa 100 Tage vor der Wahl legte er im Dezember außerdem sein 100-Tage Programm vor, das auch deutlich vorhandene Defizite ansprach und Lösungen beinhaltete. Beides nahm den Angriffen der CSU den Wind aus den Segeln und der Kandidat setzte programmatische Schwerpunkte in sicherer Entfernung zum Wahltag. Kurzum: Die Probleme wurden frühzeitig adressiert, um sie am Ende aus dem eigentlichen Wahlkampf herauszuhalten.

Für den oberflächlichen Betrachter führte dieses gegenseitige Abschleifen von Problemfeldern zu einer zunehmenden Verwischung der Kandidatenprofile. Dem oberflächlichen Betrachter sei daher attestiert: Gut beobachtet! Dies war aber von beiden Kampagnen eindeutig so gewollt.

Es gab für die SPD oder ihren Kandidaten zu keinem Zeitpunkt eine Option, sich auf Kosten des Amtsinhabers oder der Regierungskoalition zu profilieren. Dies hätte den eindeutigen Untergang bedeutet, da ein Streit innerhalb der SPD oder des Rot/Grünen Lagers die Wähler so kurz vor einer Wahl in die Arme des Gegenkandidaten oder zur Wahlenthaltung getrieben hätte.

Denn die Wählerinnen und Wähler der SPD sind nach wie vor sehr leicht zu irritieren und eine SPD, die auf Bundesebene immer noch um die 24-26% notiert, ist alles andere als gesund.

Die doppelte Abrüstung – von Schmid in Richtung Reiter und von Reiter in Richtung Schmid – war für beide die einzige Option in diesem Wahlkampf. Die Frage war nur, ob beide Kampagnen die Nerven behalten würden, dies durchzuziehen.

Sie taten es. Und öffneten damit natürlich den Raum für kleinere Parteien, die Grünen und auch zu einer geringeren Wahlbeteiligung. Doch wie man es auch dreht und wendet: für beide Kampagnen gab es keine Alternative zu dieser Taktik, denn am Ende will man eben gewinnen und nicht mit einem allgemein gelobten Experiment scheitern.

Der erste Wahlgang

Im ersten Wahlgang, am 16. März 2013 kam Dieter Reiter in der Direktwahl bereits auf 40,4% der Stimmen Josef Schmid auf 36,7 und Sabine Nallinger auf 14,7%. Die erste Etappe war also genommen.

Bezüglich der Zusammensetzung der Fraktionen bot sich folgendes Bild:
In den beiden Umfragen vor der Kommunalwahl, lag die SPD deutlich hinter der CSU. Bei Emnid vom 7.Februar lag die SPD 8% hinter der CSU, bei mifm gut 6%. Am Wahltag selbst waren es dann 1,8%. Insofern wurde der Vorsprung der CSU im Laufe der Kampagne deutlich reduziert.

Das Ergebnis von 30,8% bei starken Verlusten für die SPD lag im oberen Mittelfeld der SPD Ergebnisse des letzten Jahrzehnts und 6,9% über dem Ergebnis der letzten Wahl in München, der Bundestagswahl im September 2013. Die CSU wurde bei moderaten Gewinnen mit einem Sitz Vorsprung stärkste Fraktion, die Grünen legten ebenfalls deutlich zu  – aber keines der klassischen Bündnisse (Schwarz/Gelb oder Rot/Grün) verfügte über eine absolute Mehrheit.

Hätte manches besser laufen können für die SPD? Ich glaube ja. Hamilton Jordan, der Wahlkampfleiter von Präsident Jimmy Carter bei dessen gescheiterter Wiederwahl 1980, wurde einmal gefragt, was er hätte anders machen können. Seine Antwort: „Ich hätte die 60 Millionen für den Wahlkampf genommen und zwei zusätzliche Helikopter für die Rettungsaktion der Geiseln aus Teheran gekauft.“ Für die Jüngeren unter uns: Die Befreiungsaktion war auch deshalb gescheitert, weil mehrere Helikopter auf dem Flug zur US-Botschaft im Iran ausgefallen waren.

Übersetzt heißt das: Ja, das Ergebnis für die SPD in München hätte besser ausfallen können, wenn sie in den Jahren zuvor einige Probleme und Symbolthemen wie Wohnungsleerstände, unsanierte Schultoiletten oder auch angeschlagene Kliniken schneller, unbürokratischer und effektiver gelöst hätte, ein paar offensichtlich drängende Verkehrsprobleme in einigen Stadteilen ernster genommen hätte und dafür auf die Beschäftigung mit esoterischen Themen wie separaten Spielplätzen für Mädchen verzichtet hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette. Solche Steilvorlagen für die Opposition darf eine Regierungspartei einfach nicht bieten. Aber im Wahlkampf ist es zu spät dafür und die Aufgabe der Kampagne ist es dann, so wenig wie möglich darüber zu sprechen.

