Die Stadt und die Macht.

Als ich an einem trüben Sonntagmorgen vor einigen Jahren im Abspann der großartigen US-Serie „The West Wing“ den Namen meiner ehemalige Chefin in der Clinton/Gore Kampagne, Nanda Chitre, entdeckte, wäre mir beinahe der dritte Gin-Tonic entglitten. Umso neugieriger war ich, als mich 2014 eine Anfrage des Produzententeams von „Die Stadt und die Macht“ (ARD, 12., 13. und 14. Januar, jeweils 20:15) erreichte: Ob ich mir vorstellen könne, Einblicke aus meiner Wahlkampferfahrung in die Entwicklung der Serie einzubringen.

Klar konnte und wollte ich das. Meine Beratungstätigkeit konzentrierte sich auf einen von mehreren Handlungssträngen, nämlich die Arbeit der Wahlkampfzentrale unter der Leitung von Georg Lassnitz, großartig gespielt von Martin Brambach, sowie auf das Zusammenspiel von Wahlkampfleiter und Spitzenkandidatin (nicht minder großartig: Anna Loos als Susanne Kröhmer). Meine Beratung bezog sich also auf die Kampagne und die damit verbundenen Dramen. Mit weiteren Drehbuchzutaten wie Liebe, Verwandtschaft, Sex, Korruption oder gar echter Politik etc. habe ich nichts zu tun. Von all dem verstehe ich nichts.

In „Die Stadt und die Macht“ kandidiert die recht unerfahrene Susanne Kröhmer – auch für sie selbst überraschend – für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. Eine Krise in ihrer Partei und zwei bis drei unbedachte Bemerkungen, katapultieren sie quasi von 0 auf 100 in 3 Sekunden in die Spitzenposition. Dort angekommen merkt sie rasch, dass sie ohne Hilfe nicht viel weiter kommt und holt sich zur Unterstützung eben jenen erfahrenen wie auch politisch geschmeidigen Wahlkampfleiter: Georg Lassnitz.

Natürlich hat man als Kampagnero so seine Bedenken, wie echt das am Ende in der Serie rüberkommt. Und jeder von uns kennt „Club-Dance-Szenen“ aus Tatorten, in denen Menschen wie Zombies zu Musik von Zombies tanzen und jeder Zuschauer weiß, dass niemand aus dieser Szene in den letzten 20 Jahren einen angesagten Club von innen gesehen hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Als ich am Set von „Die Stadt und die Macht“ die Wahlkampfzentrale von Susanne Kröhmer besuchte, die überquellenden Schreibtische betrachtete, das wuselige junge Team hektisch telefonierte und durch die Gänge rannte, wollte ich sofort damit beginnen, die Kampagne zu übernehmen. So echt und liebevoll war das alles eingerichtet. Leider war die Leitung des Telefons, in das ich erste Direktiven schrie, tot und  Susanne Kröhmer hatte auch schon Georg Lassnitz gebucht, dem ich das Feld überlassen musste. Er hat es gut gemacht. So viel sei verraten. Und es wird ihm in dieser Serie weiß Gott nicht leicht gemacht, eine stringente Kampagne auf die Spur zu bringen.

Im Laufe meiner nun gut 25 Jahre andauernden Wahlkampfkarriere habe ich schon sehr viele kleine und große Katastrophen erlebt. Von 9/11 und der damit verbundenen Terrorangst mitten im Berliner Wahlkampf 2001 bis hin zu abgetauchten und unauffindbaren Spitzenkandidaten, Totalaussetzern in TV-Debatten oder Beziehungsdramen kurz vor dem Schlusspurt. Mit der tickenden Uhr des Wahlkampfes im Rücken, erleben Lassnitz und Kröhmer so ziemlich alles auf einmal und noch sehr viel mehr. Da ist jede Menge Drama und Action im Spiel, aber es handelt sich ja auch nicht um einen Dokumentarfilm, sondern um Fiktion.

Wer schon einmal einen Blick in die Serie werfen will, dem sei die Homepage auf der ARD empfohlen. Dort finden sich einige Interviews mit den Hauptdarstellern und Regisseur Friedemann Fromm, der uns ja schon das wunderbare „Weissensee“ beschert hat. Sehenswert auch das Making-Of, in dem es ein nettes Doppelinterview mit Martin Brambach und mir zu sehen gibt (etwa ab 8:21).

