LMAA oder Lust aufs Regieren?

Gerade komme ich von einer kurzen Auslandsreise zurück, auf der ich mehrfach gefragt wurde, weshalb denn niemand ein Land am Rande der Vollbeschäftigung mit prall gefüllten Steuersäcken und ständig nach oben korrigierten Wachstumsraten regieren will. Das empfand ich als eine nicht gänzlich unberechtigte Sicht von außen.

Deutschland will niemand regieren. Wer sich an die lustlose Erklärung von Frau Merkel erinnert, in der sie ihre Kandidatur dahinmäanderte, weiß, dass auch sie keine Lust mehr hat. Dass sie keine Ideen hat, ist nicht der Grund, die hatte sie ja noch nie. Es macht ihr einfach keinen Spaß. Martin Schulz hatte drei Monate Freude an der Sache, solange er als Kanzler gehandelt wurde. Linke und AfD wollen sowieso nicht oder es will keiner mit ihnen, die FDP kann aus Selbstbesoffenheit nicht und die Grünen feiern sich seit einer Woche dafür, dass sie nicht regieren müssen.

Jetzt habe ich auch keine Lust mehr. Ich bin politikverdrossen. Und das nach vierzig Jahren eines Lebens als Politjunkie.

Vor allem auch, weil immer alle von Problemen reden und niemand Lust auf Lösungen hat. Lust daran, unsere Infrastruktur auf Vordermann zu bringen, schnelles Internet in jeden Winkel des Landes zu legen, unsere Schulen zu modernisieren, Europa neues Leben einzuhauchen, den öffentlichen Personennahverkehr mit e-mobility und neuen Ideen voranzubringen, die Gleichberechtigung endlich zu vollenden, das Land wieder mit der Stadt zu vereinen, soziale Verwerfungen auszugleichen, ein vernünftiges Einwanderungsgesetz als Voraussetzung für ein funktionierendes Einwanderungsland zu prägen, über neue Arbeitszeitmodelle und Lebensarbeitszeitmodelle offen zu sprechen, die Energiewende zu vollenden – ja, ich weiss ja gar nicht mehr, wo man anfangen und aufhören soll, so viele spannende Aufgaben liegen vor uns. Wie kann man denn da keine Lust darauf haben?

Anders gesagt: Ich bin persönlich beleidigt, dass mich niemand regieren will. Und das, obwohl ich seit meinem 18. Geburtstag zu jeder Gelegenheit von meinem Wahlrecht gebrauch gemacht habe und auch sonst ein ordentlicher Staatsbürger bin, der nur gelegentlich falsch parkt. Und zu schnell fährt. Und – ach, lassen wir das.

Nur fürchte ich, dass noch mehr Leute in diesem Land beleidigt sein dürften – allerdings mit weitreichenderen Konsequenzen, die mir nie in den Sinn kämen.

Als Staatsbürger habe ich seit der Bundestagswahl viele Begründungen gehört, weshalb welche Partei aus welchen Gründen auch immer nicht regieren kann oder will. Es handelte sich meist um rein taktische Erwägungen. Die konnte ich mal mehr, mal weniger nachvollziehen und als Sozialdemokrat hielt ich es auch für sehr gut begründbar, weshalb die anderen jetzt mal ran sollten. Sie wollten nicht.

Lindner, weil er aus der FDP die Freiheitlichen machen will –  nur weniger rassistisch, dafür mit Diesel, aber ohne Europa, Umweltschutz, Flüchtlingen, Elektroautos und allem Sozialen. Seehofer, weil er Seehofer ist und sich selbst ständig Fallen stellt, um die er dann auf Kosten der Republik herumtapsen muss. Die SPD, weil sie sich in Reha begeben wollte, aber jetzt nicht darf. Und die CDU, die zwar will, aber auch nur, weil sie mit der Merkelnachfolge noch nicht soweit ist und solange noch das Kanzleramt braucht. Eine Idee für das Land hat sie nicht und hat daher im Vorfeld der Wahl auch jede Debatte darüber verweigert.

Ihr fahrt alle zusammen gerade die Demokratie vor die Wand.

