Wenn man sich über viele Jahre mit politischer Kommunikation beschäftigt, dann kommt man an bedeutenden Reden natürlich nicht vorbei. Von manchen Reden kennen wir nur noch berühmte Soundbites („I have a dream“, „Ich bin ein Berliner“, „A house divided against itself cannot stand“. „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“) – aber eine richtig gut komponierte Rede in Gänze zu lesen ist leider ein seltenes Vergnügen geworden.
Am 12. September 2015 hielt Olaf Scholz in Hamburg so eine Rede. Und ich möchte euch empfehlen, die Zeit zu nehmen, diese ganz zu lesen. Es lohnt sich.
Mein liebster Absatz:
„Sie sehen kleine Jungs, die vielleicht aus Syrien kommen und mit kleinen deutschen Fahnen winken, Sie können Geschichte, die gerade passiert, hier erleben: Auf dem Hauptbahnhof, in ihrem Viertel. Sie haben die Chance, der Geschichte Deutschlands ein neues, gutes Kapitel hinzuzufügen.“
Rede zur Kundgebung „Hamburg bekennt Farbe“ für Demokratie, Toleranz und Vielfalt
Sehr geehrte Frau Präsidentin der Bürgerschaft,
liebe Hamburgerinnen und Hamburger,
am Durchgang zu Brücke 3 an den St. Pauli Landungsbrücken gibt es eine Gedenktafel. Sie erinnert an 900 deutsche Juden, die hier in Hamburg im Mai 1939 auf der Flucht vor dem Terror der Nationalsozialisten das Schiff „St. Louis“ bestiegen. Voller Trauer und auch mit Hoffnung verlassen sie ihr Land mit gültigen Einreisepapieren für Kuba und die USA. Und kommen nie da an.
Gustav Schröter hieß der Kapitän, des Dampfers der HAPAG-Rederei, der alles versuchte, um für die Flüchtlinge einen sicheren Hafen zu finden. Trotz der Zusage weist Kuba die Flüchtlinge ab und auch Roosevelt, damals Präsident der USA, will niemanden mehr aufnehmen. Die Flüchtlinge sehen schon die Lichter von Miami als das Kommando aus Hamburg kommt: Die „St. Louis“ muss zurück. Zurück nach Deutschland, das bedeutete den sicheren Tod. Inzwischen wird die Weltöffentlichkeit auf das Schicksal der verzweifelten Juden aufmerksam. Im Juni kommt die erlösende Nachricht: Belgien, Holland, Frankreich und England nehmen die Flüchtlinge auf. Fast alle überleben den Krieg, dennoch 254 der Passagiere, die auf den Kontinent verteilt wurden, ermorden die Nazis. Wir dürfen die St. Louis, und das Schicksal ihrer Passagiere nicht vergessen, wenn wir heute handeln!
Denn: Unter den Augen der Weltöffentlichkeit, fliehen auch heute wieder Frauen, Männer und Kinder vor Krieg und Terror.
Sie fliehen aus Syrien. Seit mehr als vier Jahren tobt dort ein Krieg, der aus einem Aufstand gegen das Regime hervorgegangen ist und mittlerweile mehrere kämpfende Parteien hat. Vor allem aber hat er sämtlichen Städten und Regionen massenhaft Tod und Zerstörung gebracht. Die staatlichen Strukturen zerfallen. Das Risiko für die Bevölkerung, Opfer von Gewaltakten zu werden ist sehr hoch und die Terrororganisation IS kontrolliert große Teile vor allem im Osten des Landes.
Sie fliehen aus Afghanistan: Frauen, Männer und Kinder. Wir kennen die lange tragische Vorgeschichte des Landes, über das jahrzehntelang immer andere bestimmt haben und wo das Leben und die Rechte der Bewohner geringen Wert hatten. Nach dem Ende von ISAF ist die Sicherheitslage in vielen Landesteilen instabil.
Sie fliehen aus dem Irak, weiterhin eines der gewalttätigsten und gefährlichsten Länder der Welt. Durch Terroranschläge und Gewalttaten sind in den vergangenen Jahren unzählige Bewohner ums Leben gekommen. Man spricht von etwa 3,7 Millionen Irakern, die sich bis heute auf der Flucht befinden, übrigens die Hälfte davon im eigenen Land.
Die Sicherheitslage ist im Irak fast überall schlecht, am meisten in den Provinzen, die unter Kontrolle terroristischer Milizen stehen. Ja auch hier wütet der Terrorismus des IS, werden Unzählige wegen ihres Glaubens verfolgt.
