Als eine einzige Stimme die US-Wahl entschied.

Fun Facts zur US Wahl (Part 3)

Eigentlich ist es nicht wirklich ein Fun Fact, den ich heute schildere. Aber die extrem knappen Umfragen aus den USA machen es wahrscheinlich, dass am Ende Prozesse und Gerichte – oder gar der Supreme Court selbst – diese Wahl letztendlich entscheiden werden. Das ist allerdings auch nicht gut für Kamala Harris, denn das Oberste Bundesgericht ist fest in der Hand der Republikaner. Wie sich eine Präsidentschaftswahl am Ende an nur einer einzigen Stimme entscheiden kann, zeigte die Wahl 2000. Aber diese hatte ein fast zehnjähriges Vorspiel….

Im Jahr 1991 arbeitete ich im United States Senate bei einem Senator aus Tennessee, namens Al Gore Jr. Eine der wichtigsten Entscheidungen, die in diesem Herbst anstanden, war die Ernennung eines neuen Obersten Verfassungsrichters am Supreme Court der USA, da eine absolute Instanz aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt schied: Thurgood Marshall, Jahrgang 1908, war der erste afroamerikanische Verfassungsrichter und bereits 1967 von Präsident Lyndon B. Johnson ernannt worden. Er wollte die kommenden Wahlen noch abwarten – aber er konnte nicht mehr. Präsident George Bush Sr. hatte nun das Vorschlagsrecht. Er entschied sich dafür, den Posten erneut mit einem Afroamerikaner zu besetzen und zwar mit dem konservativen Clarence Thomas aus Georgia. Der war zwar wirklich ziemlich stramm rechts – aber natürlich fiel es den Demokraten schwer, gegen ihn zu argumentieren. Schließlich wurde ein Afroamerikaner durch einen Afroamerikaner ersetzt.

Doch der ehrenwerte Richter sah sich bald mit dem Vorwurf sexueller Belästigung am Arbeitsplatz konfrontiert. Seine ehemalige Kollegin Anita Hill brachte ihn vor und wurde durch ihren Mut rasch zur Ikone der amerikanischen Frauenbewegung. Zahlreiche unappetitliche Details wurden in den Medien auf und ab diskutiert. Anita Hill bestand sogar einen Lügendetektor-Test, Thomas lehnte eine Teilnahme ab. Dennoch war die Zustimmung zu Clarence Thomas aus dem Süden und auch aus dem Heimatstaat von Senator Gore sehr groß. Am Ende blieb es trotz einer spektakulären Anhörung von Frau Hill vor dem Senat bei einer Glaubensfrage, welcher Aussage man nun folgen wollte.

Bei uns im Büro stapelte sich säckeweise Post aus Tennessee. Denn Amerikaner machen gerne von ihrem Recht gebrauch, ihren Abgeordneten die Meinung zu sagen. Damit der Senator den Überblick behielt, wurde die Post in »Zustimmung zur Nominierung« und »Ablehnung der Nominierung« von Clarence Thomas unterteilt. Briefe, die eine differenzierte Sicht der Dinge enthielten, waren natürlich völlig uninteressant.

Al Gore kam immer mal wieder vorbei und nahm kommentarlos zur Kenntnis, dass eine überwältigende Mehrheit seiner Wähler für eine Nominierung von Clarence Thomas plädierte. Auch im Senat zeichnete sich trotz demokratischer Mehrheit eine knappe Zustimmung ab. Für Gore wäre es daher am einfachsten gewesen, der Mehrheitsmeinung zu folgen. Er tat es nicht. Er glaubte Anita Hill, misstraute Thomas und stimmte gegen ihn. Am 15. Oktober 1991 wurde Thomas vom Senat dennoch mit sehr knappen 52 zu 48 Stimmen bestätigt und bezog wenig später sein Büro nur einen Steinwurf vom Capitol entfernt.

Die Jahre zogen ins Land. Gore wurde 1992 zum Vizepräsidenten unter Bill Clinton gewählt, 1996 gewann Clinton/Gore die Wiederwahl und 2000 wurde Al Gore dann selbst Präsidentschaftskandidat der Demokraten gegen George W. Bush.

Am 7. November 2000 fand die Wahl statt, die über einen Monat lang nicht entschieden wurde. Noch in der Nacht hieß der Sieger erst Al Gore und dann Bush Jr. Die Auszählungen und juristischen Scharmützel rund um das Auszählungsergebnis im entscheidenden Bundesstaat Florida zogen sich über Wochen hin. Das mächtigste Land der Welt stand ohne Nachfolger für den im Januar scheidenden Bill Clinton da. Viele Beobachter vermuteten, dass eine erneute und vollständige Auszählung der Stimmen zeigen würde, dass Al Gore und nicht George W. Bush die Wahl gewonnen habe.

Der Rechtsstreit landete am Ende, wie vorauszusehen war, vor dem Obersten Verfassungsgericht in Washington, D. C. Der Supreme Court entschied am 8. Dezember des Jahres 2000 mit 5:4 Stimmen gegen eine erneute Auszählung. Der 43. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hieß damit George W. Bush. Die fünfte und ausschlaggebende Stimme zu dieser knappsten aller Entscheidungen kam von Richter Clarence Thomas. Die Zeitbombe hatte fast ein Jahrzehnt lang ganz langsam und sehr leise vor sich hin getickt.