Georg Lassnitz, alias Martin Brambach, so viel ist sicher, könnte aber morgen bei uns anfangen. Vielleicht in einem anderen Jacket? O.K. mein Hemd überdenke ich dann auch nochmal…

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Am DSUDM-Set mit Martin Brambach und Anna Loos
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Kampa-Set DSUDM 2015
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Kampa der SPD zur Bundestagswahl 2005

Fans von „Höllenritt Wahlkampf“ werden auch das eine oder andere Zitat und vielleicht auch die eine oder andere Szene in DSUDM wiederfinden. Mit dem eigentlichen Wahlkampf geht es in der zweiten Folge (12.1.; 21:00) los – und zwar mit einem ziemlich fulminanten Opener. Soviel sei schon mal angeteast.

Mein Dank gilt der Producerin Sibylle Stellbrink, die immer wieder erfolgreich Sinn in meine Anmerkungen brachte, sowie den Produzenten Michael Lehmann und Katrin Goetter für die Möglichkeit an diesem Projekt mitzuwirken. Das war spannend. Und jetzt zurück in die echten Dramen des Lebens…

 

 

 

The future is a promise – not a threat.

Kurze Zeit vor den Anschlägen in Paris nahm ich an einer Konferenz des Policy Networks – eines internationalen sozialdemokratischen Think Tanks unter Leitung von Peter Mandelson – teil. In einer sehr spannenden Runde – darunter auch Premier Manuel Valls – debattierten wir über die Zukunft progressiver Parteien in Europa – natürlich auch unter dem Eindruck der aktuellen Flüchtlingsentwicklung. Aber tatsächlich fand eine Verunsicherung der Menschen bereits weit vor dieser Entwicklung statt. Davon – und wie die aus meiner Sicht einzige Antwort einer progressiven Bewegung ausfallen kann – handelt mein Beitrag. Weitere Informationen findet man auf der Seite von The Policy Network.

The future is a promise, not a threat – if progressives get the message right

Frank Stauss

At a time of widespread anxiety it is the responsibility of progressive leaders to promote a message of hope over fear.

People around the world are anxious about the future, and it does not matter whether their economy is in a current recession or performing quite well. Even the Germans – where in 2015 about 75 per cent of people according to recent polls consider their personal financial situation as ‘good’ or ‘very good’ – are anxious about the future. In their rather pessimistic disposition, they obviously do not see themselves as a nation that got out of the European crisis sooner than any other. The Germans see themselves as the ones closer than any other to the next crisis. Remember, currently about 2.9 million Germans are unemployed (6.9 per cent). During the climax of the crisis in 2005, the number totaled 4.8 million (12 per cent). Bringing unemployment down by 2 million took enormous efforts, tough cuts in the social system and a decade’s worth of work. Not exactly a quick fix.

But the state of the German mind might give us a head start of what to expect in other nations after an extremely long and deep period of crisis: confidence in the future will not be the same.

Anxiety about the future actually seems to be an overall state of mind no matter how good or bad the present is. In Germany this is confirmed by virtually all our focus groups, no matter the region in which people live, how old they are or whether they belong to the upper, middle, or working class. No one feels safe.

And why should they? They sense that the way we live, work, travel, communicate and participate is currently in the middle of a transition, if not a revolution. They may not be able to give us a detailed analysis of what the future holds for them but even well-paid workers at a Mercedes-Benz plant openly discuss whether their products will stand the test of the next two decades. This would have previously been an unthinkable thought in 1960, 1990 or even 2010.

The distance from anxiety to hope is a long way. The distance from anxiety to fear is markedly shorter.

But progressives can never be defenders of the past or preservers of the status quo. It is not how we operate. Standing still and defending old habits is the specialty of conservatives; they will always be better at that, and we will always feel bad trying.

Most of all, progressives will never be the party of fear. It is the territory of rightwing or leftwing populism and hate. Fear will never be a formula for success for progressives.

A time of progress must be a time for progressives. Change is inevitable – and who should be better prepared for change than us?

The time we live in is a chance of massive proportion for progressives to dominate the political, economic and social debate for decades. Are we ready to see and seize this chance? And are we willing and prepared to learn from past mistakes to frame the future debate according to our core values?