Das Ergebnis für Dieter Reiter war da wesentlich erfreulicher. Für die OB-Wahl galt es ja zunächst einmal, die Bekanntheit des Kandidaten zu steigern. Dieter Reiter war ein völlig unbekannter Kandidat, der für die Wählerinnen und Wähler quasi vom Himmel fiel. Hingegen waren seine Gegenkandidaten etablierte Kommunalpolitiker, Josef Schmid trat als Fraktionsvorsitzender der CSU gar zum zweiten Mal an. Der Wahlkampf etablierte Dieter Reiter aus dem Stand als natürliche Nummer 1. Mit einem gelungenen Nominierungsparteitag, einer pointierten Rede und einem klar auf ihn zugeschnittenen Personenwahlkampf. Etwa 6 Wochen vor dem ersten Urnengang zeigten die Umfragen von SPD und CSU Reiter auch erstmals als Favoriten, was zur Mobilisierung der eigenen Leute beitrug und sicher auch Zweifel im Lager der CSU säte. Denn schließlich steckte den Christsozialen auch die Niederlagenserie der letzten Jahrzehnte in den Knochen. Die Kampagnenleitung entschied daher, die eigene Umfrage zu veröffentlichen, um Momentum zu erzeugen. Das Gegenargument bei solchen Entscheidungen lautet natürlich: „Wenn wir jetzt seine guten Werte veröffentlichen, werden manche nicht mehr zu Wahl gehen, weil sie denken, die Wahl sei eh schon entschieden.“ Das ist ein gutes Argument – aber in diesem Fall segelte ganz München seit Monaten ohne Umfrage durch den Wahlkampf und nicht wenige dachten, dass Schmid die Nase vorn habe. Deshalb war es wichtig, einmal die Muskeln spielen zu lassen und die CSU im Gegenzug zu zwingen, ihre eigene Umfrage zu veröffentlichen, die Reiter ebenfalls vorne sah.

In einem 12-er Kandidatenfeld kam Reiter dann aus dem Stand im ersten Wahlgang auf über 40% und erreichte damit gut 10% mehr Stimmen als seine Partei. Gemessen an dem „Ziehfaktor“ der Vergangenheit müssen wir davon ausgehen, dass er letztendlich die SPD über die 30%-Marke mitgezogen hat.

Selbst den Vergleich mit Christian Ude muss Reiter nicht scheuen. Beim letzten Münchner Wahlgang „neuer Kandidaten“, als Christian Ude 1993 zum ersten Mal gewählt wurde, errang er im ersten Wahlgang 50,2%. Allerdings aus der Position des Amtsinhabers, der zwei Jahre zuvor das Amt übernommen hatte und ohne Grünen Gegenkandidaten. Reiter ohne Grüne Gegenkandidatin wäre wohl auch schon im ersten Wahlgang gewählt worden. Und Ude hatte auch noch einen stark polarisierenden Gegenkandidaten Peter Gauweiler. Ich war nicht dabei – aber das muss ein großartiges Schlachtfest mit entsprechender Polarisierung und Wahlbeteiligung gewesen sein. Wo war ich da eigentlich? Ah – ja – an der Uni und habe Wahlkampf bei Peter Radunski (CDU) studiert. Auch spannend. Christian Ude hat in der Folge dann allerdings so gut regiert, dass die 60%-Marke für ihn keine Herausforderung mehr war – eher die bei 70%. Das ist dann die neue Herausforderung für Dieter Reiter.

Die Stichwahl.

Bei der Stichwahl kam es letztendlich darauf an, die Stimmen aus dem Rot/Grünen Lager zu gewinnen und dann die Nerven zu behalten. Josef Schmid versuchte dies recht plump mit einem direkten Job-Angebot des Postens der zweiten Bürgermeisterin an Sabine Nallinger über die Medien. Dieter Reiter verfolgte sein Ziel wie immer wesentlich hemdsärmliger, ging direkt zu den Grünen, versprach keine Jobs sondern gemeinsame Projekte, akzeptiert die neuen Kräfteverhältnisse und gewann so eine 100%-ige Unterstützung durch die Grünen und Sabine Nallinger. Dass die Grünen am Ende sogar noch für Reiter plakatierten, ließ nostalgische Gefühle an die Zeiten aufkommen, als Rot/Grün noch in der ganzen Republik harmonierte.