Mehr zum Thema auch in der Phoenix Runde vom 28.11.2017

Phoenix Runde 28.11.17

 

Nach vorne denken. Teil 1

Eine kleine, lockere Serie an Denkanstößen für sozialdemokratische Parteien im Selbstfindungsmodus. Heute: Mobilität.

In Niederbayern fährt der erste Bus ohne Fahrer. Ja gut, es fährt noch ein Begleiter mit wie früher in den Aufzügen, um den Leuten die Angst zu nehmen, aber ansonsten fährt der Zubringer von alleine. In Berlin und anderorts wird das auch gerade erprobt.

Man kann das jetzt so sehen: OH MEIN GOTT – ALLE BUSFAHRER VERLIEREN IHRE ARBEIT UND ALIENS ÜBERWINTERN AUSGERECHNET GERADE JETZT IN WEST VIRGINIA. Oder man kann es als eine große, unverhoffte Chance für die Mobilität im ländlichen Raum und in einer alternden Gesellschaft sehen. Eine Zukunft, in der wir die Menschen für Besseres gebrauchen können, als ein Fahrzeug im Kreis zu fahren. Anders ausgedrückt. Bevor es Busse gab, haben die Busfahrer auch etwas anderes gemacht – und das ist noch gar nicht so lange her. Die Welt dreht sich.

Mobilität ist ein Riesenthema der Zukunft. Der sehr nahen Zukunft. Eigentlich der Gegenwart. Aus vielerlei Gründen. Wir erleben weltweit und auch sehr deutlich in Deutschland einen Metropolentrend. Der hat bei stagnierender oder abnehmender Bevölkerungszahl automatisch eine Landflucht zur Folge. Das erleben die zurückgebliebenen Menschen in diesen ländlichen Regionen als spürbaren Niedergang. Wenn junge Leute fehlen, fehlen Kitas, Schulen, Busse, Läden, Leben. Das wird man nicht für alle Regionen ändern können, denn das ist eben der Lauf der Zeit. Es sind in der Geschichte der Welt schon blühendere Regionen untergegangen als das Erzgebirge.

Für andere Regionen gilt das aber nicht – oder nicht mehr lange. In Deutschland befinden wir uns gerade auf einem Scheideweg. Die Metropolen werden für viele junge Menschen – und hier natürlich besonders die Familien – immer unbezahlbarer. Als junger Mensch wechselt man noch häufiger den Wohnort, zieht zusammen (hin und wieder auch wieder auseinander), gründet eine Familie, bekommt Kinder, braucht mehr Raum und wechselt daher natürlich häufiger die Wohnung. Oder würde es gerne. Denn jeder Wohnungswechsel in einer Metropole wie München, Frankfurt, Hamburg, Düsseldorf, Köln, Berlin etc. ist in der heutigen Zeit eine schier unlösbare und meist auch unbezahlbare Angelegenheit.

Man kann jetzt in der zu kleinen Wohnung warten, bis Gegenmaßnahmen ziehen (so sie denn gegen den Widerstand von CDU/CSU und FDP überhaupt durchgesetzt werden können) – oder man überlegt sich, in die Umgebung zu ziehen. Die „Speckgürtel“ rund um die deutschen Metropolen boomen und dehnen sich immer weiter aus – in die ländlichen Regionen. Gerade dort hat man aber in den vergangenen Jahren die Infrastruktur zurückgebaut, sträflich vernachlässigt oder kaputtgespart. Meist alles zusammen. Nicht selten fahren Busse – wenn überhaupt – in unmöglicher Taktung (2-3-Stunden-, manchmal 4-Stunden-Takte sind keine Seltenheit), der Schienenverkehr wurde stillgelegt und Personal fehlt auch (weil die jungen Menschen weggezogen sind).

Aber nur eine funktionierende öffentliche Nahverkehrsversorgung wird die Lage in den Metropolen entspannen und die ländlichen Regionen wieder attraktiv machen. Von der digitalen Infrastruktur mal ganz abgesehen, die es selbstverständlich auch dringender denn je braucht. Selbstfahrende Busse, reaktivierter Schienenverkehr, kurze Taktungen, Ladeinfrastruktur (nicht nur für e-Autos – auch für e-Roller etc.), Fahrradschnellwege, Sharingangebote für das Land – es ist so viel zu tun. So vieles kann unternommen werden, wovon die Menschen sofort profitieren und politische Entscheidungen erlebbar werden.