Framing a debate the ‘progressive way’ demands confidence in our beliefs, and our beliefs are almost never the beliefs of our opponents. We must not adopt conservatism and conservative solutions; we must frame the debate our way.

We embrace and are willing to design and define a future with more equality, more prosperity, more transparency, better health, better education, and more chances. We are the ones who always stood and fought for a modern economy, a modern society, modern families and a future that will always be better than the past or the present. So who should be better in shaping a good future but us?

To achieve this we cannot ignore risks and wrong turns. We must not follow every path opening before us; some of these paths will not lead to progress, but to a major backlash. Not everything that is new is also good. What is good has to be approved by our standards. Will it bring mankind ahead or will it just lead to lower wages, self-exploitation, longer working hours and less privacy? If the latter is the case, it is not a path we follow.

It is our job to distinguish between good and bad. We have to lead.
Voters are demanding a clear direction, because they will not notice any other.

When people are anxious or even afraid, they start looking for leadership. To provide this leadership, our signals have to be strong and clear.

With the rise of the internet and almost unlimited access to information for almost every person within the EU, campaigners once envisioned a new type of voter: the fully informed citizen, caring about society as well for their personal wellbeing, of the nation, the European Union and the world, getting up on election day, entering the polling station, and making a rational decision. What we observe is quite the opposite. The multichannel information opportunities are opportunities for disinformation, non-information and confusion.

We observe a massive information tune-out, with more and more people leaving the ground we once considered common knowledge. The gap between the highly informed elites and the vast majority of the people is widening – not closing. While more and more people are channeling the information they are willing to receive, knowledge about politics, economics and culture is losing the battle v entertainment, sports and special interests.

In times of a daily paper and only several TV and radio stations, a media consumer still achieved what I call ‘collateral knowledge’. Once you opened the paper with the sports section, you later moved on to local news, politics, economics and maybe even the feuilleton, simply because you paid for it and wanted your money’s worth of the paper; that is history.

In our recent campaigns, with limited resources (data access, money, people) compared to some massive US campaigns, we turned away from micro-targeting to ‘the big idea’, or, as George Bush Sr once called it: “the vision thing”. We did however send a strong emotional message: a message of hope v fear. A message, that the future will be better, not worse – if we take the right direction now.

When in 1875 the founders of the SPD came together in the city of Gotha, their aim was to make the lives of millions of workers and their families better. They cared not only for better conditions at the workplace but also for better education, better housing, better medical treatment and more. They founded their movement at a time when there was neither a democracy nor much hope to gain as much influence as needed to make their programme come true. At the heart of this movement was hope. Hope that things could be turned to the better, no matter how strong the opponents or how unlikely the chance for success.

Today almost no one in Germany has to be afraid of hunger and even the poorest are provided with good housing conditions. Education is accessible to everybody and, even if there are remaining issues of inequality by heritage, it is possible for every child to climb up the ladder with the help of free kindergarten to free preschool, free college and free universities.

Some even consider ‘the work done’, with the social democrats being victims of their own success. That could not be further from the truth. This is because in a dramatically changing world, almost nothing is more out of sync with what needs to be done but conservatism.

A world in motion is a world for progressives.

So what are the challenges of our times, besides the obvious like mass migration or ongoing wars in many regions of the world – even in Europe?

The challenges of our times are mostly all connected to the digital revolution. The digital revolution will change the way we live much more fundamentally than any of the previous revolutions. What has been labeled ‘Industry 4.0’ and ‘Work 4.0’ will inevitably lead to ‘Life 4.0’, and people are beginning to notice.

They are beginning to notice that we are not just talking about the comfort of a mobile phone, easy access to information and permanent working hours in a global economy. They are beginning to notice that every aspect of their life will somehow be changed with or through the digital revolution and global connectivity.

People experience the falling behind of regions without state of the art access to the digital world. They see mass migration to Europe based on information provided thorough the web and migrants staying in touch with their loved ones or getting the latest border information through their ever present smart phone.

Highly trained employees witness the falling behind of their premium companies when it comes to connectivity and digital progress. The cashier in the supermarket wonders about whether they will be needed five years from now – not 50. If companies like Nokia rise to global dominance and almost disappear within a decade, what is to say that will not nations rise and fall faster than ever before in history?