Und dann verlor Schmid die Nerven. Seine Kampagne begann wild um sich zu schlagen, aus dem netten Herr Schmid wurde eine ziemliche Dreckschleuder, die mit wüsten und weit hergeholten Attacken gegen Dieter Reiter und seine Familie völlig aus der Spur geriet. Da konnte auch eine eigens eingeflogene Angela Merkel zwei Tage vor dem Urnengang nichts mehr reißen. Warum man der Kanzlerin in Zeiten weltweiter Brandherde mit dieser Mission die Zeit stehlen musste, steht jetzt erst einmal auf dem Inner-Unions-Soll-Konto der CSU.

Die SPD setzte mit Dieter Reiter hingegen weiter voll auf die 50+ Generation, von der man wusste, dass sie mit großer Mehrheit ihn favorisierte und vor allem auch recht sicher zur Wahl gehen würde. Seine flotte Jugendkampagne brachte Josef Schmid ein paar nette Kommentare in den Medien und Dieter Reiter ebenso viele kritische Stimmen zu seinem Slogan „Damit München München bleibt“ . Aber wie schon so oft in der Vergangenheit war dies völlig irrelevant für den Wahlausgang. Denn Dieter Reiter, sein engagiertes Team und sein Wahlkampfleiter, der Münchner SPD Vorsitzende Hans-Ulrich Pfaffmann, behielten über die ganze Strecke die Nerven und zogen ihr Ding durch. Zu einem am Ende in dieser Dimension von niemandem erwarteten Erfolg mit einem Vorsprung von 13,4% in der Stichwahl.

Einmal mehr zeigte sich, was sich schon so oft in den letzten Jahren gezeigt hat: Wie eine Kampagne medial rezipiert wird ist relativ wurscht – es kommt am Ende darauf an, wie sie auf den Einzelnen und seine individuelle Entscheidung in der Wahlkabine wirkt. Und dort sagte sich am Ende eine große Mehrheit: „Ich will, dass München München bleibt – und dafür sorgt am besten der Dieter Reiter.“

Dieter Reiter ist ab Mai neuer Oberbürgermeister der Stadt München. Er ist einer der zupackendsten, humorvollsten und bürgernähsten Kandidaten, für die ich je arbeiten durfte. Wer mit ihm einmal durch die Straßen Münchens geht, wird spüren: Die Menschen haben am Ende den Richtigen gewählt. Denn er ist einer, der das direkte Gespräch schätzt, mit den Leuten kann, ihnen aber auch nicht nach dem Mund redet und diese erfogsverwöhnte und doch herzliche Stadt zu weiteren Erfolgen führen wird. Er wird sich mit seinem ganz eigenen Stil einreihen in die stolze Tradition sozialdemokratischer Münchner Oberbürgermeister.

Herzlichen Glückwunsch!

 

Das Europa der Memmen.

Der Europawahlkampf wird eine Veranstaltung der Memmen und Heulsusen, der Verkniffenen und Unfrohen, der Skeptiker und Zweifler sowie von einem Haufen Populisten und noch ein paar Nazis. Na großartig. Das macht ja mal richtig Lust, zur Wahl zu gehen.

Selbst wenn wir die widerlichsten Billig-Populismus-Parolen von AfD (Abzocke und Verschaukeln des deutschen Volkes etc.) und Linkspartei (militaristisch, undemokratisch, neoliberal etc.) beiseite lassen, so bleiben uns noch europa-euphorische Statements der Europa-Befürworter wie: „Europa ist eine gute Idee, aber mit Demokratiedefizit.“ „Europa ist eine gute Idee, aber Deutschland darf nicht der Zahlmeister werden.“ „Europa ist eine gute Idee, aber viel zu bürokratisch“ (im Gegensatz zu Deutschland, haha). „Europa ist eine gute Idee, aber, dass man dort den Krümmungsgrad von Gurken, Bananen, Abflussrohren festlegen will, geht zu weit.“ „Europa ist eine gute Idee, aber die Umweltstandards sind viel zu hoch/zu niedrig.“ „Europa ist eine gute Idee, aber es sind jetzt viel zu Viele dabei“ und so weiter und so fort.

Vielleicht bin ja nur ich es, aber ich würde gerne eine Partei wählen, die europa-skeptische Umfragen nicht zum Anlass nimmt, einen europa-skeptischen Wahlkampf zu führen. Ich würde gerne eine Partei wählen, die ihren Wahlkampf nicht auf kleinkarierte Bauern oder kleinkarierte Plattenbaubewohner ausrichtet. Ich würde gerne eine Partei wählen, die Umfragen nicht als Mahnung, sondern als Herausforderung begreift. Ich würde gerne eine Partei wählen, die den größten demokratischen, friedlichen, wirtschaftlichen und völkerverbindenden Erfolg in der Geschichte dieses Planeten diesen ewig missmutigen Skeptikern in ihre verzagten Hintern schiebt, aus denen ja laut Luther bekanntlich sowieso nie ein fröhlicher Furz kommen wird.