Aber dafür muss man – ACHTUNG – zuerst das Angebot schaffen – dann kommen auch die Menschen. Das würde aber natürlich bedeuten, dass man vorausschauende Politik macht und nicht Reparaturpolitik. Dass man in die Zukunft investiert und es auch aushält, wenn die Zukunft erst drei Jahre später vorbeischaut. Mit etwas Verwegenheit könnte man das sogar eine kleine Vision nennen. Die kann dann ja noch wachsen.

Mobilität ist eines der drängendsten, akuten Gegenwarts- und Zukunftsthemen. Ich finde, es sollte eine absolute Priorität für eine Partei sein, die sich um die Menschen kümmert. Ich finde das Thema sogar spannender als Personalgeschacher zwischen Parteilinken, Seeheimern und Netzwerkern oder Debatten über Reformprogramme von vor 20 Jahren. Aber das kann man natürlich auch anders sehen. Viele Wege führen zum Erfolg.

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Lasst sie gehen.

Vor vier Jahren gab es sehr gute Gründe für einen Einstieg in die Große Koalition und das Mitgliedervotum der SPD unterstützte diesen Kurs. Heute gibt es sehr gute Gründe, andere regieren zu lassen und auf Macht, Einfluss und Gestaltungsspielraum zu verzichten.

Nein, es war kein Automatismus, dass die SPD zwingend so geschwächt aus einer Großen Koalition gehen würde. Dazu gehörten schon auch eine gehörige Portion Gabrielscher Zick-Zack-Kurs mit dem wiederholt verantwortungslosen Umgang bei der Vorbereitung von Kanzlerkandidatur und Wahlkampfstrategie, sowie der immer noch herumspukende Irrglaube, man könne die SPD mit den Rezepten von gestern und vorgestern neu aufstellen.

Wie schwach Merkel und die Union tatsächlich aufgestellt waren, zeigte sich nicht nur im Aufglimmen der SPD nach der Nominierung von Martin Schulz – sondern eben auch am Wahltag selbst. Merkel war schlagbar, doch ein Wahlkampf der verpassten Chancen ließ sie noch einmal davonkommen.

Noch schlimmer verlief allerdings der Wahlkampf der Union. Ende Juni noch bei 40% in den Umfragen – und erst dann begann ja die heiße Phase – verlor die Union satte 7% durch die wohl bräsigste, arroganteste und selbstgefälligste Bundestagswahlkampagne der Neuzeit. „Für ein Deutschland in dem wir gut und gerne leben“ eignet sich vielleicht als Motto für das Dr. Oetker Kochstudio, aber mit Sicherheit nicht als Guideline für die Kanzlerpartei in einer massiven Zeitenwende. Die Wähler fühlten sich zu recht veräppelt und flüchteten sich – nicht vordringlich zur AfD – sondern vor allem zur FDP oder in die Nichtwählerschaft.

Das Versagen aller drei Regierungsparteien – und auch die intellektuelle Unterforderung der progressiven Wählerinnen und Wähler im Wahlkampf – machte das Ausfransen an den Rändern erst möglich. An manchen Tagen fühlte ich mich wie ein Telefonseelsorger und beantwortete Fragen wie: „Ich möchte nicht, dass die SPD untergeht, aber ich möchte auch nicht, dass sie weiter regiert – was soll ich tun?“ Antwort: Wähl sie trotzdem, es wird schon schlimm genug werden. Oder: „Ich kann das Grünen-Duo nicht leiden, bei der Linken stören mich die Putin-Lover und die SPD soll nicht mehr regieren – wen soll ich wählen?  Antwort: „Dann wähl halt die Grünen, wenn es sonst passt, es ist ja kein Sympathiewettbewerb.“ Und dann kamen natürlich auch einige, die Frau Merkel unterstützen wollten, aber nicht auf die Gefahr hin, damit Herrn Seehofer zu stärken. Tja. Eine Antwort auf die Schizophrenie der Union hatte ich nicht. Die FDP kam natürlich auch vor, weil sie im Gegensatz zu allen anderen auch einen Grafiker bezahlt hatte. Dort störte wiederum die legere Haltung zum Umweltschutz (Motto: Nur nicht einmischen, das wächst von alleine nach).