There are clearly so many questions, yet there are so few answers. Questions about how we work, questions of privacy v transparency, of family lives, of community, property, the distribution of wealth and knowledge, in some nations of diversity, demographic change and the necessity of migration.

One path into a better future certainly is the wrong one; the path backward.

Trying to find solutions for the future in the past never worked.

It is the job of progressives to define the future and to finally frame a debate ahead of the challenges. We can no longer abuse ourselves as the repair-unit of Europe.

But to be ahead of the challenges, we have to stay awake, be alert, stay curious and we have to permanently question our programmes. Are we still ahead of our time? Are we providing answers to current questions, or have we hidden ourselves behind solutions for a world of yesterday? If we want to beat conservatives and accuse them of being too slow for change, too negative about the future, too much defenders of the past, then are we ready to be the opposite?

Are we ready for the biggest battle: hope v fear?

To frame the debate, progressives have to make one thing very clear: what we have achieved so far is not threatened by change, but by ignorance. Ignoring the changes around us takes away the ability to design the future. Neglect means taking the elevator down, not up. People do understand that very well. They are not stupid, but so far nobody is talking to them like they are adults. Most parties treat them like children who need to be protected from the crazy world outside of the kinderzimmer.

Let us begin by taking the voters seriously and by starting a debate on what they already know; ignorance is not the answer.

A narrative for progressives in a changing world:

Change is inevitable. Whether it is a change for the better or for the worse is ours to decide. We believe that the best is yet to come.

And we have proven in the past that the change progressives stood and stand for always was and is a change for the better. Most of all, we were always ahead of our time and not behind.

We have always looked to fight for better education for all children, while conservatives cared more about status, hierarch and inequality. We have always fought for better working conditions, greater distribution of wealth, the furthering of workers’ rights and stronger participation. We have always fought for more transparency, stronger democracy, greater equality and a cleaner environment long before anyone else did. And we have fought for women’s rights, equal pay regardless of whether you are a man or a woman, the rights of minorities, and a more diverse society as the direct source of a stronger sense of community, and a better use of talent.

With all of these fights, causes and progressions, we can say one thing for certain; history is on our side.

We were right, and they were wrong. But the world keeps on turning – and once again it is within our grasps and abilities to design the future.

We must fight for a modern society where no child is abandoned by the state, no matter the circumstances that that child grows up in, whether it be the ‘the classic family’, a patchwork family, raised by a single-parent, by homosexual parents or by heterosexual parents.

We must fight for societies with a fair balance concerning the distribution of wealth, because fair societies have proven to be more stable, stronger economically and to have a better sense of community. They also have proven to be stronger at innovating, and stronger in providing a better quality of life, something which is fundamental to society.

We must fight for a new digital society where 24/7 digitalisation goes hand in hand with the right to free time, privacy, improved working conditions, and where success is measured in living qualities. The future working place must be better than the ones of the past – and we must take care of that.

We must fight for a modern industry with more success through innovation and ecologically sound technology. Old industries fail in the long run, and state of the art production prevails.

We must fight for affordable healthcare, social security, affordable housing in ever-increasingly expensive cities, top quality infrastructure (including mass transportation and unlimited access to digital technologies).

With all of these causes that we must endeavour with, like the causes which we have championed previously and continue to champion, the future will prove us right.

All of this is crucial for a good society; all of this is crucial for a great society.

The road to success is a blunt and promising vision; ‘hope v fear’ is the battleground.

We will define the frame of the future if we are willing and able to take risks and to make decisions. We must decide what is good and what is bad according to our values and we must be ready to endure and fight the battles following our decisions.

Progressive parties – or some of them – behaved like cowards rather than leaders in the past; they lacked inspiration, defended the status quo, were lazy thinkers, adopted neoliberal laissez faire or socialist overprotection, and reduced themselves to micromanagement and daily business.

But who will follow a coward? Who desires for a living compromise? Who is willing to elect a repairman? Who is thrilled by an excel chart? Who will get overly enthusiastic about a natural number two?

No matter which position a progressive party is in right now, whether it be in government, in opposition, or in a governing coalition as the smaller partner, the next campaign has to be about the future and clear about the alternatives we espouse.

Conservatives in some countries adopted rhetoric of change while actually delivering gridlock, old recipes, nationalism or regionalism and fantasies of a world that could be designed as it were a century ago.