Ich möchte eine Partei wählen, die es feiert, dass Menschen aus 28 Nationen – in Worten Achtundzwanzig – in einem Staatenbund leben, der völlig zu Recht mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Ich möchte eine Partei wählen, die es feiert, dass der größte gemeinsame Markt der Welt gerade dabei ist, seine größte Krise und vielleicht sogar die größte Finanz- und Wirtschaftskrise der modernen Welt zu meistern. Und zwar so zu meistern, dass selbst Länder, die zu den jüngeren Demokratien zählen (Portugal 1974, Spanien 1977, viele Osteuropäer erst nach 1990) und eine hohe Arbeitslosigkeit zu beklagen haben, dies ohne Rückfall in undemokratische Tendenzen schaffen.

Ich möchte eine Partei wählen, die es feiert, dass Deutschland mit dem Euro und der Europäischen Union wirtschaftlich so erfolgreich ist, dass nach jüngsten Umfragen über 75% der Bevölkerung sagen, dass es ihnen persönlich wirtschaftlich „gut“ oder sogar „sehr gut“ gehe.

Ich möchte eine Partei wählen, die dem Dreher im kleinen Maschinenbaubetrieb, dem fröhlichen Taxifahrer in Berlin, der Verwaltungsangestellten bei Siemens, dem Schweißer bei Audi, der Bäuerin in der Uckermark, dem Start-Up in Leipzig und allen anderen vorrechnet, dass sie und ihre Kinder und Kindeskinder von diesem großartigen Europa profitieren.

Ich möchte eine Partei wählen, die dem dumpfen Gemecker über unsere angeblichen Transferzahlungen entgegenhält, dass wir die EU-Länder nicht nur unterstützen, weil wir so wahnsinnig gute Menschen sind, sondern weil wir ihnen unsere teuren Maschinen, unsere Audis, Daimlers, BMWs und VWs, unsere Medizintechnik, unsere Finanzdienstleistungen, unsere SAP-Programme und vieles mehr verkaufen wollen und deshalb ein großes Interesse daran haben, dass sie schnell wieder auf die Beine kommen.

Ich möchte eine Partei wählen, die den Hochnäsigen, die gerne mit dem Finger auf andere Länder zeigen und sich selbst loben, weil wir in Deutschland so mutige Reformen angepackt haben, sagt: Wir Deutschen haben den letzten Kanzler, der mutig für Reformen gesorgt hat, zum Teufel gejagt und abgewählt – so mutig waren wir. Wir haben gejammert, gezetert und geheult und die Reformen, die uns heute nutzen, wurden gegen Volkeswillen durchgesetzt – weil einer die Eier hatte, gegen den Strom zu schwimmen.

Ich möchte eine Partei wählen, die denen, die staatliche Transferleistungen für das Grundübel der Wirtschaft halten, antwortet: Als 2009 in Baden Württemberg und Bayern bei den ganzen Vorzeige-Betrieben die Bänder still standen, weil keiner mehr unsere Produkte kaufen konnte – wie haben wir das denn gemeistert? Richtig: Mit staatlicher Intervention in Form von Kurzarbeitergeld, Abwrackprämie, Konjunkturprogrammen und massiven Investitionen auf Pump. Also, all den Dingen, die wir anderen in der EU vorenthalten wollen und die am Ende niemandem mehr nützen würden als uns.

Ich möchte eine Partei wählen, die dem Vater, der seine Kinder „vor Überfremdung schützen“ will, antwortet: Vielleicht und hoffentlich sind deine Kinder eines Tages gar nicht so vernagelt wie Du Vollpfosten, sondern nutzen ihre Chance, aus Deiner jämmerlich kleinen Vorstellungswelt zu entkommen, ihr Glück zu suchen und als Ärztin in Dublin, als Monteur in Marseille, als Lehrerin in Barcelona oder als IT-Spezialist in Warschau zu arbeiten.

Ich möchte eine Partei wählen, die den Nazis und den verkappten Nazis endlich mit voller Wucht entgegentritt, die Europa feiert, die den Frieden feiert, die den Erfolg feiert, die das Miteinander feiert, die die Freiheit feiert und die vor allem einen Bund feiert, den es so in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat und es deshalb verdient, mit jeder Faser und jeden Tag aufs Neue verteidigt, gestärkt und gepriesen zu werden: Die Europäische Union. Mein wunderbares, einzigartiges, liebenswertes Europa.