Aus Eritrea und Somalia, zwei Ländern einer Katastrophenregion kommen Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl suchen. In Eritrea, einer präsidialen Diktatur ohne Gewaltenteilung, wird die Lage seit Jahren durch den Grenzkonflikt mit Äthiopien bestimmt. Die Gesellschaft ist weitgehend militarisiert, Grundrechte können so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen werden, es gibt Sondergerichte und zahlreiche Regimekritiker sind in den vergangenen 15 Jahren ohne rechtsstaatliche Verfahren verhaftet und an geheimen Orten inhaftiert worden.
Hamburg steht – aus all diesen Gründen – vor einer großen Aufgabe. Und ich habe den Eindruck, dass sehr viele Hamburgerinnen und Hamburger mutig und mit ganzem Herzen an diese Aufgabe gehen. Hamburg bekennt Farbe… oder wonach sieht es sonst aus?
Viele, die zurzeit zu uns kommen, tun das übrigens auch, Farbe bekennen. Manche ganz wörtlich, indem sie sich mit Fingerfarben schwarz/rot/gold markiert haben. Andere, indem sie auf die Frage, wie sie sich kurz nach ihrer Ankunft jetzt fühlen, als erstes sagen: frei und optimistisch, und ich möchte am liebsten in einem bekannten Industriebetrieb arbeiten. Oder Informatik studieren. Jedenfalls: etwas tun und vorankommen.
Nicht jeder Traum wird in Erfüllung gehen – viele hoffentlich ja –, aber dass wir für so viele ein Hoffnungsland, das Hoffnungsland sind, kann uns – noch während wir tief durchatmen angesichts der Aufgabe und der Verantwortung – kann uns stolz machen.
Viele sind heute hier, die so denken und fühlen und das für alle hörbar zum Ausdruck bringen wollen; andere sind nicht hier, weil sie auch jetzt zur Stunde anpacken und helfen an einer Stelle, an der sie gebraucht werden. Ich danke allen sehr herzlich. Ohne Sie, Ihren Einsatz und Ihr Bekenntnis zur Hilfsbereitschaft ginge es nicht.
Das übrigens ist patriotisches Handeln. Im Vorfeld der für heute angemeldeten Demonstration ist versucht worden, dem Begriff eine falsche Bedeutung zu geben. Patriotismus ist gut, er bedeutet, sich als Bürgerin und Bürger für das Gemeinwohl zu engagieren. Er bedeutet nicht, sich aggressiv und herabwürdigend gegen andere abzugrenzen, Flüchtlinge und Zuwanderer auszugrenzen, sich fremdenfeindlich und nationalistisch zu verhalten. Sondern: Gegenseitige Hilfe und Solidarität, die machen unsere Gesellschaft stark.
Groß ist die Aufgabe, kein Zweifel, vor der Hamburg steht – wie ganz Deutschland, wie ganz Europa. Fast 20.000 Flüchtlinge, die an einem einzigen Wochenende allein über Ungarn in Deutschland angekommen sind; vielleicht 40.000 an diesem Wochenende. Das ist eine Situation, die uns Fragen stellen lässt, die uns herausfordert. Und doch: wenn auf dem Budapester Bahnhof verzweifelte Flüchtlinge Deutschland rufen, Germany, Germany, dann bleibt keiner von uns unberührt. Wenn im Internet, in den sozialen Netzwerken, in den Nachrichtensendungen der Fernsehsender in aller Welt gezeigt wird, wie in den Bahnhöfen Deutschlands Flüchtlinge mit Beifall empfangen werden, dann dürfen wir ein wenig glücklich sein über unser Land. Unser Land, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so viel Unheil angerichtet hat und das sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts von einer ganz anderen Seite zeigt.
Migration und Zuwanderung gehören zur Geschichte Hamburgs.
Hamburg hat z.B. nach dem Krieg, in Zeiten von Hunger, Arbeitslosigkeit und vollständiger Entkräftung 275.000 Heimatvertriebene und Flüchtlinge aufgenommen. In der Stadt gab es damals keine 300.000 Wohnungen, die Hälfte der einstigen Wohnungen waren zerstört. 1,7 Millionen Menschen lebten im zerstörten Hamburg.
Und Hamburg hat es doch geschafft. Sie kennen die Bilder von den Baustellen und den Nissenhütten. Wir sehen sie heute als Symbole einer Zeit des beispiellosen Aufbaus, der Eingliederung und der Hoffnung.