Beim Wahl-O-Mat siegten bei mir erstmals in meiner persönlichen Geschichte die Grünen. Ich nehme an, es war die Braunkohle. Aber am Ende lasse ich mir von einem schnöden Programm meine Fehlentscheidungen nicht verbieten. Die Grünen landen dann auch ohne mich – nach 13% in den Umfragen im November letzten Jahres – auf einem sehr mageren letzten Platz mit einem Ergebnis von 8,9%, für das Jürgen Trittin vor vier Jahren sofort zurücktreten musste (8,4%). Sie feiern sich dusselig.

Es war ein Trauerspiel.

Ein völlig unnötiges Trauerspiel. Spannende Themen lagen zu Hauf auf der Straße, wurden aber ignoriert. Auch von den mindestens ebenso denkfaulen Fragestellern in den meisten Talkrunden und dort vor allem in dem unsäglichen „DUELL“. Ein in den ersten 40 Minuten lupenreines AfD-Förderprogramm (Maischberger: „Man hat uns versprochen, dass nur gut ausgebildete Akademiker kommen“ Wer? Wann? Quelle?), bei dem ich zum ersten Mal im Leben ernsthaft Zweifel an meinen Gebühren für die Öffentlich-Rechtlichen bekam. Man nimmt ja vieles an Volksberieselung in Kauf in der Annahme, dafür Qualitätsjournalismus zu bekommen. In diesem Wahlkampf leider Fehlanzeige bis hin zur Elefantenrunde danach. Bei der ich erstmals Sympathie für Frau Kipping empfand, die auch dort einmal auf ein paar wirkliche Themen zu sprechen kommen wollte. Der Moderator verhinderte dies erneut mit aller Kraft.

Jetzt will die SPD nicht mehr und ich kann sie verstehen. Wenn mir jetzt wieder einer damit kommt, dass die SPD Verantwortung übernehmen müsse, dann wäre hier meine Antwort: Deutschland ist nicht im Krisenmodus und es steht auch nicht der Untergang vor der Türe. 87% der Deutschen haben nicht AfD gewählt, dafür die Union zur stärksten Kraft gemacht und zwei kleinere, demokratische Parteien ins Parlament gewählt, die in einem Bundesland bereits miteinander koalieren.

Sowohl die Grünen als auch die FDP haben die Regierung in diesem Wahlkampf hart angegriffen – was ja ihr Job ist – und haben jetzt die Gelegenheit, mit ihren Konzepten zu liefern. Diese Chance haben sie sich redlich verdient. Die Grünen wollten ja eh mit Frau Merkel regieren, die FDP auch, dann wird ja auch einem flotten Dreier nichts im Wege stehen. Frau Merkel jedenfalls nicht.

Die SPD wurde nach allgemein anerkannten politischen Erfolgen in der Regierung mit dem schlechtesten Ergebnis in der Geschichte nach Hause geschickt. Man kann beim besten Willen von ihr nicht verlangen, diesen Wählerwillen zu ignorieren und weiter zu regieren.

Sie stand nun vor der Frage, der AfD die Position der stärksten Oppositionspartei zukommen zu lassen, oder selbst diese Rolle zu übernehmen. Sie verzichtet auf entscheidende Häuser: Das Arbeits- und Sozialministerium, das Wirtschaftsministerium, Justiz-, Familien-, Umweltministerien mit all den politischen Einflussmöglichkeiten und auch den entsprechenden Posten. Das ist ein bisher einmaliger Vorgang.

Die SPD leistet mit ihrem Gang in die Opposition einen wichtigen Beitrag für die Demokratie. Es ist dabei trotz allem ein mutiger Schritt. Denn Opposition alleine bedeutet noch keine Rekonvaleszenz, wie die Jahre 2009-2013 – und vor allem auch dort mal wieder die versemmelte K-Frage gezeigt haben.