PS: Gibt es diese Partei? Dann bitte ich um ihre Bewerbungsunterlagen.

The Need for Speed 2014

In den Tagen vor der Pressekonferenz von Barack Obama zu den neuen Verhaltensregeln der US-Geheimdienste wurde über die Inhalte nicht spekuliert. Nein, man wusste schon im Vorfeld zu berichten: Nichts Neues. Er sagte dann aber doch einiges Neues und manches sogar sehr konkret. Tenor: Überraschend viel Neues.

Schnitt

Die neue Familienministerin Manuela Schwesig schlägt vor, dass berufstätige Eltern in Zukunft nicht mehr als 32 Stunden pro Woche arbeiten sollten, um mehr Zeit für die Kinder zu haben. Tenor: Unabgestimmt, unbezahlbar. Schwesig scheitert mit ihrem Vorschlag. Da war der Tag noch nicht einmal zu Ende.

Schnitt

Die Bunderegierung trifft sich am 22. Januar zur Klausurtagung. Die Vereidigung war am
17. Dezember. Dazwischen lagen (inklusive der Samstage) 25 Arbeitstage. Tenor: Fehlstart. Was machen eigentlich die Unionsminister? Hält das vier Jahre?

Schnitt

Michael Schumacher liegt seit Wochen im Koma. Focus Online begleitet das mit einem „Live-Ticker.“ Und ein WELT Journalist versteigt sich noch am Tag des Unfalls in peinlichster Hobby-Fern-Psychoanalyse zu der These, dass der Mann den Tod geradezu suchte. Klar, weil er auf einem Mini-Abschnitt zwischen zwei Pisten eine Abkürzung gefahren ist. Demnach kenne ich ziemlich viele Menschen mit Todessehnsucht, einschließlich meiner Wenigkeit.

Schnitt

Ihr geht mir alle so auf den Sack.

Schnitt

Was genau wäre jetzt das Problem, eine Pressekonferenz abzuwarten, bis sie gehalten wurde? Und danach zu berichten, zu kommentieren, zu analysieren, zu loben oder zu verdammen, was dort gesagt wurde?

Warum kann man über eine 32-Stunden-Woche für Eltern nicht mal 48 Stunden nachdenken?

Muss man nicht selbst hirntot sein, um bei einem Koma-Patienten einen Live-Ticker einzurichten?

Und das waren nur ganz wenige Beispiele aus dem Jahr 2014, das den ersten Monat noch nicht hinter sich hat.

Noch schlimmer als diejenigen, die solche „News“ verzapfen, sind nur noch die, die sie kommentieren. Denn unten warten die Irren.

Man soll es ja nicht tun, jeder weiß es. Es bringt nichts. Und man sagt es sich auch jedes Mal, wenn man am Ende des Artikels angelangt ist: Jetzt nur nicht weiter nach unten scrollen. Denn dort lauern die Irren. Die Verschwörungstheoretiker, die Loser, die Gelangweilten, Homophoben, die sexuell Frustrierten und die Gescheiterten, die aber über alles nicht nur Bescheid, sondern richtig Bescheid wissen. Sie nennen sich „kampfhuhn52“, „hochimint“, „motzmaus “ oder „chaoskarl“  – und sie werden dich zu ihnen nach unten ziehen, dich zumindest zum Staunen bringen, dass so viel Irrsinn möglich ist – vor allem aber werden sie dir die Zeit stehlen, die man doch nicht hat. Ok. Vielleicht doch einmal kurz….Nein! Denn Du bist nirgends sicher. Du glaubst, bei ZEIT-Online sind sie nicht – HAHAHA – gefangen! Vor lauter Verzweiflung gehst du offline, schaltest das Deutschlandradio ein, landest in einer Call-Inn-Sendung – und da sind sie wieder. Wer hat das Fass aufgemacht, wer die gute alte „Leserbriefredaktion“ abgeschafft? Wer war der Meinung, dass Dialog und Partizipation die Lösung sind? Dort sollst du schmoren, unten bei den Irren, gemeinsam mit dem quicklebendigen Adolf, dem Geheimnis um das wahre Geschlecht Obamas, dem Mastermind hinter 9/11, dem echten Grund für Hitzlspergers Outing und natürlich auch dem Geheimnis von Lakritzbonbons. Sie wissen nicht, was Lakritzbonbons mit Ihnen machen? DAS WISSEN SIE NICHT?!!

Allen ein entspanntes 2014. Vielleicht ab Februar.