Es gibt ein Deutschland ein Schimpfwort, das sich „symbolhafte Politik“ nennt. Es wird vor allem von Journalisten und sogenannten „Experten“ gerne verächtlich verwandt gegen diejenigen, die eine solche symbolhafte und damit aus Sicht der Kritiker auch zwingend inhaltsleere Politik betreiben. Das kann man so sehen. Man sollte aber auch sehen, dass es sehr erfolgreiche, symbolhafte Politik gibt, die Inhalte generiert und gleichzeitig neue Positionierungen der handelnden Personen und zum Teil auch der Parteien möglich macht. Und man sollte bedenken, dass vor allem die Medien, die sich über symbolhafte Politik beschweren am Ende des Tages über nichts anderes berichten.
Nehmen wir etwa die „neue“ Familienpolitik der Union in der Großen Koalition 2009, die vom Start weg durch die Übernahme des noch von Renate Schmidt erarbeiteten Elterngeldes deren Nachfolgerin Ursula von der Leyen zum neuen Shooting-Star machte und die Union auf einen Schlag modernisierte. Auch Angela Merkels Politik in der Eurokrise war vor allem symbolhaft: Sie inszenierte sich als Wächterin über die Sparbücher der Deutschen und drückte allen notleidenden Staaten ihren Sparkurs auf – obwohl sie in der eigenen Regierungszeit die deutsche Krise 2008/2009 mit massiven Investitionen wie schuldenfinanzierten Konjunkturpaketen, Abwrack-Prämie oder erweiterter Kurzarbeiterregelung begegnete.
Symbolhafte Politik war auch eine Praxisgebühr, die den Patienten auch noch die Zahlung in Bar in der Praxis zumutete, damit es auch richtig schön weh tat.
Selbstverständlich war auch die Agenda 2010 einerseits tatsächliche Reformpolitik, andererseits eine aus reiner Not geborene symbolhafte Politik, um am Rande einer Niederlage bei der Bundestagswahl 2002 noch massiven Handlungswillen- und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Immerhin fand die Präsentation durch Peter Hartz mitten im Bundestagswahlkampf im August 2002 statt. Eine Notiz am Rande: Die Wahl wurde dann schließlich auch deshalb gewonnen – und nicht nur wegen Oderbruch-Flut und Irak-Kriegs-Nein.
Symbole sind dabei in jeder Hinsicht möglich. Im Guten wie im Schlechten. Die SPD litt in den vergangenen Jahren vor allem unter den umstrittenen Symbolen ihrer Regierungszeit. Die innerparteiliche Auseinandersetzung vor allem um die Agenda 2010 beschädigte die SPD nicht nur nach Innen – sie ermöglichte es auch beispielsweise den Grünen, sich alle modernen Symbole der gemeinsamen Regierungszeit anzuheften: Von der Energiewende inklusive Atomausstieg über Gleichberechtigungsthemen bis hin zur Homoehe. Das Moderne blieb bei den Grünen, das Umstrittene bei der SPD.
Jetzt stehen zwei Parteien in Koalitionsgesprächen, die beide keine klare Richtschnur aus ihren Wahlkampagnen mit in die Formulierung der Politik der kommenden vier Jahre nehmen können. Die SPD hat sich im Wahlkampf und in Folge der innerparteilichen Konflikte viel zu sehr auf eine sehr eng definierte soziale Nischenpolitik zurückgezogen, die CDU hat erst gar keine Positionierung vorgenommen. Als Symbolthemen blieben von diesem Vakuum in den ersten Wochen nach der Wahl nur die großen M’s: Mindestlohn und Maut.
Doch dann kam des dritte M: Die Maklergebühr. Diese Revolution in der deutschen Wohnungsvermittlung kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Denn es ist die erste Trophäe der SPD, die sie mit auf ihren Parteitag nehmen kann. Und die am Ende wesentlich mehr Menschen berühren wird als der Mindestlohn. Ebenso die Mietpreisbremse. Beide Veränderungen erreichen ein wesentlich größeres Spektrum der Gesellschaft, als die inhaltlich verengte Kampagne. Nämlich die Mittelschicht und die aufstrebenden mobilen jungen Leute, die durch häufige Wohnortwechsel der gegenwärtigen Preisspirale hilflos ausgesetzt sind. Die haben im Zweifel ihr Kreuz nicht bei der SPD gemacht, erleben aber gerade, dass soziale Gerechtigkeit mehr bedeuten kann, als das Feilschen um ein paar Euro mehr bei Hartz IV – das sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nie beziehen werden.
Das sollte Ansporn sein, an anderen Stellen auch weiter zu gehen. Aber dafür braucht es eine Richtschnur, sonst zerfasert alles. „Wir schaffen das moderne Deutschland“ war einmal ein bedeutendes Motto der Sozialdemokraten vor vielen Jahrzehnten. Und es taugt heute wieder in dieser Koalition, in der der größere Partner keine Ziele hat. Es taugt, die SPD zur Partei zu machen, die Deutschland modernisiert, gerechter macht, antreibt und den Stillstand der letzten vier Jahre auflöst.
Denn die SPD will aus dieser Koalition so hervorgehen, dass sie in Zukunft wieder das Kanzleramt übernimmt. Und das ist möglich. Es ist kein Naturgesetz, dass man in einer Koalition verliert – es kommt nur darauf an, wie man es anpackt. Die SPD muss sich als Kanzlerpartei für 2017 geradezu aufdrängen. Gemeinsam mit Merkel die Gegenwart zu verwalten, kann ihr nicht genug sein. Werden die SPD Ministerinnen und Minister nur die anständigen Handwerker im Weinberg der Kanzlerin werden, dann hat sie 2017 keine Chance.
