Aus Gewohnheit oder Vergesslichkeit – manche im sogenannten „Linken Lager“ sprechen besonders gerne mit Blick auf den SPD Mitgliederentscheid von einer „linken Mehrheit“, die von der SPD gerade verraten würde – und die es schon seit vielen Jahren in Deutschland gäbe. Aus diesem Anlass ein paar Daten zur Erfrischung der Hirnzellen:
Bei der Bundestagswahl im September 2013 kamen SPD, Linke und Grüne gemeinsam auf 42,7% der Stimmen. CDU/CSU auf 41,5%, die FDP auf 4,8% und die AfD auf 4,7%.
Es war nur ein glücklicher Zufall, dass das rechtskonservative Lager mit 51% der Stimmen keine parlamentarische Mehrheit erreichen konnte. Eine Verschiebung von wenigen tausend Unions-Stimmen hin zu AfD und FDP und das Desaster des linken Lagers wäre noch offensichtlicher geworden, als es eh schon der Fall war.
Zur Erinnerung: Die Gewinne/Verluste der Bundestagswahl 2013:
Das konservative Lager:
CDU/CSU: + 7,7%, FDP: – 9,8%, AfD: + 4,7% = Netto: + 2,6%
Das linke Lager:
SPD: + 2,7%, Grüne: -2,3%, Linke: – 3,3% = Netto: – 2,9%
Mit 51% zu 42,7% liegt das rechte Lager heute in Deutschland über 8% vor dem linken. Und es gibt auch nach der Bundestagswahl keine einzige Umfrage, die das wesentlich anders sehen würde.
Dies bedeutet faktisch: Es gibt in Deutschland gemessen an dem Wählerwillen keine Mehrheit für den Mindestlohn, keine Mehrheit für die Rente mit 63, keine Mehrheit für die Frauenquote, keine Mehrheit für eine Mietpreisbremse, keine Mehrheit für die doppelte Staatsbürgerschaft von in Deutschland geborenen Migrantenkindern, keine Frauenquote für Aufsichtsräte und Vorstände und so weiter und so fort.
Wer da von Neuwahlen träumt, kann eigentlich nur Albträume lieben. Denn die SPD hätte nach einem gescheiterten Mitgliederentscheid keinen Kanzlerkandidaten oder Parteivorsitzenden, geschweige denn irgendeine Struktur, die wahlkampffähig wäre. Die Union hingegen könnte mit ihrer „Kanzlerin der Stabilität“ recht sicher auf eine absolute Mehrheit setzen. Ein programmiertes Desaster.
Aus der gegenwärtigen Situation gibt es nur 3 Auswege:
1. Die Große Koalition. Die SPD hat im Koalitionsvertrag viele wichtige Reformen durchgesetzt, die noch nicht einmal die Rot/Grüne Bundesregierung von 1998-2005 gegen die Unionsmehrheit im Bundesrat hat durchsetzen können. Dazu gehören der flächendeckende Mindestlohn, Veränderungen im Miet- und Maklerrecht, die Stärkung der Rechte von Zeitarbeitern, Verbesserungen in der Rente, eine unumkehrbare Öffnung hin zur Doppelten Staatsbürgerschaft, ein ebenso unumkehrbares Bekenntnis zur vollständigen Gleichstellung der Homo-Ehe, eine Frauenquote für Aufsichtsräte und vieles mehr. Nicht schlecht, für eine 25%-Partei.
Das gilt es zu toppen in einer der beiden anderen Alternativen.
2. Ein Bündnis mit Linken und Grünen. Ignoriert man das klare Wahlversprechen der gesamten SPD Führungsspitze, dass eine Zusammenarbeit mit der Linken „in dieser Legislaturperiode auf keinen Fall“ stattfinden wird, bleibt eine Mehrheit von 320 : 311 Sitzen im 18. Deutschen Bundestag. Neun Sitze – das klingt nach viel, ist aber ziemlich wenig für ein politisches Experiment, das auf einem gebrochenen Wahlversprechen beruht. Zum Vergleich: Schwarz/Gelb hatte im 17. Bundestag eine Mehrheit von 42 Mandaten – und kam dennoch mehrfach in Bedrängnis oder riss gar die eigene Kanzlermehrheit.