Change, as mentioned above, can bring out the best and the worst in politics. To fight the worst, we have to bring out the best in ourselves. Which is a positive look at the future.

The next campaign should not worry about target groups etc in the first place but about the main message: an invitation to all voters and even other parties to join our movement for change. Whoever wants to work on a positive future is our guest, our partner, our possible fellow and coalition companion.

I am sure that the majority of people would rather follow our path of hope instead of the path of fear. Uncertain times are times for leaders and clear leadership. We can take that lead.

To be blunt, we have to take over that lead. Progressive leadership is our heritage and our future.

Frank Stauß is managing partner of the agency BUTTER. Düsseldorf, Berlin. His book ‘Höllenritt Wahlkampf’ (‘Hell Ride Campaigning’) was published in 2013

Conference paper 10/2015; published in 12/2015

Vor dem Fest

Deutschlands Freiheit wird unter dem Tannenbaum verteidigt. Rüstet euch für das Familienfest eures Lebens und schwingt die Gänsekeule gegen Nazis.

„Driving Home for Christmas“ wird rauf und runter im Radio gespielt werden, während sich wieder Hunderttausende auf die Reise quer durch die Republik machen, um Weihnachten im Kreise ihrer Liebsten zu verbringen. Oder im Kreise ihrer Verwandtschaft. Es werden andere Weihnachten sein, als noch vor ein oder zwei Jahren. Es werden völlig andere Gespräche stattfinden, als vor drei, vier oder fünf Jahren. Es werden Gespräche sein, in denen „Paris“, „Syrien“, „Flüchtlinge“, „Krieg“, „Terror“ und „Dresden“ vorkommen werden. Und nicht selten wird ein Riss durch die Familien gehen.

Es wird die Nichte, die in Berlin studiert und sich für Flüchtlinge engagiert, auf den Onkel treffen, der beim nächsten Mal AfD wählen will. Es werden sich Eltern mit Kindern streiten und diesmal nicht über das, worüber sie sich bisher jedes Mal in die Haare bekommen haben. Deutschlands Kirchen werden wieder gefüllt sein – aber diesmal mit mehr engagierten Christen und auch mit wesentlich mehr Heuchlern, die Lieder anstimmen werden, deren Sinn sich ihnen wohl noch nie erschlossen hat.

Deutschland hat die Wahl. Und Deutschland wird sich entscheiden müssen. Nicht an der Wahlurne, nicht in einem Volksentscheid, sondern ganz privat: In welchem Deutschland wollen wir leben? Wie will ich leben? In welchem Land sollen meine Kinder aufwachsen, in welchem gesellschaftlichen Klima will ich älter werden?

Die Deutschen standen schon häufiger vor einem Scheideweg und sie haben sich nicht unbedingt einen Namen damit gemacht, richtig abzubiegen. Ich bin sehr optimistisch, dass es diesmal anders kommen wird. Deutschland ist weiter als manche Skeptiker und auch manche hasenfüßige Politiker meinen.

Die Zukunft Deutschlands wird unter dem Tannenbaum entschieden. Damit es eine gute Zukunft wird, müssen alle klare Kante zeigen, die das moderne, weltoffene, demokratische, freie, europäische Deutschland schätzen, lieben und immer besser machen wollen. Sie müssen dem Rassismus, den Vorurteilen, der verdrucksten Engstirnigkeit oder gar der Aggression offensiv begegnen. Zu Hause. Gegenüber dem Bruder, der Oma oder auch den eigenen Eltern.

Wer das moderne Deutschland will, der muss aufklären, argumentieren, Ängste nehmen, diskutieren, debattieren und darf sich nicht verkriechen um des lieben Friedens willen.

Zwischen einem weltoffenen Deutschland und einem Deutschland der brennenden Flüchtlingsheime, der Verrohung, Bedrohung und rechter Parolen gibt es keinen Kompromiss. Gibt es keinen Kompromiss. Gibt es keinen Kompromiss. Gibt es keinen Kompromiss.

Wenn besonders die Älteren Sorgen umtreiben, ob das gut gehen kann mit Zuwanderung und Integration, dann ist es an den Jungen, sie aufzuklären. Über die fremdländisch klingenden Namen in ihrem Adress-Account, über das gemeinsame Arbeiten in internationalen Firmen, über das Aufwachsen in kulturell vielfältigen Metropolen, über die globalen Freundschaften in sozialen Medien, über ein Leben, das sie schon längst leben.