Diesmal aber geht es um alles – auch um die Existenz. Die SPD befindet sich seit 2002 in einem permanenten Niedergang. Sie wird daher auch einen langen Weg gehen müssen, um wieder stark zu werden. Sie wird ihre Programmatik aktualisieren müssen – und das bei einer alternden Mitgliedschaft- und Gesellschaft. Sie wird intensiv junge Talente suchen und fördern müssen. Sie wird sich in den Ländern organisatorisch neu aufstellen – und vermutlich auch den finanziellen Kahlschlag der letzten Jahre verarbeiten müssen.

Und dann muss sie eine überzeugende Oppositionsarbeit leisten, die nicht nur die neue Regierung herausfordert, sondern auch die Feinde der Demokratie rechts von ihr.

Das wird ein hartes Stück Arbeit. Dafür braucht die SPD alle verfügbaren Kräfte. Und unsere Hochachtung für diesen Dienst an der Demokratie. Lasst sie gehen.

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Die SPD steht vor der Existenzfrage.

Mit Jana Hannemann führte ich am Montag nach der Wahl ein Gespräch, das in der Berliner Morgenpost erschien. So ganz bin ich mir noch nicht sicher, ob wirklich alle Akteure verstanden haben, wie ernst die Lage ist.

Sie gelten als krisengestählter Wahlkämpfer, haben über 20 Kampagnen für die SPD geprägt. Die Genossen hatten sie fest für den Wahlkampf eingeplant. Doch sie sagten ab. Fühlen Sie sich durch das Bundestagswahlergebnis in Ihrer Entscheidung bestätigt?

Frank Stauss: Zum Teil leider ja, obwohl ich mir ein deutlich besseres Ergebnis für die SPD erwünscht hätte. Leider hat dieses Ergebnis einiges von dem gezeigt, was wir im Herbst des vergangenen Jahres bei uns im Team befürchtet hatten.

Nämlich?

Das eine ist: Wenn man eine Kanzlerin wie Angela Merkel schlagen will, die seit zwölf Jahren im Amt ist und auch gute persönliche Werte hat, muss man das mit einer langfristigen Strategie angehen. Es war klar, dass sie nach zwölf Jahren – und das hat das CDU-Ergebnis am Ende auch gezeigt – nicht unschlagbar war. Sie war schlagbar. Es gab eine Art Merkel-Müdigkeit. Dafür hätte die SPD aber auch eine moderne Programmatik entwickeln müssen, mit der sie, neben dem Markenkern sozialer Gerechtigkeit, auch ein zweites Standbein gehabt hätte.

Und womit?

Mit Themen wie Modernität, Innovation, Fortschritt. Das war bis zum Herbst aber nicht geschehen. Und dann ist zweitens natürlich die Frage der Kanzlerkandidatur wichtig. Wir haben 2013 erlebt, wie die SPD mit Peer Steinbrück eine Kanzlerkandidatur aus der Hüfte geschossen hat. Wir haben es 2009 erlebt, als Kurt Beck zurücktrat und Frank-Walter Steinmeier Kandidat wurde. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Frage der Kanzlerkandidatur früher hätte entschieden werden müssen und nicht erst acht Monate vor der Wahl.

Sehen Sie noch weitere Punkte, die zu diesem schlechten Ergebnis geführt haben?

Stauss: Tatsächlich ist es so, dass manche in der SPD, aber auch in ihrem Umfeld, noch der Meinung sind, dass die SPD mit den Rezepten von 1998, manchmal sogar von 1968, heutzutage Wahlen gewinnen kann. Das ist aber falsch. Wir können uns nicht mehr nach dem traditionellen Wahlverhalten orientieren nach dem Motto „Die Arbeiter wählen dieses, die Jungen dieses, die Rentner wählen so, auf dem Land wählt man so und in der Stadt so“.

Um was geht es dann?

Heutzutage bestimmt eine kulturelle Haltung das Wahlverhalten – also sind die Leute pro-europäisch eingestellt, sind sie weltoffen, liberal, sehen sie in der Digitalisierung eher eine Chance als eine Gefahr. Und wenn sie in einigen Teilen der Bevölkerung ein eher traditionelles Weltbild haben – etwa Ausländerfeindlichkeit, Homophobie, Europafeindlichkeit – und das für die Menschen wahlentscheidend ist, dann können sie dort als SPD nicht punkten. Deswegen kann man nicht mehr sagen, dass Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger von der SPD aufgrund ihrer Geschichte erreichbar sein müssen. Diese Personen können trotzdem nicht erreichbar sein, eben weil ihnen andere Dinge wichtiger sind.