Die zweite Rot/Grüne Koalition von 2005 hatte auch nur eine Mehrheit von 9 Mandaten und scheiterte damit in einer Zweier-Koalition.
Wer dieses Experiment wagen will, muss sich also nicht nur dem gerechtfertigten Vorwurf des Wählerbetruges aussetzen (man erinnere sich an Andrea Ypsilanti), nein, man muss auch ein Scheitern bereits bei der Kanzlerwahl für möglich halten. Ganz abgesehen davon, dass kommende Landtagswahlen auch wieder zu veränderten Bundesratsmehrheiten führen würden. Stellt sich die Frage: wofür? Für einen flächendeckenden Mindestlohn, der dann ein paar Monate früher kommt?
Apropos Grüne: Das wären dann die treuen Koalitionspartner in einem 3er-Bündnis? Die gleichen Grünen, die erst nach der Wahl die Nerven verloren haben und sich schneller in die Büsche geschlagen haben, als man gucken konnte? Die Grünen, die jetzt auch noch den Nerv haben, die SPD, die sie selbst in diese Koalition faktisch gezwungen haben, zu kritisieren? Die gleichen Grünen, die dann nur ein paar Wochen später zitternd in Hessen neben dem Telefon saßen, bis endlich ihr neuer Buddie Volker Bouffier angerufen hat? Das wäre ja bestimmt ein ganz tolles Regieren mit denen. Oder wäre es nicht wesentlich wahrscheinlicher, dass die einfach die Volte machen und ganz schnell doch noch ins gemachte Koalitionsbett mit der Union springen? Ein toller Plan.
3. Neuwahlen. Eine großartige Idee, wenn man unbedingt nicht regieren will. Wenn man aber nicht regieren will und all die bereits geschilderten Vorteile für die Menschen nicht umsetzen will, warum ist man dann politisch engagiert? Um Resolutionen abzusegnen, mit denen man sich wohl fühlen kann, die aber nie Realität werden? Und wer um Himmels Willen soll eine solche Partei wählen? Die gleichen Leute, die schon der Linkspartei ein Minus von 3,3% beschert haben? Das scheint ja eine super Erfolgsformel zu sein.
Nur zur Erinnerung: Die Linkspartei war neben der FDP der zweite große Verlierer der letzten Wahl. Noch stärker als die Grünen. Dort gibt es nichts mehr zu holen – die sind schon am Rande des Existenzminimums. Das also wäre dann die großartige linke Mehrheit: eine 25%-SPD mit zwei desorientierten Wahlverlierern als Partner. Wie Wahnsinnig muss man eigentlich sein, um sich das zu wünschen?
Zu den Untergliederungen der SPD, die jetzt zur Ablehnung des Koalitionsvertrages aufgerufen haben, gehören unter anderem die Schwusos, da ihnen die Verbesserungen für Homosexuelle nicht ausreichend ausfielen. Liebe Leute! Ich bin auch schwul und ich kann lesen. Im Koalitionsvertrag steht wörtlich: „Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechter stellen, werden wir beseitigen.“ Das ist natürlich nur recht und billig, aber dass CDU/CSU das einmal unterschreiben würden, ist bei weitem keine Selbstverständlichkeit. Die FDP hat das jedenfalls nicht bekommen. Und selbst wenn es euch zu wenig ist: Rechtfertigt es dann, alles andere an Vorteilen für viele andere Menschen über Bord zu werfen, nur weil man selbst zu wenig bekommt? Das ist das Gegenteil von Solidarität.
Eine SPD, die zu diesem Koalitionsvertrag nein sagt, ist wohl wirklich besser daran, sich feierlich selbst aufzulösen. Brauchen kann eine so egozentrische Organisation niemand. Eine SPD, die aber endlich wieder lernt, ihre Erfolge zu feiern und sich daran freuen kann, etwas für viele Millionen Menschen zu bewegen, dieses Land weiter zu öffnen, zu modernisieren und aus dem Stillstand zu führen – die braucht Deutschland mehr denn je.
PS: Wer etwas liebevollere Argumente hören will, lese den vorherigen Blogeintrag: „Menschen.“