Es geht nicht darum, dass man sich etwas vormachen muss, oder dass alles perfekt laufen wird. Aber alles, wirklich alles, wird besser laufen als zwischen 1933 und 45. Das kann man mit gutem Wissen und Gewissen laut und deutlich vertreten.

Es ist nicht mein Deutschland, in dem Lokalpolitiker verhetzt, bedroht oder gar abgestochen werden. Es ist nicht mein Land, in dem Feuerwehren in brennende Flüchtlingsheime gerufen werden. Es ist nicht mein Land, in dem Menschen, die Kleider oder Lebensmittel spenden, von einem wütenden Mob angebrüllt werden. Das kann nicht das Land sein, indem wir leben wollen. Aber wenn es das nicht ist, dann dürfen wir nicht still sein.

Ja, auch ich habe ein mulmiges Gefühl am Flughafen, im Hauptbahnhof oder in der U-Bahn. Und ich bin fast täglich an einem dieser Orte. Aber ich käme niemals auf die Idee, die Flüchtlinge, die vor dem Terror fliehen, dafür verantwortlich zu machen. So schrecklich es sein mag, aber die Anschläge von Paris haben mich den Flüchtlingen näher gebracht. Etwa zwei Wochen vor den Anschlägen saß ich in den Cafés rund um das Zentrum der späteren Anschläge. Die Anschläge von Paris wiederholen sich jeden Tag. In Syrien. Im Irak. In Afghanistan, wo jeder Gang zum Gemüsehändler der letzte sein kann. Der Terror im Alltag ist, was die Menschen zu uns treibt und den verstehe ich heute noch besser als vor einigen Wochen.

Was ich aber überhaupt nicht kannte, war eine dunkle Bedrohung zu Hause in Deutschland. Kürzlich hatte ich eine Lesung in Magdeburg, kurz nach der Veröffentlichung meines auch auf stern.de und carta.info hunderttausendfach verbreiteten Blogbeitrags „Es ist Zeit.“ Dieser hatte natürlich auch die erwarteten freundlichen Mails zur Folge, aber ich dachte mir nichts dabei. Bis immer mehr Freunde oder Kollegen meinten: „Magdeburg? Pass auf Dich auf!“. Und schon waren sie da, die Bilder von Baseballschläger-bewaffneten Nazis, die in den Straßen Magdeburgs Jagd auf Flüchtlinge machen. Warum dann auch nicht auf Blogger? Es passierte nichts, die Veranstaltung war gut besucht, alles friedlich, alles fein. Nichts ist friedlich, wenn man sich solche Gedanken machen muss.

Der Terror ist in Deutschland angekommen. Der Terror von Deutschen. Gegen Flüchtlinge aber auch gegen alle engagierten Demokraten und alle, die nie wieder zurück wollen in die schrecklich beschränkten, hasserfüllten und intellektuell armseligen Grenzen des dunklen Deutschlands.

Einige meinen, man dürfe nicht immer die „Nazikeule“ schwingen, gegen die Nazis. Ja, gut, dann schwingt halt die Gänsekeule. Oder irgendwas veganes. Es geht um euer Deutschland, eure Zukunft, eure Freiheit – euer Leben, so wie ihr es kennt. Es geht um eine immer noch junge Demokratie, die auf der ganzen Welt bewundert wird. Und die absolut keine Selbstverständlichkeit ist.

Also: Rein mit den Plätzchen, rauf mit den Kilos und raus mit der Sprache.

Fröhliche Weihnachten.

PS: Und wenn ich ihm schon den Titel klaue, dann auch noch mein Lesetipp: Sasa Stanisic: Vor dem Fest. Großartig, verwunschen, brillant. Hat mit dem Artikel gar nichts zu tun. Bis auf die Tatsache, dass auf Amazon tatsächlich kommentiert wurde, er solle gefälligst über Bosnien schreiben und nicht über die Uckermark. Und überhaupt dürfe man ihn nicht mit einem wie Fontane vergleichen, weil er ja kein Deutscher sei. Der arme Fontane. Wer solche Freunde hat…

Es ist Zeit.