Aufbau, Eingliederung und Hoffnung, das sind drei Faktoren, die für das Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre eine entscheidende Rolle spielten. Viele von Ihnen, die heute hier auf dem Rathausmarkt stehen, haben diese Zeit erlebt, haben vielleicht selbst Eltern oder Großeltern, die fliehen mussten.
Die Aufgabe heute klingt deshalb ähnlich und ist doch anders: Eingliederung wird ein langer Weg. Er beginnt mit Sprachkursen und Integration in Schulen. Es geht weiter mit der Integration in den Arbeitsmarkt und in das soziale Umfeld. Die Frauen und Männer, die zu uns kommen, sprechen andere Sprachen, kommen aus anderen Traditionen und haben andere Wurzeln. Es wird Probleme geben. Und Konflikte. Und die Herausforderung, der wir uns stellen, darf nicht klein geredet werden. Das hilft niemandem; schon gar nicht den Flüchtlingen. Unterkünfte müssen schnell geschaffen werden und werden lange das Stadtbild prägen. Wir müssen Kitas und Schulen ausbauen und noch mehr Wohnungen errichten. Wir brauchen Wachstum und Arbeitsplätze. Und die öffentlichen Finanzen werden in ungeplanter und nicht gekannter Höhe in Anspruch genommen. Und weil wir die Größe der Herausforderung genau kennen und nicht unterschätzen, können wir doch sagen: wir kriegen das hin!
Ja, wir werden Unterstützung leisten – und gleichzeitig werden wir Anforderungen stellen: Die demokratische, säkulare und tolerante Gesellschaft, die die Flüchtlinge freundlich aufnimmt, wird sich verändern, aber sie wird auch weiterhin demokratisch, säkular und tolerant sein!
Wir werden darauf bestehen, dass nicht nur Nahrung und Hilfsangebote, sondern auch unsere Werte weiter gegeben werden. Werte von Leistung und Zuverlässigkeit, die unsere Arbeitswelt prägen, freiheitliche Werte, von Selbstbestimmung und Respekt, die den Umgang mit Religion und Sexualität bestimmen und politische Werte der Partizipation und Anerkennung von Opposition.
Meine Damen und Herren,
Deutschland und Hamburg haben aus bitteren Erfahrungen mit Gewalt und Extremismus gelernt. Wir sind Demokraten. Als Demokraten schenken wir denen, die Gewalt und Hass verbreiten, nicht unsere Angst. Wir wollen sie nicht größer machen als sie sind. Sie werden nicht zerstören, was unser Miteinander ausmacht: den Respekt vor der Würde der Menschen.
Weit jenseits unserer Werte- und unserer Rechtsordnung stehen diejenigen, die Flüchtlingsunterkünfte anzünden und Menschen bedrohen, womöglich gewalttätig angreifen. Weit jenseits von demokratischen Werten stehen auch alle, die Argumente durch Ressentiments ersetzen und die Gesellschaft spalten, statt zu erkennen, dass das Gegenteil gefragt ist: zusammenhalten.
Und ich bin froh, dass in Deutschland eine so deutliche Mehrheit die öffentliche Diskussion bestimmt, die für den Zusammenhalt steht. Und dabei können wir uns auf engagierte Medien, die kontrovers, investigativ und an Fakten orientiert arbeiten, verlassen; Medien, denen es gelingt, ein so hoch emotional besetztes Thema zu strukturieren und die Gefühle trotzdem zuzulassen.
Wir stehen für eine Stadt, die von ihrer Vielfalt und ihrer Weltoffenheit lebt. So sagt es der Aufruf zu dieser Kundgebung, den ein großes Bündnis unterschrieben hat. Und ich füge hinzu: In ganz Deutschland erkennen wir immer klarer, dass die Welt so oder so näher zusammenrückt und dass es gut ist, diese Entwicklung zu gestalten.
Klar ist auch, dass Fortschritte im Kampf gegen Fluchtursachen erzielt werden müssen, auch wenn diese Ursachen komplex und in vielen Fällen der Einfluss Europas gering ist. Mehr Hilfe für die Nachbarländer der Krisengebiete wäre ein Schritt, überhaupt Krisenbewältigung und -prävention. Entwicklungspolitik hat seit jeher ihre Grenzen dort, wo kaum Staatlichkeit besteht, schon gar nicht demokratisch legitimierte, und wo institutionelle Strukturen und die Möglichkeit friedlicher Konfliktlösung stabilisiert oder erst geschaffen werden müssen.