Im Januar wurde Martin Schulz noch als „Gottkanzler“ gefeiert und gehypt. Woran liegt es, dass die SPD dieses Stimmungshoch nicht halten konnte?

Stauss: Das liegt daran, dass die Partei in den vergangenen vier Jahren unter Sigmar Gabriel diese eben angesprochene Programmatik nicht entwickelt hat. Die SPD muss sich neue moderne, junge Wählerschichten erschließen und gleichzeitig muss sie denen, die am skeptischsten sind, einen Weg zeigen, wie ein modernes und erfolgreiche Deutschland gerade durch die Veränderungen in der Arbeitswelt, auch ein sicheres Deutschland sein kann, was die Arbeitsplätze angeht. Diese Themen haben im SPD-Wahlkampf aber überhaupt keine Rolle gespielt. Und der Unterschied zum Angebot der Union war nicht groß genug.

Was kann die SPD jetzt aus der Schlappe lernen? Welche Fehler muss die Partei künftig vermeiden?

Stauss: Die SPD muss wieder zu sich selbst finden, sie muss an ihrer Programmatik arbeiten, klarer werden, deutlicher werden, die Unterschiede benennen. Es wird eine harte Aufgabe sein in der Opposition gegen die AfD zu reüssieren. Die AfD ist, wie man jetzt ja schon miterlebt, ein chaotischer Haufen, der jedoch mit den Mechanismen der modernen Medienlandschaft umzugehen weiß. Die SPD hat aber die Chance, als eine glaubwürdige und beständige Kraft zu reüssieren.

Und sonst?

Ein anderer Punkt ist: Die CDU/CSU ist extrem angeschlagen. Wir werden jetzt erleben, dass dort Nachfolgedebatten und Richtungskämpfe entstehen. Die beginnen ja jetzt schon. Gleichzeitig wird die Partei in eine Koalition mit den Grünen getrieben, wobei es dann natürlich schwer fällt, sich weiter rechts zu platzieren. Das sind alles Chancen für die SPD.

Die SPD will jetzt in die Opposition. Die richtige Entscheidung?

Stauss: Es bleibt ihr ja nichts anderes übrig, wenn von ihr noch etwas übrig bleiben soll. Die große Koalition hat eine riesige Watsche bekommen. Die SPD hat in dieser Koalition wichtige Teile ihrer Programmatik umsetzen können und geht trotzdem mit dem schlechtesten Ergebnis nach Hause. Da muss man den Wählerwillen auch mal respektieren. Und der ist eindeutig: Wir wollen nicht, dass ihr regiert.

Droht der Partei womöglich das Ende?

Die SPD steht vor der Existenzfrage. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Deswegen ist der Gang in die Opposition der richtige Schritt. Sie muss sich nun darauf konzentrieren, sich selbst zu erneuern, sich zu finden und die Positionen klar herauszuarbeiten. Das geht nicht, wenn sie gleichzeitig noch fünf Ministerien besetzen muss. Die SPD leistet der Demokratie einen Beitrag, wenn sie diesen harten Weg in die Opposition geht. Das ist ja ein Rückzug aus Ämtern, von Posten und Einfluss, der mir einen hohen Respekt abnötigt.

Ist das mit Martin Schulz als Parteichef und Andrea Nahles möglich?

Stauss: Martin Schulz ist nicht verbrannt, die Menschen finden ihn nach wie vor sympathisch und glaubwürdig. Er will sich nun auf den Wiederaufbau der Partei konzentrieren. Bei Frau Nahles muss man sehen, dass ein Teil dieser wichtigen Programmatik, also die Zukunft der Arbeitswelt, in ihrem Haus hervorragend vorbereitet worden ist. Sie hat da ein umfassendes Wissen. Damit ist aber noch keine Entscheidung darüber gefällt, wer in vier Jahren die SPD in den Wahlkampf führt, aber auf diese beiden Personen ist Verlass.

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