Es ist Zeit, diesen Kreislauf zu durchbrechen, der sich in zahlreichen Hirnen gerade abspielt und für den es keinen anderen Ausdruck gibt als: Panikattacken.

Es ist Zeit, wieder gerade zu rücken, was aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Es ist Zeit, den verlogenen angeblichen Ängsten vor „Jungen Männern mit Bedürfnissen“ klar entgegen zu treten. Junge Männer, in vielen Fällen Teenager, die von ihren Familien losgeschickt wurden, um für ihre Geschwister das Überleben zu sichern, haben ganz andere Sorgen, als zu pimpern. Auf ihnen liegt die Last, ihre Liebsten in der Heimat zu retten. Die wollen arbeiten und nicht vögeln. Und überhaupt – was habt ihr eigentlich für ein krankes Hirn, dass ihr in jedem jungen Mann einen Vergewaltiger sehen wollt? Wahn – Wunschvorstellung oder was?

Es ist Zeit, den durch und durch abstoßenden Rechtsauslegern klar zu sagen: Dass ausgerechnet ihr euch aufspielt, die Homosexuellen vor den potentiellen Übergriffen der Muslime in Schutz nehmen zu wollen, ist ja wohl der Treppenwitz der Weltgeschichte. Wenn ich die Wahl habe zwischen KZ mit rosa Wimpel oder Rübe ab, dann komme ich als Schwuler aber ganz schön ins Grübeln. Klar gibt es unter Flüchtlingen Intoleranz, Ausgrenzung und auch Hass. Aber als Schwuler wehre ich mich ausdrücklich dagegen, ausgerechnet von „Christlichen-Abendland-Verteidigern“ in Schutz genommen zu werden, nachdem sie mir mit ihrem bigotten Schuldgeschwätz meine halbe Jugend versaut haben, mein Umfeld gegen mich aufwiegeln wollten, nicht wenige Teenager in den Suizid getrieben haben und bis zum heutigen Tag Ausgrenzung predigen. Pfui Teufel!

Es ist Zeit, den Konservativen, die gestern noch die Herdprämie für eine super Idee hielten, die gegen die Frauenquote agitierten und denen man seit Jahrzehnten die Gleichberechtigung der Frau in ihr dumpfes Hirn stopfen muss, zu sagen: Dass ihr euch plötzlich für die Rechte der Frauen interessiert, die ihr über Jahrzehnte hier im Land blockiert habt, das müsste euch eigentlich jeden Morgen den Spiegel im Bad zerspringen lassen. Ja, Menschen, die in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen sind, müssen eine andere Gesellschaftsordnung lernen und anerkennen. Aber tun wir doch bitte nicht so, als seien wir hier schon seit Jahrzehnten die tolerante, weltoffene Gesellschaft schlechthin. Auch für uns war das ein langer Prozess und wie wir wissen, haben nicht alle von uns die nächste Entwicklungsstufe schon erklommen.

Es ist Zeit, denen, die jetzt von „Prügeleien in Flüchtlingsunterkünften“ gar nicht genug bekommen können, zu sagen: In diesem Land brennen mehr Flüchtlingsunterkünfte als es Rangeleien gibt, werden Menschenleben aufs Spiel gesetzt und traumatisierte Flüchtlinge weiter traumatisiert. Das ist die Schande. Das ist das Problem. Zu viele aggressive junge Männer in Zelten nannte man früher Oktoberfest. Aber denen hat man nicht zu Hause die Hütte zerbombt und denen fackelt man auch nicht die Halle ab. Also auch hier einen Gang runter schalten in der Erregungsschlaufe.

Menschen flüchten tausende von Kilometern auf der Suche nach Frieden und Arbeit, um dann von Dorfdeppen angespuckt zu werden, die ihren lahmen Arsch noch nie aus dem eigenen Kaff rausgewuchtet haben. Schon gar nicht für einen Arbeitsplatz.

Es ist Zeit, den jungen Menschen, die in Sachsens Dörfern pöbeln und spucken zu sagen: Was machst Du Depp denn noch hier, wenn Du keine Zukunft hast? Du bespuckst Flüchtlinge, die tausende von Kilometern zu Fuß hinter sich gebracht haben? Aber selbst schaffst Du es nicht einmal von Heidenau nach Ingolstadt oder nach München oder nach Stuttgart oder andere Städte, in denen sie händeringend nach Leuten suchen? Was bist Du denn für ein antriebsloser Vollpfosten! Wie? Bei Mama ist schöner? Aber dann noch auf andere herabsehen wollen. Wie erbärmlich.