Die vielen Flüchtlinge sind eine gemeinsame Sache Europas. Alle Länder Europas müssen zusammen handeln. Und es ist gut, dass darüber jetzt geredet oder genauer – gestritten – wird. Unsere gemeinsamen Überzeugungen sind ja nicht schon immer da. Sie sind in der offenen Gesellschaft das Ergebnis eines Ringens um den richtigen Standpunkt. Unser Standpunkt ist klar: alle Länder müssen Flüchtlinge aufnehmen. Nicht nur einige wenige.
Hamburg wird einen eigenen Beitrag leisten. Wir konzentrieren – wie das ganze Land – unsere Hilfe auf diejenigen, die zu uns kommen und Schutz vor Verfolgung und Krieg suchen. Wir werden die Herausforderung annehmen und beispielhaft Lösungen finden. Das betrifft aktuell zu allererst die Unterbringung, und zwar die Erstaufnahme und die Folgeunterbringung. Viele Unterkünfte sind durch vereinte Anstrengungen schon geschaffen worden, darunter etliche Zeltdörfer, die hoffentlich nur eine vorübergehende Lösung und keine für die Wintermonate sein werden. Wir werden mit Provisorien leben müssen, das geht gar nicht anders. Weder hier noch sonst wo auf der Welt. Und doch: Wir werden stolz sein können, dass wir uns kümmern, dass wir nicht nachlassen, unsere Kräfte zu bündeln, und gemeinsam anzupacken.
Die Behörden dieser Stadt, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten in diesen Tagen Großes und die Zustimmung und Mithilfe der Hamburgerinnen und Hamburger ist ebenfalls groß, fast an allen Standorten gibt es Unterstützerinitiativen. Ich bitte alle, darin nicht nachzulassen. Und vor allem: Danke!
Ich danke auch für die Initiativen der Handelskammer und der Handwerkskammer, überhaupt der hamburgischen Wirtschaft und vieler einzelner Betriebe. Denn der entscheidende Schlüssel zur Integration besteht in schnellerer und besserer Ausbildung und darin, dass so viele wie möglich in eine berufliche Tätigkeit vermittelt werden.
Hamburg hat seinerseits sein neues Projekt „Work and Integration for Refugees“ vorgestellt, kurz „WIR“. Wir, ein gutes Wort! Es geht darum, vorhandene Qualifikationen abzufragen, alle Personen im erwerbsfähigen Alter zu registrieren und diejenigen mit einer guten Bleibeperspektive in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das heißt unter anderem, die ungefähr 15.000 offenen Stellen für sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten, die es in Hamburg gibt, zu besetzen, wovon alle Seiten etwas haben. Und natürlich ist auch hier das Deutschlernen das A und O. Hamburg wird seine guten Erfahrungen mit der Jugendberufsagentur nutzen.
Meine Damen und Herren,
„Gestern bin ich mit dem Zug aus München, gemeinsam mit hunderten Flüchtlingen gekommen“, das sind die Geschichten die sich Hamburgerinnen und Hamburger heute erzählen. Sie sehen kleine Jungs, die vielleicht aus Syrien kommen und mit kleinen deutschen Fahnen winken, Sie können Geschichte, die gerade passiert, hier erleben: Auf dem Hauptbahnhof, in ihrem Viertel. Sie haben die Chance, der Geschichte Deutschlands ein neues, gutes Kapitel hinzuzufügen.
Es ist eine logistische Herausforderung, es ist eine gigantische finanzielle Herausforderung. Aber all das ist zu schaffen, wenn Sie alle weiter mitmachen.
Deutschland hat sich verändert. Durch Sie.
Meine Damen und Herren,
gleich um 12 Uhr wollen alle Radiosender Hamburgs ein berühmtes Lied spielen, um an den alten und immer neuen Traum zu erinnern:
„Imagine all the people / Living life in peace“
von John Lennon, dem Engländer und vorübergehend Hamburger, dem dieser Traum, diese Erkenntnis, dass wir alle zusammengehören, nicht in die Wiege gelegt wurde. Er hat sich durch trial and error zu dieser Erkenntnis durchkämpfen müssen, und er ist für sie eingestanden, auch gegen mancherlei Hohn, Spott und Anfeindung. Wir alle sollten nicht davor zurückscheuen, uns ständig weiter zu entwickeln, als Einzelne und als Gesellschaft, und dafür einzustehen, dass wir alle zusammengehören und dass wir gerade für die Platz haben, die unsere Hilfe brauchen.
Ich danke Ihnen.
Es gilt das gesprochene Wort.