Als ich in die SPD eintrat, war sie die Partei der Sozialen Gerechtigkeit. Aber eben nicht nur der sozialen Gerechtigkeit. Denn ganz ehrlich: ich war immer für ein funktionierendes soziales Netz, ich bin für eine Mindestsicherung im Alter und ich bin für einen Mindestlohn – aber es war doch nie mein Ziel, irgendetwas davon in Anspruch zu nehmen! Mein Ziel war, dass ich nie darauf angewiesen sein werde, staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und das ist auch nach wie vor das Ziel von wahrscheinlich 90% aller Wählerinnen und Wähler. Und die fragten sich bei dieser Bundestagswahl: Ja, was macht ihr denn für mich? Ich finde 8,50 Mindestlohn gut – aber ich will um Himmels willen nie davon leben müssen! Ich finde Altersarmut bedrückend – aber ich will sie doch nie erfahren! Und außerdem habe ich vor, mal was zu kaufen – eine Wohnung oder wenn alles gut geht ein Häuschen. Das ist meine Hoffnung, das ist mein Ziel, das ist mein Traum – nicht Armut. Wo bietet die SPD diesen Leuten, die sie als Partei so dringend braucht, wenn schon kein Geld, dann doch wenigstens eine Haltung?
Nun, als ich in die SPD eintrat, war es für mich die Partei der Sozialen Gerechtigkeit,
als ich in die SPD eintrat, war es die Partei der Arbeitsplätze,
als ich in die SPD eintrat, war es die Partei der Bürgerrechte,
als ich in die SPD eintrat, war es die Partei des sozialen Aufstiegs,
als ich in die SPD eintrat, war es die Partei der Menschenwürde,
als ich in die SPD eintrat, war es die Partei Europas,
als ich in die SPD eintrat, war es die Partei der Bildung für alle,
als ich in die SPD eintrat, war es die Partei der Aufklärung,
als ich in die SPD eintrat, war es die Partei der Gleichberechtigung,
als ich in die SPD eintrat, war es die Partei des Ausgleichs und des Friedens.
Kurz: Für mich war die SPD immer die Partei des Fortschritts und der Erneuerung und nie eine Partei der Verteidigung des Status Quo. Das kann sie auch heute wieder sein. In dieser Regierung. Dafür braucht sie inhaltliche Zuspitzungen, die auch zu Symbolen taugen, denn nur dann kann man dafür Mehrheiten gewinnen – auch mediale Mehrheiten. Haltung heißt, nicht immer für eine Sache zu kämpfen, die eh alle gut finden. Sondern auch für Dinge, die nicht so viele gut finden, aber die gerade deshalb die Gesellschaft modernisieren und voran bringen. Also die doppelte Staatsbürgerschaft, die völlige Gleichstellung der Homoehe, die Frauenquote in Führungspositionen und anderes mehr. Nichts davon kostet den Staat Geld, alles davon bringt Deutschland weiter. Und dann geht es auch um Symbole, deren Bedeutung vielleicht noch keiner entdeckt hat. Denn wer hat beispielsweise vermutet, dass das Elterngeld alleine die Familienpolitik der CDU auf einen Schlag ins 21. Jahrhundert katapultieren würde?
Die SPD hat eine ganze Menge neuer, junger Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Es hat sich an vielen Stellen ein Generationswechsel vollzogen. Die Lähmung der Nach-Agenda-Zeit kann endlich überwunden werden, ist doch die Agenda selbst ein überholtes Programm, von dem Teile funktioniert haben und andere nicht. Wie es eben so ist, wenn man regiert und nicht nur nörgelnd in der Opposition sitzt. Das ist für die meisten Menschen alles längst vergessen, denn die interessiert das Morgen und das Übermorgen nicht 2002.
Also, ihr jungen Abgeordneten: sucht euch lieber etwas, mit dem die SPD endlich wieder die Territorien erobern kann, die einmal ihre waren. Macht gute Politik, aber macht sie so, dass man es merkt! Sucht euch gute Symbole, die dafür geeignet sind, Menschen für euer Anliegen zu elektrisieren. Sucht neue Antworten auf die Fragen der Zeit – aber sucht sie auf der Höhe der Zeit und im Einklang mit den Werten dieser Partei, die seit 150 Jahren für den Fortschritt in diesem Land steht und nicht für den Stillstand. Erweiter das Spektrum der SPD wieder – nur dann wird sie wieder eine starke Volkspartei.
Wenn ich gefragt würde, was diese Partei in den Koalitionsverhandlungen am dringendsten braucht, dann wäre meine Antwort: Sie braucht ganz dringend ein Motto für die kommenden vier Jahre. Ich schlage mal den Klassiker vor: „Wir schaffen das moderne Deutschland.“ Und jetzt zieht los und treibt sie an, die Selbstgefälligen, die Satten, die Sesselkleber und die Blockierer und vor allem die Zögerer und Zauderer im Kanzleramt – aber auch die in den eigenen Reihen.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus einem Vortrag vor dem Netzwerk Berlin in der Parlamentarischen Gesellschaft Berlin vom 5.11.2013.