Es ist Zeit, denjenigen, die auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch erschrecken, wenn sie einen Ausländer sehen, zu sagen: Wie lange denn noch? Wie lange braucht ihr denn noch, um im 21. Jahrhundert anzukommen? Wenn man eine Tür öffnet, dann ist sie offen. Dann kann man rausgehen, aber es können auch andere reinkommen. Was ist daran so schwer zu kapieren? Ich weigere mich anzuerkennen, dass erwachsene Menschen noch Angst vorm schwarzen Mann haben. Oder vorm Nachtkrabb. Oder vor Shrek unterm Bett? Du lieber Himmel. 25 Jahre – das ist eine ganze Generation. Get the fuck over it.

Es ist Zeit, unseren Politikerinnen und Politikern zu sagen: Fangt jetzt bloß nicht an zu wackeln. Organisiert, investiert, professionalisiert. Entlastet die vielen tausend Helferinnen und Helfer. Vermittelt im Ausland, nehmt Europa in die Pflicht, unterstützt Flüchtlingslager näher an den Herkunftsländern und macht all das, was man euren Job nennt. Improvisiert und schießt von mir aus euren Fetisch, der sich „Schwarze Null“ nennt, auf den Mond. Andere Zeiten erfordern andere Maßnahmen. Aber fangt jetzt bloß nicht an zu wackeln. Ein heulender Seehofer ist schon peinlich genug, mehr Memmen brauchen wir nicht.

Es ist Zeit für eine glasklare Haltung. Kein Wackeln. Kein Zaudern. Kein Zögern. Die Menschen in Deutschland wollen in ihrer überwältigenden Mehrheit, dass die Menschlichkeit gewinnt. Sie empfinden durchaus, dass das eine große Aufgabe ist. Aber sie wollen, dass sie gelingt. Sie wollen stolz sein, auf das andere Deutschland.

Daher, liebe Politiker: Bitte mal wieder einen Gang zurück schrauben mit den persönlichen Panikattacken. Uns hier draußen im Land geht es im Oktober 2015 nicht anders als im Oktober 2014. Wir leben unser Leben, mit dem Unterschied, dass wir jetzt endlich die zu kleinen Kinderklamotten und die alten Winterjacken losgeworden sind und uns auch noch gut dabei fühlen konnten. Ansonsten reden wir hier über Fußball, Fifa, den Tatort und erörtern die Frage, warum jetzt plötzlich wieder alle jungen Leute in Röhrenjeans mit Hochwasser rumlaufen. Das sah doch schon 1980 Scheiße aus. Aber woher sollen sie es wissen, da waren sie ja noch nicht auf der Welt. Business as usual, eben.

Also: Macht bitte weiter eure Jobs und vermittelt uns nicht ständig mit Floskeln wie „größte Herausforderung seit …“ oder „Bis an die Grenze der Belastbarkeit …“ oder sonstigem „Ich – hab’-den-Größten-und-auch-die-größte-Krise“ Machogeschwätz eure eigene Überforderung. Keiner von uns in der Nachkriegsgeneration hat jemals eine wirklich große Herausforderung bestanden und keiner von uns ist je an die Grenzen seiner Belastbarkeit gegangen. Außer vielleicht beim Bungee-Jumping. Wir kommen schon klar, macht euch keine Sorgen.

Nicht wir sind es, die größte Herausforderungen zu meistern haben, sondern diejenigen, die zu uns kommen.

Nicht wir haben ein Problem, weil wir in der Turnhalle kein Zirkeltraining machen können, sondern die, die in der Halle leben müssen.

Nicht wir haben irgendeinen Grund zu jammern, sondern alle, die ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde verloren haben.

Das bitte, liebe Politiker, ist die Antwort, die ihr an euren Stammtischen allen geben solltet, die euch blöd kommen. Und ja, ein fröhliches „Wir schaffen das“ könntet ihr den Stänkerern noch hinterher werfen.

Das würde man dann Rückgrat nennen.

Es ist Zeit.