Wir leben in einer Zeit, in der es kein unpolitisches Leben mehr geben kann. Denn das Politische ist viel zu präsent und viel zu laut, um übersehen oder überhört zu werden.
Es gab mal eine Zeit – und die ist gar nicht so lange her – da kam man mit dem Satz: „Ich interessiere mich nicht so für Politik “ noch einigermaßen unbeschadet durch den Tag. Es interessierte sich ein gutes Jahrzehnt lang zwischen 2005 bis 2015 ja noch nicht einmal die Politik besonders für Politik. Merkel regierte mal mit diesem, mal mit jenem Partner emotions- und geräuschlos vor sich hin, Konfliktpotential gab es kaum und für das globale Wohlempfinden sorgte Barack Obama im Weißen Haus. Fußball war Fußball, die multikulturelle Nationalmannschaft eilte vom Sommermärchen zum WM-Titel und die Wirtschaft von der Finanzkrise zu neuen Rekorden. Europa hatte zwar ein großes Problem in Folge der Finanzkrise, aber alles in allem blieb man doch zusammen und griff Spanien, Portugal und Griechenland unter die Arme.
Wie jeder Blick zurück romantisiert auch dieser, um den Blick auf die Gegenwart zu dramatisieren.
Aber die Gegenwart braucht vielleicht gar keine zusätzliche Dramatisierung. Sie ist schon dramatisch genug und jedes Schweigen ein Statement.
Das Schweigen der DAX-Vorstände und anderer prominenter Unternehmer, die zu feige und zu sehr in ihren Krämerseelen gefangen sind, um den Aufruf von Siemens-Chef Kaeser gegen die AfD zu unterstützen.
Das Schweigen und die Feigheit der „Mannschaft“ und ihres Trainers, den offensichtlichen Rassismus der DFB-Spitze bei der „Aufarbeitung“ des WM-Desasters zu kommentieren.
Das Schweigen vieler Kulturschaffenden, die sich zu fein sind, gegen Tellkamp, Safranski, Maron, Sloterdijk und die anderen intellektuellen Trittbrettfahrer der Neuen Rechten Stellung zu beziehen.
Es hat scheinbar einige gegeben, die darauf gewartet haben, dass man endlich wieder von Kopftuchmädchen, Messerstechern, Asyltouristen oder Sozialschmarotzern sprechen darf – und gleichzeitig für AfD, CDU oder CSU im Parlament sitzen kann. Und diese, die gewartet haben, mühen sich jetzt, das Rad weiter zu drehen. Sie mühen sich nun, dem Hass, der Ausgrenzung und der Sündenbockpolitik den philosophischen Unterbau nachzureichen. Oder sie nutzen die neue Verrohung, um sich schnell selbst aus der Schusslinie zu nehmen und andere in diese zu schubsen. Und zwar gerne die, die sowieso schon anders sind.
Nein, es gibt nichts unpolitisches mehr im Alltag. Einem Alltag, in dem schon der Besitz von Kochbüchern Anlass zur Einordnung in „National“ oder „Antideutsch“ geben kann.
In dem der Name eines Menschen Anlass zur anlasslosen Beschimpfung wird. Ein Alltag, in dem Hilfeleistende beschimpft oder gleich verhaftet werden.
Es ist ein Alltag, der denen, die gegensteuern vorwirft, sie würden immer gleich die Nazikeule schwingen. Während die Nazis längst keulenschwingend durch die Straßen, Verbände, Parlamente und Feuilletons ziehen. Aber in welchem Land soll man denn mehr vor Nazis warnen, als in der Heimat der Nazis?
Es ist das Jahr 2018 und es gibt kein unpolitisches Leben mehr. Es sei denn, wir wollen von der Nachwelt später zu denen gezählt werden, die so lange auf dem Vulkan tanzten, bis er sie verbrannte. Aber vorher hatten wir unseren Spaß und unser bequemes, unpolitisches Leben auf der Tribüne.
Dieser Text erschien zuerst auf richelstauss.de