Wir stehen einen Monat vor der Europawahl und wenn man es nicht wüsste, wüsste man es nicht. Zumindest kann der Schatten, den diese Wahl voraus wirft, keinen Sonnenbrand verhindern. Versuchen Sie mal im Selbsttest, außerhalb des Café Einstein im Berliner Regierungsviertel, ein Gespräch über diese Wahl zu beginnen. Es wird sehr rasch sehr einsam um Sie werden. Umgekehrt proportional verhält es sich bei einer Gesprächseröffnung zum Zustand der Fußballnationalmannschaft oder Markus Lanz. Da haben sie bald Menschentrauben völlig unbekannter Passanten um sich herum, die alle Substantielles beizutragen haben.
Die Europawahl wird nicht kollektiv missachtet – das wäre ja schon eine aktive Handlung – sie findet einfach überhaupt nicht statt. Das erschwert es natürlich auch den Meinungsforschungsinstituten, so etwas wie Meinungsforschung zu betreiben. Es hindert sie allerdings keineswegs daran, ihre Zahlen zu veröffentlichen.
Daher werfen wir heute mal einen Blick auf die Zuverlässigkeit der Zahlen bei den Wahlen in vergangenen Jahren. Natürlich geht das nicht ohne die Hilfe der Kollegen von www.wahlrecht.de und ihren dankenswerter Weise gesammelten Zahlen. Als Referenzgröße nehmen wir aus naheliegenden Gründen die mir am Herzen liegende SPD.
1999 kam die SPD in den letzten 3 veröffentlichten Umfragen vor der Wahl auf 36-38,5% und erhielt dann: 30,7 %
Eine negative Abweichung von mindestens 5,3%
2004 kam die SPD in den letzten 3 veröffentlichten Umfragen vor der Wahl auf 27-29% und erhielt dann: 21,5 %
Eine negative Abweichung von mindestens 5,5%
2009 kam die SPD in den letzten 3 veröffentlichten Umfragen vor der Wahl auf 25-28 % und erhielt dann: 20,8 %
Eine negative Abweichung von mindestens 4,2%
Wenn man böswillig wäre, könnte man daraus eine Serie ableiten.
Wenn man gutwillig ist, hört man auf die üblichen Erklärungen von den „Momentaufnahmen“ die „keine Prognosen“ seien und dass sich da zum Teil noch wichtige Dinge in den letzten Tagen… undsoweiterundsofort.
Fakt ist aber, dass noch kein Institut eine Formel gefunden hat, wie man zwischen Absichtserklärung und tatsächlichem Urnengang unterscheidet. Das ist wahrscheinlich auch wahnsinnig schwer und mathematisch kompliziert. Aber man muss dafür keinerlei Verständnis aufbringen, denn die Leute werden ja nicht dafür bezahlt, ein Problem nicht zu lösen. Oder andersrum gesagt: Wenn sie es nicht können, wie kommen sie dann dazu, Zahlen zu veröffentlichen?
Wenn man als Dachdecker die Arbeit an einem Dach beginnt, verlässt man sich darauf, dass der Maurer vorher einen ordentlichen Rohbau hingestellt hat. Sonst wird das schwierig, mit dem Dach.
Als jemand, dessen Handwerk unter anderem darin besteht, auf verlässlichen Grundlagen strategische Empfehlungen zu entwickeln, habe ich größten Respekt vor den Kolleginnen und Kollegen in den Parteizentralen, die gerade mehr oder minder im Blindflug auf den Wahltag zusteuern. Allen anderen kann ich nur raten. Gehen Sie zur Wahl, das würde niemanden mehr verwirren, als die Wahlforschung.